„Marvin!“
Ich habe die großen, weißen Flügeltüren kaum durchschritten, als ich auch schon erkannt werde. Ich komme kaum dazu, einen Blick in den Raum zu werfen – die Beschreibung hebe ich mir für etwas später auf – denn von allen Seiten strömen verrückte Gestalten auf mich zu. Das sind die üblichen Verdächtigen, die in der Wikiobiblika anzutreffen sind: Professoren, Autoren, notorische Besserwisser, verzweifelte Schüler, denen Hausaufgaben oder Gruppenarbeiten im Nacken sitzen und nicht zuletzt Fehlerteufel.
Ich bin aus unerfindlichen Gründen eine Art lokaler Berühmtheit. Vermutlich hauptsächlich, weil ich, wie alle hier, Bücher und Computer bedienen muss, um an die heißersehnten Informationen zu kommen. Und … na ja, schon mal einen Wolf an einer Tastatur gesehen? Oder einen Wolf, der eine Seite umblättert?
Ich bin nicht stolz auf das, was mich hier berühmt gemacht hat.
Trotzdem begrüße ich alle freundlich. Wir sind hier fast wie ein großes, chaotisches Rudel. Wieder hier zu sein, fühlt sich wie eine Heimkehr an.
Etwas später finde ich mich auf einem Sofa wieder, vor mir einen heißen Tee – ja, ganz genau, ich habe mir die Zunge verbrannt – und höre den Berichten anderer Abenteuerer und Wissenssammler zu.
*
Lange Zeit und endlose Geschichten später ist es Nacht und die Wikiothek entfaltet ihren schönsten Zauber: Durch das kuppelförmige Dach, das fast wie eine aus unzähligen Splittern bestehende Erdkugel aussieht – und auf jedem Splitter befindet sich ein Buchstabe oder Zeichen aus feinem Obsidianglas eingraviert – fällt das vereinte Licht von Sternen und Mond, bricht sich in den unzähligen bunt gefärbten Scheiben und Spiegeln im Inneren und zaubert so unzählige silberne, blaue und violette Streifen in die weißen Hallen dieses Horts des Wissens. Alles leuchtet und glänzt in geheimnisvollem Nebel.
Eine große, weiße Gestalt formt sich plötzlich inmitten des Nebels und Stille kehrt ein.
Das ist sie: Die Wikiothek höchstselbst, in Gestalt einer Sternenfrau. Dabei ist sie kein Wesen im herkömmlichen Sinne, obwohl sie inzwischen ein eigenes Bewusstsein und einen Namen erhalten hat. Doch meine gute Freundin ist eine Manifestation der geballten Präsenz all der Enzyklopädien und Lexika, die in diesen Hallen analog und digital vorhanden sind. So viel Wissen ist an diesem Ort versammelt, dass es eine eigene Magie entfaltete, aus der schließlich Leben entstand, vor vielen Jahren, als ein schreckliches Unglück über diesen Ort kam. Damals wurden unzählige Bücher in einem großen Brand vernichtet, doch das setzte ihre Seelen frei, die sich zu der mächtigen Wikiobiblika zusammenschlossen. Seitdem hortet sie all die verlorenen Texte, bewahrt sie auf und sammelt neue.
Sie ist die Göttin des Wissens.
„Marvin!“, ruft sie aus, kaum, dass sie mich entdeckt. „Was treibt dich hierher?“
„Der unbezähmbare Wissensdurst“, erwidere ich galant. „Und ein ernsthaftes Problem.“
Meine zahlreichen Freunde beugen sich vor und ich berichte ihnen ausführlich von Clive Hanger und dem ganzen anschließenden Chaos.
Die Wikiothek nickt bedächtig und legt grübelnd die Finger an ihr Kinn. „Das Mondkalb also?“
Im nächsten Moment zerstiebt ihre Form in hunderte winziger, weißer Bienen, die sich geschäftig surrend in der ganzen Halle verbreiten und sich zielstrebig auf verschiedenste Bücher stürzen, hauptsächlich auf Bände über Astrologie, Raumfahrt und Mythen.
Wenig später setzt sich die Wikiothek wieder zusammen, diesmal in Gestalt einer leuchtend weißen Wölfin mit krummen, schwarzen Flecken im Fell, die genau wie die Zeichnung auf den Fenstern der Kuppel an Schriftzeichen erinnern.
