Mit leeren Pfoten lasse ich die Tausendfarbengrotte hinter mir und trotte frohen Mutes den Berghang herunter, beschwingt von der guten Tat, die ich geleistet habe. Die Vöglein zwitschern, die Bienlein summen, die Hühner krächzen gequält … Moment, da stimmt was nicht!
Ich spitze die Ohren. Tatsächlich, es erklingt ein recht seltsames Geräusch, das an einen Hahn mit Mandelentzündung erinnert, vermischt mit dem panischen Gegacker von Hühnern.
Ich folge den Geräuschen. Mehr unfreiwillig, weil es sehr nach leckerem Hühnchen klingt, sogar ein bisschen gebraten, wenn man richtig hinhört. Als mir der Geruch nach Menschen in die Nase steigt, sind alle Fantasien von Futter allerdings sofort verschwunden. Ich finde mich vor einem kleinen Gehöft wieder. Es muss dieses Bauernhof-Dings sein. Es gibt viele Tiere und eher wenige Menschen und Häuser. Neugierig wage ich mich etwas weiter vor. Da erklingt der gequälte Hahnenschrei erneut. Mir stellt sich das Nackenfell auf. Das ist doch – ich habe eine Schlange zischen gehört! Mit den Biestern legt man sich besser nicht an!
Ich mache ein paar Schritte nach hinten, als ich plötzlich etwas anderes höre: Gebell!
Tja, das ist jetzt etwas, das mich tatsächlich von vielen anderen Wölfen unterscheidet: Meistens verachten wir Hunde oder fürchten sie als Vorboten von menschlichen Jägern. Aber ich bin ein Kanonikos, der lange Zeit unter Sternwölfen gelebt hat. Ich weiß, wie es sich anfühlt, von anderen Wesen als minderwertig betrachtet zu werden. Und Jupiter, mein wundervoller Freund und Alpha, hat mir vorgelebt, dass manchmal auch die kleinsten Wesen große Taten vollbringen können.
Kurz gesagt, ich höre einen Hund, der vor Schmerzen und Angst winselt, und betrete den Bauernhof.
Ich habe ja auch niemals behauptet, besonders schlau zu sein.
Kaum bin ich auf dem Innenhof angekommen, als mich der Hund bemerkt und sein Bellen eine neue, aggressivere Lautstärke erreicht. Verflixt noch eins, es ist ein Wachhund. Jetzt kommt auch der zugehörige Mensch aus einem Gebäude gerannt und wackelt mit so einem komischen Stock mit drei Spitzen in der Luft herum. Ich will wieder zurück zum Wald huschen, aber da steht mir plötzlich ein anderer Mensch im Weg.
„Den kriegen wir!“, brüllt er triumphierend. „Der blinde Köter ist ja doch noch zu was nütze!“
„Ich hab dir gesagt, dass wir ihn operiert haben. Klappe jetzt, Hotdog!“, knurrt der in meinem Rücken.
Ich werfe einen Blick auf den besagten Köter. Na, schönen Dank auch! Und wie soll ich jetzt hier raus? An den Menschen vorbei? Hm, besser nicht. Zum Hund? Warum sieht der verräterische Hund eigentlich immer noch so panisch aus? Er zerrt an einer Kette, die ihn an seine Hütte bindet, als ob er ganz dringend in die andere Richtung will. Warum nur?
Der zweite Mensch kommt näher. Auch er hält einen Stock in der Hand. Ich weiche zurück und wedelte versuchsweise mit dem Schwanz. Nö, bringt nichts. Man muss wohl schon ein Hund sein, damit das funktioniert. Ich knurre. Ob ich sie einschüchtern kann?
„Was, in Gottes Namen … ?!“
Die Menschen klingen panisch. Sie erstarren förmlich … Nein, sie erstarren buchstäblich. Zu Stein. Mit einem Mal sind es keine Menschen mehr, sondern klobige Steinstatuen. Sie sehen auch nicht länger mich an, sondern etwas, das sich hinter mir befindet. Das, wovor der Hund so gerne wegmöchte … wo der Hühnerstall liegt … aus dem der gruselige Schrei kam.
Das panische Gackern ist jedenfalls verklungen. Ich fixiere den Blick störrisch auf die versteinerten Füße des Menschen vor mir. Der Hund winselt jetzt kleinlaut.
Ich lege die Ohren an. „Hund? Ähm, Hotdog? Kannst du was sehen?“
„Nein“, erklingt nach einer Weile die leise Antwort. „Aber da war was vor dem Stall!“
Fast hätte ich mit den Augen gerollt. „Vor welchem Stall?“
„Vor dem Hühnerstall. Es war klein und flink. Ich habe es kaum gesehen, jetzt ist es irgendwo im Schatten.“
„Sieh auf jeden Fall nicht hin!“, warne ich ihn. „Offenbar reicht ein Blick, und du bist versteinert.“
Hotdog stößt ein jämmerliches Jaulen aus. Ich wirbele entsetzt herum, reiße die Augen auf ...
Der Hund sitzt da und heult den Himmel an. Er ist nicht verletzt und auch keine Gefahr zu sehen.
„Was … tust du da?“, frage ich. Das Gejaule klingt fast – fast – wie ein Trauergeheul.
„Mein Herrchen!“, jammert der Hund. „Er ist tot, nicht wahr?“
Oh, ihr Sterne! Das hier ist wohl einer von den verweichlichten Hunden, deren ganzes Leben an so einem Menschen hängt.
