Mit einem Schrei, der uns allen das Blut in den Adern gefrieren lässt, erhebt sich eine schlanke, dunkle Gestalt aus der Kiste.
„Uuuuaaaaaaarrrghhhscheißeverrrdammteaaaaaaahhhhh!“
„Was zur Hölle?“ Mortimer lässt den Deckel los, der der Gestalt in die Kniekehlen springt. Der Kutscher und die fünf anderen ergreifen panisch die Flucht.
Ich ebenfalls, aber dummerweise hänge ich noch in dem provisorischen Geschirr fest und komme nicht von der Stelle, obwohl meine Pfoten viel Staub aufwirbeln. Dann spüre ich einen eisigen Hauch im Nacken und erstarre. Irgendwas saust über mich hinweg und in den Schatten unter einem Felsüberhang.
Ich stelle die fruchtlosen Fluchtversuche (hihi – sagt das mal dreimal schnell hintereinander!) ein und nutze Taktik Nummer 2: Ganz still stehen bleiben, vielleicht hält es dich für einen Stein.
Während ich so dastehe, fällt mir wieder ein, dass der Stein eigentlich Taktik Nummer 1 sein sollte, denn wenn man einmal losgerannt ist, passiert es nur äußerst selten, dass irgendein Beobachter sich danach noch davon überzeugen lässt, dass du ein Stein bist.
Vielleicht ist das Monster aus der Kiste ja nicht besonders aufmerksam …
„Nun … was wirrrd hier gespielt?“, fragt jemand. Der Stimme nach ein Mann, noch dazu vornehm. Er hat einen ausgeprägten Akzent.
Dann kommt mein Gesprächspartner auch in mein Sichtfeld. Aus dem Schatten unter dem Felsen tritt ein schlanker, schwarz gekleideter Mann mit bleicher Haut und unheimlichen, rot glühenden Augen, der sich ein wenig staub von der Hose klopft.
Ich schnuppere. Das ist kein Staub, sondern Asche!
„Ich … ähh.“ Ich sehe mich suchend um. „Ich bin ein Stein!“
„Aber sicherlich“, antwortet der Mann gedehnt. „Bist du zufällig dieserrr Stein, den mein Diener mit dem Transport meines Sarrrges beauftragt hat?“
Ich schiele zurück zu der länglichen Kiste, vor die ich gespannt bin. Ein Sarg? Oh, ja … jetzt, wo er es gesagt hat, frage ich mich, wie ich das vorher übersehen konnte.
„Ich bin ein Stein?“ Vielleicht glaubt er mir, wenn ich es lange genug wiederhole.
„Doch, ich erinnere mich. Ein Grrrauwolf mit vier Narben auf dem Rücken.“ Der blasse Mann im Schatten mustert mich streng.
„Stein.“
„Igor meinte schon, dass du nicht unbedingt der Hellste wärrrst, aber ich dachte, an sechs einfache Rrregeln könnte sich jeder Idiot halten.“ Der Mann zählt an einer langfingrigen Hand ab: „Kein Silber, das verbrrrennt mich, kein Kontakt mit Knoblauch, davon krrriege ich Ausschlag. Keine Flüsse durchqueren, denn ich werde leicht seekrank. Keine Kirchen betrrreten, das ist fast so unangenehm wie der Sonnenschein. Und nachts solltet ihr den Sarg allein lassen, damit ich in Ruhe jagen gehen konnte.“
Ich mache einen Schritt nach hinten. „Nur ein Stein …“
„Und was tust du? Keine einzige dieser Rrregeln konntest du einhalten!“ Wütend funkelt mich der Mann an. Ich weiche weiter zurück. „Es ist ein Wunder, dass ich diese dumme Rrreise bis hierhin überlebt habe, und dann versucht ihrrr auch noch, mich durch Sonnenlicht zu töten! Das reicht! Es ist ja wohl nicht zu viel verlangt, dass man in Rrruhe nach Hause reisen darf!“
Der Mann macht einen Schritt auf mich zu. Ich kauere mich zusammen. „Stein!“
„Keine Angst, Wolf“, sagt in diesem Moment eine Stimme in meinem Rücken. „Er kann dir nichts tun, solange du im Sonnenlicht bist.“
Ich drehe mich um. Da steht ein Mann mit schwerem Mantel und mit Hut.
