Du bist Allyster der Sehende.
In der hereinbrechenden Nacht nähert sich mit leisem Knirschen ein Karren der Taverne, der bereits mehr einer Bahre gleicht. Licht fällt aus der Tür, als diese aufgerissen wird und ein Krieger nach draußen eilt. Die schwingende Tavernentür beleuchtet das Laken auf dem Karren, unter dem sich die Umrisse einer Frau abzeichnen. Die beiden Reiter machen betreten Platz. Der Kämpfer beugt sich über seine Schwester und reißt das Laken zurück.
So weit hattest du die Szene schon oft gesehen, mit der Macht des Selenits. Nun entfaltet sie sich vor dir. Du kennst alle Enden, die dieser Tag nehmen kann, und viele davon sind finster.
„Was ist passiert?“, herrscht Arthrax Elred und Karja an. „Verdammt, ihr hattet doch nur eine Aufgabe!“
Du stoppst die Tür mit der Hand und hebst die Laterne, um Arthrax zu leuchten. „Immer mit der Ruhe. Sie haben es vermutlich noch rechtzeitig geschafft.“
Arthrax wirft dir einen finsteren Blick zu. Gleichzeitig greift er unter sein Hemd.
„Nicht hier!“, zischst du. „Lass sie doch wenigstens reinkommen.“
„Damit sie doch noch sterben kann?“, knurrt der Krieger. Er zerrt den Vesuvian hervor. Dir ist nicht wohl dabei, dass er mitten in der kleinen Siedlung mit einem Schöpferstein herumwedelt, aber du lässt ihn gewähren.
Denn du hast Versionen der Zukunft gesehen, wo nur noch Brennas Leiche hier ankommt oder sie noch vor der Taverne ihrem Fieber erliegt. So gut, wie es dir möglich ist, hast du die kryptischen Visionen entschlüsselt, um das zu verhindern, und Elred und Karja per Amsel die entsprechenden Anweisungen zukommen gelassen.
Arthrax‘ Schwester sieht nicht gut aus. Sie atmet kaum. Ihre Kleidung ist durchtränkt vom Schweiß, Pfützen haben sich auf dem Holz unter ihr gebildet. Der Karren ist ein einfaches, gerades Brett auf zwei Rädern, das Karja von einem Bauernhof gestohlen hat. Der schmutzige Saum der Decke zeugt von der Reise, die hinter den dreien liegt. Ihr wartet bereits eine Woche in der Taverne, insgesamt waren die beiden mit Brenna siebzehn Tage unterwegs.
Eigentlich Wahnsinn – es hätte unterwegs mehr als genug Städte und Heiler gegeben. Doch du hast gesehen, dass die Weisheit der Mediziner an diesem Rätsel scheitert. Welches Gift Brenna eingeatmet hat, wisst ihr nicht. Selbst Elred und Karja, die den Dämpfen viel kürzer ausgesetzt waren, husten noch immer. Sie haben fahle Haut und tiefe Ringe unter den Augen. Eigentlich hätten sie sich schonen müssen, statt quer durch Kalynor zu reisen.
Der Selenit hat dir jedoch gezeigt, dass Schnelligkeit eure einzige Chance ist. Es war nicht leicht, Arthrax danach in der Taverne zu halten, doch die Gefahr war zu groß, dass ihr euch in der Wildnis verpasst. Jetzt ist er mehr als erleichtert, dass er den Vesuvian auf Brennas Stirn legen kann.
Ihre Atmung beruhigt sich und wird sichtlich kräftiger. Je länger Arthrax sie mit dem Stein behandelt, desto mehr Farbe kehrt in ihre Wangen zurück. Schließlich streicht er ihr das verklebte Haar aus der Stirn und tritt zurück.
„Geht es ihr besser?“, flüstert Aji, der hinter dir in der Tür aufgetaucht ist.
„Ich kann nichts mehr tun“, murmelt Arthrax verwirrt.
