Ziellos stromerte der Jugendliche durch die Häuserschluchten. Viele der Gebäude waren vollkommen heruntergekommen. Die meisten der Bewohner waren geflohen, als die ersten Bomben gefallen waren, hatten sich aufs Land zurückgezogen in der Hoffnung, dort ein sichereres Leben zu haben, solange der Krieg währte.
Justus’ Familie wäre sicher auch gegangen, wenn sie gewusst hätte, wohin. Doch weder die Mutter noch der Vater hatten Bekannte oder Verwandte auf dem Land und so waren sie geblieben. Dem Jungen hätte es gefallen, auf einem Dorf zu leben und Schweine oder Hühner zu hüten. Wann immer er Kinder vom Land zu Gesicht bekam, erhärtete sich in ihm der Glaube, dass die weniger unter Rationalisierungen zu leiden hatten und selten hungrig zu Bett gingen. Denn die waren alle mindestens zehn Pfund schwerer und mehrere Nuancen gebräunter als Justus, der hochgewachsen und mager war.
In Gedanken versunken betrat der Jugendliche einen Ort, den er schon als Kind gemocht hatte. Es war ein Spielplatz, an dem man angrenzend begonnen hatte, ein Gebäude zu errichten. Doch das war vor dem Krieg gewesen und das Haus niemals fertig geworden. Jetzt standen nur die nackten, skelettartigen Grundmauern und es erschien so, als hätte man am Tag des Kriegsbeginns alles stehen und liegen lassen. Vermutlich hatte der Großteil der jungen Männer, die hier gearbeitet hatten, an die Front gemusst und war inzwischen tot.
Der Junge ließ sich auf einer der Schaukeln nieder und schwang ein paar Mal hin und her, als ein flackerndes Licht seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er drehte den Kopf und konnte sehen, dass irgendwo auf einem der angrenzenden Dächer etwas in der Sonne funkelte und seine Reflexion auf die Bauruine warf. Justus wollte sich wieder auf sein Spiel konzentrieren, doch das wollte ihm nicht gelingen. Immer wieder warf er den Blick auf die Stelle, wo der helle Lichtpunkt tanzte und stand schließlich auf.
»Nanu«, murmelte er, als er dort angekommen war. Das Funkeln war verschwunden und als er den Kopf zu dem Dach herumdrehte, war da nichts mehr, was schillerte, obwohl noch immer die kalte, blasse Sonne schien. Wollte ihn da jemand veralbern?
Der Junge stand vor einem dieser breiten Betonrohre, die man manchmal aufgestapelt auf Baustellen vorfand, nur war dieses in den sandigen Grund getrieben worden. Was hatte man denn hier errichten wollen? Das Rohr war groß genug, dass Justus geduckt darin stehen konnte. Die Neugier hatte ihn gepackt und er fing zu grinsen an.
Ohne längeres Zögern krabbelte der Junge hinein und folgte diesem. Er glaubte, dass es ohnehin nicht wirklich tief hinunter gehen konnte, und rasch am Ende anzukommen. Es wurde immer dunkler und auch kühler. Der vom Winter durchgefrorene Boden gab seine Eiseskälte an den Stein ab.
Für einen Augenblick gaukelte Justus’ Fantasie ihm ein Horrorszenario vor, was er am Grund finden würde. Vielleicht hatte ein Mörder sein Opfer in ihrem Schacht versteckt oder er landete in einem Nest von Ratten. Der Jugendliche wusste nicht, was er schlimmer finden würde.
Er tastete sich mit den Händen an den rauen Wänden vorwärts, denn sehen konnte er kaum noch etwas. Als er zurückblickte, war der Eingang des Tunnels als ein kleiner Lichtpunkt weit oben zu erkennen. Wie konnte das sein? Wie konnte er so weit gegangen sein und noch nicht am Ende angelangt sein? Justus tastete seine Jacke ab, in der Hoffnung, die kleine Taschenlampe darin zu finden, die er normalerweise immer dabei hatte, doch die seine Mutter gern herausnahm, damit er nicht so viel Plunder mit sich herumtrug.
Der Junge fand die Handleuchte und schaltete sie ein. Neugierig leuchtete er die Wände ab, die ihm unter seinen Fingern immer rauer vorgekommen waren und nun sah er auch, warum das so war. Der Beton war übersät mit funkelndem Mineral und Kristallen, doch das war kein Salz. Es sah aus, als wären es Edelsteine.
»Wie geht das denn?«, flüsterte er sich selbst zu, als er den Lichtstrahl geradeaus richtete. Dort hinten war etwas. Es sollte dunkel, stockfinster sein, doch das war es nicht. Es schien, als leuchtete vor Justus etwas. Entschlossen kroch er geduckt weiter, bis er das Ende des Tunnels erreicht hatte. Irritiert blickte er auf das Gebilde vor sich. Es wirkte wie eine Tür. Eine mit einem kleinen, etwas schmutzblinden Fenster.