Sie schüttelt traurig den Kopf. „Ich konnte nicht viel finden.“
Damit reicht sie mir einen Handzettel, auf dem mir erklärt wird, dass der Begriff „Mondkalb“ für dumme Menschen oder behinderte Kälber verwendet wurde (zuerst letzteres und dann ersteres). Außerdem gab’s ein paar Filme und Serien mit dem Titel.
„Es muss doch Informationen über das Mondkalb geben!“, fluche ich leise.
Die Wikiothek zuckt mit den Schultern. „Möglich. Ich bin zwar ein Wissensspeicher, aber nicht der Wissensspeicher. Vielleicht gibt es jemanden, der mehr darüber weiß. Dazu muss ich aber die abgelehnten Artikel und Fußnoten durchforsten, das kann eine Weile dauern.“
„Ich kann ja auch suchen.“ Nervös trete ich von einer Pfote auf die andere. Ich will meiner Freundin ungern zur Last fallen.
Sie lacht glockenhell auf. „Das würde Jahrhunderte dauern, Marv! Aber du kannst selbst suchen, ob du vielleicht in den inoffiziellen Quellen was findest.“
Inoffizielle Quellen – Das sind Bücher, die von fiktiven Personen eingereicht wurden. Zum Beispiel die Zamonien-Romane von Hildegunst von Mythenmetz. Oder „Fantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ von Newt Scamander! Ich springe auf. Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin!
Die Wikiothek lacht gutmütig, als sie sieht, dass ich sofort losflitzen will. Sie entlässt mich mit einem Ohrenzucken und ich sause los, während die Göttin des Wissens sich um einige andere Neuankömmlinge kümmert.
Mein Weg führt mich auch durch den Gang mit ausgestorbenen Sprachen, wo sich eine weiße, menschliche Gestalt überrascht umdreht, als plötzlich ein Wolf vorbeigesaust kommt.
„He, Marvin!“
Ups, das ist jemand, den ich kenne. Ich bremse meine Pfoten ein wenig aus und werfe einen Blick in das Gesicht der Person.
Es ist eine Frau, die lebendig aussieht, es allerdings nicht ist. Sie ist auch nicht weiß, sondern trägt nur ein weißes Kleid.
„Hallo Ceridwen!“, grüße ich im Vorbeilaufen.
„Marvin, warte mal – ich muss mit dir reden.“
Ich laufe weiter. „Entschuldige, ich hab es gerade etwas eilig. Später, okay?“
Ob Ceridwen noch antwortet, höre ich schon nicht mehr, denn ich habe eine enge Wendeltreppe erreicht, die mich hinunter zu den inoffiziellen Quellen in den Katakomben unter der großen Wissenshalle bringt.
Oh, die Katakomben! Wenn man den herrlichen Duft von Pergament und Staub nur irgendwie aus den Worten dieses Textes direkt in das Zimmer des werten Lesers transportieren könnte! Du musst dir vorstellen, man käme nach einem sehr langen Tag nach Hause und die Höhle riecht nach dem vertrauten Duft deines Rudels, nach Wärme und ein wenig muffig. Es ist vielleicht noch die gleiche Höhle, in der du damals zum ersten Mal die Augen geöffnet hast, so oder so ist dir jeder Flecken dunkler Erde an den Wänden bekannt, jedes Steinchen, das aus der festen Erde ragt, jede Wurzel, die sich durch den Boden windet.
Und nun musst du dir vorstellen, du betrittst einen dir völlig fremden Ort, mit fremden Gerüchen, doch dich überwältigen die gleichen Gefühle, als würdest du in deine Wohnhöhle zurückkommen. Der Geruch flößt dir Mut und Vertrauen ein, das Licht ist wie eine liebevolle Schnauze, die dich tröstend anstupst.
Dieses Gefühl habe ich in den Katakomben, wo alles nach alten Büchern, Ruhe und Frieden riecht. Die große Halle ist wie der Platz vor den Gruben, wo das ganze Rudel tollt und spielt, aber hier unten bin ich wirklich zuhause. Es kommt selten jemand hierher, denn die meisten dieser Quellen sind unbestätigt und könnten sich als gedruckte Lüge herausstellen. Man ist hier alleine, erfährt allerhand interessante Dinge und hat seine Ruhe.
Ich überfliege ein paar Buchtitel, ziehe dann alles, was interessant klingt - oder was Lyssa aufgrund des Titels gerne lesen will -, vorsichtig mit den Zähnen aus dem Regal und schleppe es in meine Lesehöhle.