„Dann braucht sie vermutlich nur noch etwas Schlaf, um sich zu erholen“, beruhigst du ihn. „Kommt, bringt die Pferde rein. Wir haben ein Zimmer im Erdgeschoss für sie gemietet.“
Draußen hat leichter Nieselregen eingesetzt, ein kalter, trister Regen. Im Schankraum dagegen ist es warm. Das Feuer, über dem ein eher mageres Schwein röstet, erwärmt die düstere Stube, in deren Ecken sich tiefe Schatten sammeln. Es hängen weniger Lichtquellen herum als früher. Der Wirt ist schweigsam.
Hier, im Grenzgebiet, spürt man den Krieg nahen. In der vergangenen Woche hast du viele Gerüchte von umherziehenden Kampfgruppen gehört. Dunkelelfen, Orks oder sogar Bärenkrieger rücken in Bataillonen aus. In diesem Niemandsland rechnet die Bevölkerung jederzeit mit einem Angriff. Und aus dem Herzen Kalynors, dem Sonnenland, kommen immer weniger Lebensmittel und Waren. Die Angst hängt spürbar in der Luft. Alle warten nur noch auf den großen Knall.
Ihr schleppt Brenna in ein Zimmer, eigentlich eine Abstellkammer hinter der Küche. Hier hat der Wirt euch ein Strohlager eingerichtet, die Besen und Eimer stehen auf dem engen Gang vor der Tür. Hier legt ihr Brenna zu dritt ab – Elred und Aji kümmern sich um die Pferde der Neuankömmlinge, die endlich von ihren Sätteln befreit werden müssen. Als Brenna sicher unter mehreren Decken liegt und die beiden bei euch eingetroffen sind, siehst du Arthrax streng an.
„Was?“, grunzt er.
„Du solltest auch Elred und Karja heilen. Sie sind ebenfalls vergiftet, schon vergessen?“
„Sie haben nicht aufgepasst.“
Du seufzt. Als würde man mit einem Kleinkind diskutieren! „Sie haben deine Schwester quer durch das Land gebracht, um sie zu retten. Obwohl sie ebenso Hilfe gebraucht hätten. Also reiß dich gefälligst zusammen!“
Zähneknirschend holt Arthrax den Vesuvian erneut hervor. Er berührt Brennas Begleiter nacheinander und entzieht auch ihnen das Gift.
Elred atmet befreit durch. „Ich werde eine freie Nase nie wieder als selbstverständlich ansehen!“
„Ich brauche trotzdem ein Bett“, murmelt Karja. „Aber vorher was zu Essen und ein Bier!“
„Auf das Bier könnt ihr verzichten“, warnst du. „Das hat qualitativ echt eingebüßt.“
„Ich habe dem Wirt schon gesagt, dass er uns was holen soll“, meldet sich Aji. „Essen ist also gleich fertig.“
„Ein Glück.“ Karja streckt sich. „Was … was machen wir mit Brenna?“
„Solange sie schläft, sollten wir sie nicht wecken.“ Dir ist klar, dass Brenna jetzt seit siebzehn Tagen keine Nahrung hatte, aber das kann sie auch morgen noch aufholen. Im Moment muss ihr Körper sich von der Krankheit erholen. Du wirst nachts nach ihr sehen, falls sie dann wach wird.
Ihr esst schweigend. Karja und Elred sind vollkommen erschöpft, Arthrax ist immer noch zornig. Du hast keine Lust auf den Streit, der sicher ausbrechen wird, wenn du ihnen den geringsten Anlass bietest, und Aji traut sich auch nicht, etwas zu sagen.
Somit geht ihr auch früh ins Bett. Nach den Tagen des Bangens auf eurer Seite braucht ihr diese Ruhe ebenso dringend wie Brenna, Karja und Elred.
°°°
Zwei Tage später, am Abend, sitzt ihr nach einer Menge Ärger wieder am gleichen Tisch und schweigt euch weiterhin an. Immerhin sitzt Brenna bei euch, wieder geheilt und bereit für neue Abenteuer. Die lassen wohl nicht lange auf sich warten. Du hast eine Gestalt in Mantel und Kapuze bemerkt, die eingetreten ist.
Beim ersten Mal hat der verhüllte Fremde für Aufsehen gesorgt, jetzt ist diese Gestalt nur eine von vielen. Allerdings bahnt sie sich ihren Weg zielsicher zu euch herüber. Kurz lässt sie die Kette mit den Insignien der Krone aufblitzen, als wüsstet ihr nicht sowieso, wen ihr vor euch habt.