„Mortimer!“, rufe ich erfreut.
„Van Helsing!“, zischt der Mann im Schatten hasserfüllt. Er funkelt mich noch wütender an. „Du hast auch noch meinen Errrzfeind auf meine Spur gesetzt?!“
„Daran ist der Wolf nicht schuld. Der ist einfach nur naiv“, sagt Mortimer.
Ich blinzele verwirrt zwischen den Männern hin und her.
„Ich sehe es“, seufzt die Gestalt im Schatten. „Der würrrde einen guten Bettvorleger abgeben.“
Mortimer zückt eine Armbrust. „Das wirst du schön lassen.“ Er kommt zu mir und durchtrennt das Geschirr. „Geh, Wolf. Das ist nicht dein Kampf.“
„Aber … Igor sagte, wenn ich den Auftrag ausführe, würde sein Herr mir helfen, auf den Mond zu gelangen.“
Die beiden Menschen werfen einander einen Blick zu und machen dann gleichzeitig einen Facepalm.
„Was denn?“, frage ich.
„Ich bin Igorrrs Herr“, knurrt der Mann im Schatten. „Ich! Und ich werde den Teufel tun und dir nach dieser Katastrrrophe bei irgendwas helfen!“
„Aber …“, stammele ich hilflos.
„Geh!“, faucht mich der Mann im Schatten an.
„Geh besser“, sagt auch Mortimer. „Bevor die Nacht hereinbricht, solltest du weit weg sein, nur für den Fall, dass ich es nicht schaffe, ihn zu töten.“
„Wirst du nicht! Vorher zerrrfleische ich dich!“, kontert der bleiche Mann.
„Ihr wollt euch gegenseitig töten?!“, rufe ich aus. „Aber das ist böse!“
Mortimer lässt mit einem Seufzen die Armbrust sinken und fragt seinen Erzfeind: „Wäre es Darwinismus, ihn einfach zu dir in den Schatten zu treten?“
„Hey!“ Ich hüpfe zur Seite.
Der Mann im Schatten grinst breit und offenbar spitze Eckzähne. „Er würrrde vermutlich von selbst kommen. Lass es mich mal versuchen. Hierrr, Hündchen, Hündchen!“
Er wedelt mit einem Knochen. Ich mache drei Schritte auf ihn zu, ehe mein Stolz sich einschaltet. „Ich bin doch kein Hund!“
Die Männer hören mir nicht zu. Sie kugeln sich vor Lachen am Boden.
„Ich hab auch noch einen. Hier, fang!“ Mortimer tut, als würde er etwas in den Schatten werfen und stolpert dabei unter den Felsüberhang. Mit Lachtränen in den Augen muss er sich auf meinen Auftraggeber stützen.
„He, Wolfchen, wollen wir Gassi gehen?“, kräht der bleiche Mann.
Ich lege die Ohren an. Das ist doch wirklich unerhört! Beleidigt drehe ich mich um und trotte davon.
„Du hast dein Halsband vergessen!“, schreit einer der beiden mir nach.
Ich höre, wie der andere fragt: „Wollten wir uns nicht bis auf’s Blut bekämpfen?“
„Ja, lass mich nur kurz zu Ende lachen.“
Ich ziehe bergabwärts. Das Gelächter hinter mir verebbt lange Zeit nicht.
Das letzte, was ich höre, ist:
„Ahh, meine Rippen tun so weh.“
„Wollen wir vielleicht einen Tee trinken?“
„Ja - hicks! – bitte.“