Ja, ich habe hier eine Lesehöhle! Es gibt mehrere Regale mit Türen, um ältere Bücher vor dem Verfall zu bewahren. Einige dieser Schränke sind auch am Boden. In Wolfsschnauzenhöhe, sozusagen. Und hinter einer solchen Tür findet man gar keine Bücher, sondern einen Durchgang, durch den ein kleiner Wolf hindurchkriechen kann. (Ich hatte bestimmt schon irgendwo erwähnt, dass ich eher klein geraten bin.) Dahinter befindet sich dann auch keine Mauer, sondern ein nicht genutzter Kaminschacht, den ich mit einigen alten Decken und Kissen, die nicht vermisst werden, ausgekleidet habe. Der Kaminschacht ist hoch und schmal, irgendwo weiter oben gibt es eine Öffnung zum Hauptraum, durch die Licht hereinfällt, und man kann gedämpft die Stimmen der anderen hören, wie das Murmeln eines Wildbaches. Wenn ich die Tür zuziehe, kann mich niemand finden. Es ist das perfekte Versteck, und wie ich feststelle, sind noch ein paar Schalen meines gehorteten Trockenfutters da, das ich nebenher knabbern kann.
Ich bin somit im Himmel und verbringe eine beträchtliche Zeit in meinem Geheimversteck, verlasse es nur ab und zu, um gelesene Bücher zurück ins Regal zu stellen und durch neue zu ersetzen, die ich noch verschlingen will.
Endlich stoße ich auf einen hilfreichen Hinweis, wie ich zum Mond gelangen kann. Ich muss nur einen Maikäfer finden, dessen Familie seit Generationen nur fünf Beinchen hat, weil das sechste zusammen mit einem bösartigen Holzfäller auf den Mond verbannt wurde.
Und meine Alternative ist, ein Raumschiff der NASA zu kapern.
Überglücklich verlasse ich meine Höhle, räume die Bücher ordentlich weg und lese dabei auch nur eine einzige, kleine Fantasyreihe durch, die mir bei der Recherche über den Weg gelaufen ist. Und dann noch ein, zwei Recherchen für Lyssa, die Inspiration für die nächsten Bücher sucht. Ein wenig verstaubt und spinnwebenverhangen kehre ich in die große Halle zurück.
„Fündig geworden?“, fragt mich die Wikiothek, die in einem rosa Morgenmantel und in menschlicher Gestalt auf einem Sofa sitzt, zwei Tassen dampfenden Tees vor sich.
„Ich denke, schon“, sage ich und setze mich ihr gegenüber auf den Fußboden. Sie schiebt mir ein Teetasse zu. „Sei nur vorsichtig, die inoffiziellen Quellen sind nicht umsonst da unten. Keiner weiß, ob die Informationen in ihnen stimmen oder nicht.“
Ich schlabbere den Tee und antworte dann: „Wir werden sehen. Ich habe ja eine Deadline.“
„Hast du?“ Die Wikiothek klingt plötzlich erschrocken.
„Ich habe ein Jahr Zeit“, erkläre ich. „Oder hatte – inzwischen ist wohl die erste Woche davon rum.“
„Ähm.“ Die Wikiothek weicht meinem Blick aus.
„Was?“
Sie stellt ihren Tee ab. „Du erinnerst dich doch sicher, dass du ein ziemlicher Träumer bist, oder, Marv?“
„Öhm, ja.“
„Und dass du gerne in fremden Welten versinkst, was dich zu einem so guten Weltenwanderer macht.“
„Als ob ich das vergessen könnte! Eines meiner wenigen Talente!“ Ich starre sie an, als mir etwas dämmert. „Ich war nicht nur einen Tag hier, oder?“
„Nein“, gibt die Wikiobiblika zu. „Wenn du mir gesagt hättest, dass du nicht ewig Zeit hast, hätte ich dich früher losgeschickt. So hast du zehn Monate hier verbracht.“
„Zehn … zehn Monate?!“ Ich starre sie entgeistert an. „So lange?“
Das würde erklären, warum ich so hungrig bin und den Tee in Rekordzeit getrunken habe. Oh weh!
Ich rechne nach. „Damit bleiben mir vielleicht noch sechs Wochen oder so! Um bis zum Mond zu kommen!“
„Es tut mir leid“, sagt meine langjährige Freundin. „Wenn ich das gewusst hätte …“
„Es war ja nicht dein Fehler“, sage ich seufzend. „Ich denke, ich werde dann mal gehen. Ich muss ein Mondkalb finden.“
Sie nickt mir zu. „Ich wünsche dir viel Glück.“
„Danke. Ich werde es brauchen.“