„Die Schöpfersteine. Wie viele haben wir?“
„Direkt zum Punkt.“ Das gefällt dir, aber es bedeutet auch, dass die Zeit drängt. „Wir haben vier weitere Steine bekommen. Den Blutjaspis, den Imperial, den Selenit und den Obsidianspiegel.“
Die Gestalt nickt. „Das ist gut, das ist sehr gut. Damit verbleiben nur noch drei Steine in den Jenseitslanden, ja?“
„Der Zirkon in Flutheim, der Eilath und Oylen ja Bereenga und der Aventurin im Feuerland“, zählst du gehorsam auf.
Stille breitet sich an eurem kleinen, runden Ecktisch aus.
„Und“, fragt die verhüllte Gestalt mit einem Räuspern, „werdet ihr auch sie holen?“
Du siehst zu deinen Gefährten. Ihr habt bereits viel riskiert. Brenna wäre beinahe gestorben. Die nächsten Aufträge werden ganz sicher nicht einfacher werden. Habt ihr eurem Land nicht bereits genug gedient?“
„Ihr werdet natürlich fürstlich entlohnt“, sagt euer Gegenüber rasch. „Ich weiß, es muss euch lächerlich vorkommen. Acht Steine in unserem Besitz, damit sollten wir doch jeder Invasion standhalten können. Aber die Armeen ziehen jetzt zusammen. Wir stehen allein gegen elf Reiche, eines davon die Drachen. Auch acht Schöpfersteine können uns da nicht retten.“
Ihr schweigt. Das Gold ist natürlich verlockend. Ihr habt einiges aufgebraucht, beispielsweise, um Siwa Ekana zu bezahlen. Über die Entlohnung könnt ihr euch auch wahrlich nicht beschweren und es stimmt, dass die Loyalität eines Söldners am Gold zielt.
Doch könnt ihr es wirklich mit den Bärenkriegern, dem Dschungelvolk oder gar den Drachen aufnehmen?
„Es reicht, wenn ihr noch zwei Steine holt“, sagt euer Gegenüber, als hätte es eure Gedanken gelesen. „Ich verlange nicht, dass ihr ins Feuerland geht, wenn ihr es nicht wollt. Das Recht dazu habe ich nicht.“
Ihr wisst noch immer nicht genau, welche Kräfte die drei Steine haben, da die Quellen dort uneindeutig sind. Zum Imperial hieß es auch beispielsweise, er würde ‚Sonnenstrahlen‘ bewirken. Was hat Gedankenkontrolle mit der Sonne zu tun? Du magst es nicht, ein unbekanntes Risiko einzugehen.
Noch immer suchst du nach einer Entscheidung in den Augen deiner Gefährten. Arthrax wirkt nicht gewillt, Brenna erneut in Gefahr zu wissen. Aji dagegen kaut auf seiner Unterlippe. Du weißt, was deinen Schützling beschäftigt. Er ist ein Idealist, er will helfen, damit Kalynor nicht untergeht.
Wenn ihr das zulasst – und es wäre selbst mit der aktuellen Verteilung der Schöpfersteine möglich, dass ihr den Krieg gegen die Drachen verliert – wäre auch euer Gold nichts wert.
Doch das gleiche passiert, wenn ihr sterbt. Und Kalynor ist nun in einer mächtigen Position. Soll es wirklich eure Aufgabe sein, euer Land im Alleingang zu retten?
Deine Gefährten richten sich nacheinander auf. Sie haben entschieden.
Ihr wechselt einen Blick und …
- … verkündet, dass ihr genug getan habt. (Spielbuch beenden.) Lies weiter in Kapitel 1.
[https://belletristica.com/de/chapters/342033/edit]
- … stimmt zu, die nächsten beiden Schöpfersteine zu holen. (Zum nächsten Bereich springen.) Lies weiter in Kapitel 2.
[https://belletristica.com/de/chapters/342034/edit]
- … stimmt zu, die nächsten beiden Schöpfersteine zu holen. Die Ereignisse der letzten Tage haben euch gezeigt, dass das der einzige Weg ist. (Optionale, nicht-relevante Rückblende spielen.) Lies weiter bei Kapitel 3.