„Folge mir”, sagt Yeti und stampft los. Als ich nicht direkt hinterher tapse, bleibt er stehen und dreht den Oberkörper zu mir. „Bleib dicht in meiner Nähe. Die Wachen sind nervös, weil ein paar tausend Idioten angekündigt haben, uns hier stürmen zu wollen, und wenn sie nervös sind, erschießen sie manchmal Fremdlinge.“
„‘murica“, murmele ich und schließe mit gesenktem Kopf zu Yeti auf. Ein Schauer durchläuft mein Fell. Wieso lande immer ich in solchen Situationen?
Wir kommen an unzähligen Türen vorbei, während wir dem Gang folgen. Leider kann ich nicht sehen, was dahinter liegt, weil die Guckfenster – wenn sie denn existieren – zu hoch liegen. Dafür kann ich die Schilder lesen, die über jeder Tür hängen. ‚Examination‘, ‚Laser-Testkammer‘, ‚Artefaktelager‘, ‚UFO-Tankanalyse‘ … Eine richtige Fundgrube für Lyssa, die sich mit jedem gruseligen Meisterwerk selbst übertrifft. Ich rieche Desinfektionsmittel (bäh!) und diverse Maschinenöle (noch mehr bäh!), sowie ein paar unterschwellige, organische Gerüche (manche lecker, manche eher unheimlich). Plötzlich öffnet sich eine Tür vor uns am Gang. Heraus tritt ein etwa menschenhohes, purpurnes Wesen mit einem kleinen, kugelrunden Bauch, einem ovalen Kopf und drei Antennen mit Augen dran. Die Arme und Beine sind knochendünn mit knubbeligen Gelenken, Füße und Hände haben jeweils drei Zehen beziehungsweise Finger. Das Wesen sieht uns, salutiert lässig und watschelt davon. Ich starre ihm hinterher, dann auf die Tür, aus der es herausgekommen ist. Ehe sie zufällt, erhalte ich einen kurzen Blick auf mysteriöse, gräuliche Objekte mit unzähligen hellen Lichtern daran. Dann entdecke ich das Schild darüber: ‚Hausmeister‘.
Ein wenig weiter kommen wir an eine Kreuzung zweier Gänge. Jeder Gang ist mit einer dicken Glastür verschlossen, sodass die Kreuzung selbst ein viereckiger Raum mit nur Türen als Wänden ist. Yeti hält seine Pranke vor die erste Tür. Beide Flügel schwingen wie von Geisterhand nach innen auf. Wir treten aus dem Gang. Die Tür piepst, als ich hindurch komme.
„Unbefugter gesichtet.“
Ich sehe mich um und suche nach dem Ursprung der metallischen Stimme.
„Freund“, grunzt Yeti. Über der Tür blinken ein paar Lichter, dann werden sie grün. Offenbar wurden wir akzeptiert.
Ich sehe vier weitere Schilder über der Tür. Wir kommen aus dem Gang ‚Langweilige Geheimnisse‘.
Es gibt auch: ‚Hochsicherheitstrakt‘, ‚Spannende Geheimnisse‘, ‚Total spannende Geheimnisse‘, ‚Epische UFO-Flughalle‘, ‚Richtig spannende Geheimnisse‘ und ‚Kantine‘.
„Flughalle – da müssen wir hin, richtig?“ Ich sehe meinen flauschigen Freund an.
„Nein, für den Bereich habe ich keine Berechtigung“, antwortet Yeti und öffnet die Tür ‚Kantine‘. „Wir müssen etwas Anderes versuchen.“
Ich spitze misstrauisch die Ohren. „Versuchen? Du hast aber schon einen Plan, oder?“
Yeti stampft schweigend voraus. Seine Warnung noch im Ohr klebe ich mich an seine Fersen. Wir folgen einem kurzen Gang, an dessen Ende sich zwei Stahltüren automatisch öffnen. Ich reiße die Augen auf. Massenansammlungen! Mein schlimmster Alptraum! (Gleich nach dem, wo ein pinkes Kaninchen auf einem Tentakelsofa hinter mir herfliegt und jeden meiner Sätze als etwas Unanständiges interpretiert.)
Die Halle ist so groß, dass ich weder das Ende noch die Seiten sehen kann. Dicht an dicht drängen sich lange Tische aneinander, umgeben von jedes Mal zwanzig Stühlen. Es sind zwar längst nicht alle Plätze besetzt – eher so ein Fünftel – aber das Stimmengemurmel ist lauter als ein Fußballstation bei einem Unentschieden, wo der Ball in den letzten zwei Minuten plötzlich auf das Tor zufliegt. Ich glaube, ich höre sogar drei Vuvuzelas. … Vuvuzelae? Vuvuzeli?
Menschen in blauen Overalls, Menschen in Anzügen, Menschen in Astronautenanzügen und eine Vielzahl bunter Aliens sitzen an den Tischen. Sie haben Teller vor sich und jeder eines von drei Menüs: Komisch riechende Suppe, dreifarbige Pampe in Plastikschälchen oder Salat ohne alles. Ein rotes, affenartiges Wesen winkt Yeti.
„Hallo Yeti! Hast du nicht Urlaub?“
„Oh, hey, Yeti. Ja, aber ich musste hier was erledigen. Einem Freund aushelfen.“ Er deutet auf mich.