„Er ist … Hör mal, Hotdog, wir müssen jetzt von diesem Hof runter. Rausfinden, wohin dieses Ding gezogen ist, und dann ganz schnell in die andere Richtung. Denkst du, wir bekommen das hin?“
Hotdog winselt zur Antwort jämmerlich. Ich versuche, nicht ungeduldig zu werden, was mir echt schwerfällt. Da ist ja jeder Wolfswelpe selbstständiger! Ich schließe die Augen und drehe mich langsam im Kreis. Ich schnuppere … Die meisten Gerüche auf dem Hof verfliegen langsam. Der Menschengeruch wird immer schwächer und vom Geruch nach trockenem Stein überdeckt. Der leckere Duft aus dem Hühnerstall riecht auch mit jedem Herzschlag etwas älter, was nur bedeuten kann, dass auch sämtliche Hühner verkieselt sind. Schade.
Moment – da ist noch ein Geruch, der an Huhn erinnert. Allerdings vermischt mit dem schuppigen, sich windenden Gestank einer Schlange. Das … das kann unmöglich sein!
Dann plötzlich fällt mir wie Schuppen von den Augen, was ich eigentlich nicht wahrhaben will: Ein Schlangenei, von einem Huhn ausgebrütet, das ergibt …
„Ein Basilisk!“, schreie ich entsetzt auf. Donner und Sternensturz, das hat mir gerade noch gefehlt! Ein missratenes Hühnchen, das mit einem Blick versteinern kann.
Ich höre ein Zischen. Ziemlich nah an meinem linken Ohr. Allerdings bin ich nicht so doof, noch mal die Augen aufzureißen und die Quelle des Geräusches anzusehen.
Hotdog fiept panisch. Dadurch kann ich nur schwer einschätzen, wo mein Gegner ist, trotzdem weiche ich blindlings zurück. Ich kann sein kochendes Gift riechen und seinen wirklich stinkigen Atem …
Dann ertönt ein hilfloses Piepsen von genau der Stelle, wo es eben gerade noch gezischelt hat. Ich bleibe stehen, als Angst, Hunger und meine Hilfsbereitschaft einen erbitterten Kampf ausführen. Wieder ein Zischeln, dann ein Piepsen. Ich mache stöhnend die Augen etwas fester zu, als ich begreife: Der Basilisk ist eben erst geschlüpft. Es ist ein Jungtier. Ich glaube, die korrekte Bezeichnung wäre „Würmchen“.
Ein tödlich gefährliches Würmchen, das im Moment aber einfach nur sein Muttertier sucht. Was soll ich denn jetzt tun?
„Genau, friss den Wolf!“, ertönt Hotdogs Bellen. „Lass mich in Frieden, ja?“
Ich horche auf. „Du kannst den Basilisken sehen?“
Hotdog antwortet erst, als ich die Frage ein zweites Mal stelle.
„Ja …“
Das Würmchen zischelt. Es klingt näher. Ojemine!
„Sag mal, warum bist du nicht versteinert?“, frage ich Hotdog. „Mach die Augen zu! Konzentriert er sich allein auf mich?“
„Versteinert?“
Fast hätte ich die Augen aufgerissen. Kann man wirklich so langsam im Kopf sein?
„Höhö“, kichert der Hund plötzlich. „Du hast lustige Augen, kleines … Ding.“
Verstehe ich das richtig? Ich blinzele vorsichtig, jedes Haar ist aufgestellt. Vor mir steht das Würmchen, eine Art grünes, schuppiges Minihuhn mit schmalem, länglichem Kopf und ganz wenigen, kleinen Federn. Ich halte die Augen zu einem schmalen Spalt geöffnet, bereit, sie jederzeit zu schließen. Zum Glück sieht es nicht mich, sondern Hotdog an. Und der Hund? Wedelt freundlich mit dem Schwanz, starrt den Basilisken unverwandt an und scheint seine vorherige Panik schon längst vergessen zu haben. Häh?
Das Würmchen gurrt und läuft auf den Hund zu, um sich an einem Vorderbein zu reiben. Hotdog hechelt glücklich. „Was für ein niedliches Tier!“
Ich starre ihn an, die Gefahr vergessend. Wieso lebt er noch?
Ein seltsamer Glanz liegt in seinen Augen. Wie … wie die Oberfläche eines Sees, wenn die Sonne im richtigen Moment darauf scheint.
Überhaupt sieht Hotdog ziemlich alt aus: stumpfes Fell, die Hinterläufe glitzern metallisch, sein Körper ist von Narben überzogen. Mich schaudert es. Die Menschen müssen irgendwas gruseliges mit ihm gemacht haben. Er sieht aus wie jemand, der sich weit von der Ewigen Jagd entfernt hat. Nicht nur, dass er sein Futter nicht jagen braucht, er sieht fast aus, als wäre er unsterblich. Und das bedeutet – ich schüttele mich – dass er doch eigentlich kein Tier mehr ist, sondern ein von Menschen geschaffenes Etwas. Ein Etwas ohne Erinnerung, wie mir scheint, denn gerade erschrickt er vor dem Basilisken, der immer noch neben ihm hockt. Das Wesen lässt sich davon aber nicht beeindrucken. Es hat einen Freund gefunden.
Ich drehe mich um und flüchte an den Statuen vorbei vom Menschenhof. Das war jetzt mal eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen möchte! Menschen sind zu unheimlichen Sachen fähig.