„Warte, ihr seid beide Yeti?“, frage ich verwirrt.
„Wir glauben nicht so an Vornamen“, entschuldigt sich Yeti. „Vor allem wissen die Menschen so nie, wie der Yeti aussieht. Hehehe.“ Er lacht grollend.
Yeti winkt in die Menge. Ein paar bunte Tentakel heben sich über die Köpfe der Speisenden und wackeln zurück. Ich überlege noch, ob es gruseliger ist, wenn einen ein einäugiges Wesen mit seinem einen Glubschauge oder ein Augenwurm mit gefühlt tausend Augen anstarrt. Beides gleich furchtbar, entscheide ich schließlich und dränge mich so nah an Yeti, dass er schließlich stehen bleiben muss. „Wenn du so weitermachst, trete ich dir gleich auf die Pfoten, Wolf.“
„Tschuldigung.“ Ich sehe nicht auf. „Sind wir bald da?“
„Da vorne ist die Kantine.“ War das Yetis Antwort? Sonderlich informativ war das ja nicht.
Ich folge ihm trotzdem bis zu einer Art Museum für Essen. Ich liebe es sofort und presse meine Nase an den Scheiben platt, hinter denen die verschiedensten Speisen vor sich hin dampfen oder blubbern. Ein paar kriechen sogar! Und die Gerüche erst!
„Hallo Martha. Du, ich muss mal mit dir reden.“ Yeti spricht eine pummelige Frau hinter dem Tresen an. Ich sehe zu ihr herüber. Sie hat zwei Köpfe, einer auf dem anderen. Beide sehen irritiert zu mir. „Geht es um deinen Hund?“
Hund?!
„Das ist ein guter Freund“, sagt Yeti. „Wir müssen ihm helfen, auf den Mond zu kommen.“
Der Ausdruck beider Gesichter verdüstert sich. „Dann frag deine Kumpels beim Raketenbau!“ Sie will sich abwenden.
„Martha – bitte!“, fleht Yeti erstaunlich melodramatisch. „Ich weiß, dass du wütend auf mich bist. Aber du bist die einzige, die mir helfen kann.“ Er lehnt sich vor uns flüstert: „Mein Kumpel hier verliert sonst seine Seele.“
Martha guckt noch finsterer. Ich ziehe vorsorglich den Schwanz ein.
„Also schleppst du mir hier ein Fluchopfer ein? In die Bastion der Wissenschaft? Yeti …“
„Nur noch dieses eine Mal.“
Martha seufzt. „Na gut. Kommt mit.“
Sie geht hinter dem Essenmuseum entlang, wir begleiten sie auf der anderen Seite der Trennscheibe aus Köstlichkeiten. Schließlich öffnet sie uns eine Tür, die in ihren Bereich führt, und geht weiter geradeaus. Ich biege um die Ecke und renne zurück zu den Tellern voller Lebensmittel. Fressattacke!
„Hey!“, ruft Martha.
„Murmelwolf!“, grollt Yeti. Zwei schwere Schritte donnern, dann packt mich eine Klaue im Nackenfell, nur wenige Zentimeter vor dem Teller mit Happen entfernt. Ich zappele, während Yeti mich hochhebt.
„Nein!“, grollt der zottige Riese. „Böser Wolf!“
Wie einen Welpen trägt er mich hinter Martha her und durch eine Tür. Dahinter riecht es ebenfalls nach Lebensmitteln. Yeti setzt an, mich loszulassen, doch als er meinen neugierigen Blick bemerkt, behält er mich kurzerhand in der Pranke.
Martha atmet tief durch. Da sie zwei Münder hat, entsteht ein interessanter Doppelsound dabei. „Wenn ich dich wegen einer Bezahlung anspreche, kommt nur die gleiche Leier wie jedes Mal, oder?“
Yeti legt den Kopf mit einem entschuldigenden Lächeln schief. „Um der alten Zeiten willen.“
Martha schüttelt die Köpfe. „Die Zeiten rechtfertigen das in keinster Weise.“ Mit einem Ruck zieht sie einen silbernen Wagen aus seinem Platz in einem Metallregal und öffnet die große Klappe des Deckels. Yeti setzt sich in Bewegung.
„Auf keinen Fall steckt ihr mich in diesen übergroßen Mülleimer!“, protestiere ich.
„Ich dachte, du musst so dringend zum Mond!“, gibt Martha zurück. „Nun, der Wäschekorb für Tischdecken ist dein Taxi zu den Sternen.“
Yeti setzt mich in den Metallwagen. Martha greift sich einen Stapel Decken und kippt sie über mich. Ich spüre, wie sie von oben drückt, damit alles reinpasst. Die Decken drücken mich auf den Boden.
Etwas pocht an die Metallwand. „Komm erst raus, wenn du wieder was hörst. Dann musst du dich aber beeilen. Und auf dem Mond hast du etwa eine Stunde, bevor der Wagen zurückgeschickt wird“, erklärt Yeti mir. „Sei auf jeden Fall pünktlich, denn der nächste Korb kommt erst in einer Woche.“
Es rattert, als der Wagen sich in Bewegung setzt.
„Und viel Glück!“, grollt mein pelziger Freund mir hinterher.