Justus steckte die Lampe weg und rieb mit den Händen über das Glas, um hindurchzusehen, doch er erkannte nur, dass es dahinter hell war. Was war das? Wie konnte das sein, er musste inzwischen mehrere Meter unter der Erde sein?! War das ein versteckter Bunker? Er machte einen Schritt zurück und umfasste den Griff der Luke. Der Durchgang war schmal, doch ein Schwall frischer und angenehm warmer Luft kam Justus entgegen. Es duftete sonderbar vertraut, doch der Junge konnte es nicht zuordnen. Zweifelnd blickte er auf die Öffnung. Er war dünn, aber selbst er würde Probleme haben, dort hindurchzupassen. Doch Justus war zu weit gekommen, um nun ohne die Befriedigung seiner Neugier umzukehren, also zog er die Jacke aus und umklammerte sie mit der Hand. Er zwängte sich mit geschlossenen Augen durch die Luke und …
... fand sich plötzlich auf einem Hausdach wieder. Justus ragte bis zur Hüfte aus einem Schornstein! Erschrocken klammerte der Jugendliche sich daran fest und schwankte für einen Moment.
»Heiliges Kanonenrohr«, stieß Justus zwischen den Zähnen hervor, als er den Blick schweifen ließ.
Der Junge war nicht mehr auf dem grauen Spielplatz, der im blassen und farblosen Licht der kalten Wintersonne dalag. Hier war es warm, es duftete nach Heu und Sommer und die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen.
Vorsichtig kletterte Justus aus dem Schornstein und tapste dann langsam vorwärts. Irgendwie musste der Junge von diesem Dach herunterkommen, das für seinen Geschmack viel zu alt und morsch aussah. Die steinernen Schindeln waren alle bereits von Flechten überwuchert und die Balken knarzten unter seinen gerade einmal fünfzig Kilo Körpergewicht besorgniserregend.
Gerade als er so weit vorangekommen war, um zu erkennen, dass er an der Seite des Hauses herunterklettern konnte, gab das Holz unter seinen Füßen nach. Justus schrie auf, riss die Arme in die Luft und rauschte ungebremst durch das entstandene Loch im Dach, um mit einem dumpfen Geräusch in einem meterhohen Heuhaufen zu landen.
Spuckend, niesend und hustend kämpfte der Junge sich aus diesem hervor und rubbelte sich die Halme aus den Haaren, bevor er leise auflachte. Das wurde ja immer verrückter! Sein Herz beruhigte sich von dem Schreck und er sah sich um. Diese Hütte war bereits lange unbewohnt, denn die Wände waren rissig und durchscheinend. Es war mehr ein Stall als eine wirkliche Behausung.
Neugierig öffnete Justus die breite Türe und trat heraus. Hier war keine Menschenseele zu sehen, nur die Bienen und ein Schwarm Gänse, der quakend am Himmel entlangzog. Alles wirkte so friedlich wie in den Sagengeschichten, die seine Mutter ihm vorgelesen hatte, wenn er nicht hatte schlafen können.
Das hier konnte nur ein Märchen sein, denn immerhin war er durch einen Tunnel gekrochen und aus einem Schornstein herausgekommen!
Mit der Jacke unter dem Arm, die der Jugendliche an der Grundstücksgrenze über einem alten Zaun ablegte und zurückließ, marschierte er los. Justus wusste nicht, wo er war, es musste doch jemanden geben, den er würde fragen können.
Vor dem winzigen Gehöft lag ein schmaler Feldweg und dahinter erstreckte sich eine weitläufige Wiese, auf der vereinzelt Bäume standen. Der Junge hatte das Gefühl, er könne mindestens einen Kilometer weit nur dieses lang nicht mehr gesehene, satte Grün erkennen, das in verschwenderischer Fülle und Farbenpracht von Blumen und blühenden Kräutern gespickt wurde und ganz weit hinten in einen tiefen Wald überging. Mit einem Lachen auf den Lippen drehte er sich einmal im Kreis. Aus dem Augenwinkel bemerkte er schließlich, dass an dem wackligen Zaun des kleinen Hofes ein Schild angebracht war. Neugierig ging er darauf zu und wischte einige Gräser beiseite, um es entziffern zu können:
Fledermausheide - Betreten bei Nacht verboten! Zuwiderhandelnde haben Pech!
Der Junge kicherte leise. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das hier jemand las, so einsam und still, wie es hier war. Tief die wunderbare Luft einatmend, wandte er sich herum und stapfte über die Wiese. Sorgen oder gar Gedanken darum, wie er wieder nach Hause kommen sollte, machte er sich keine. Er dachte nicht einmal daran. Und da es noch herrlichster, heller Tag war, brauchte er auch vor den Fledermäusen keine Angst zu haben. Unter dem ersten Baum, den Justus erreichte, hockte er sich hin und lehnte sich an. Er konnte sich kaum sattsehen an der Farbenpracht und glaubte, noch nie etwas Derartiges gesehen zu haben. Während er einfach nur in die Ferne blickte und an nichts weiter dachte, bemerkte er nicht, dass er einschlief.
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Es war längst dunkel, als Justus wieder hochschreckte. Irritiert sah er sich um, was ihn geweckt hatte und bemerkte dann den komischen Schatten, der über ihm am Himmel kreiste. Steif rappelte der Jugendliche sich hoch und streckte sich, während er das wogende Gebilde nicht aus den Augen ließ.
»Was ist das?«, murmelte er, als er das leise Kreischen hörte und zusammenzuckte. Ein Fledermausschwarm! Der Junge machte erst einen Schritt und begann dann zu laufen, doch er konnte hören, wie die geflügelten Säuger ihn verfolgten und schließlich begannen, auf ihn niederzugehen. Kreischend schlug Justus um sich, als er die ledernen Flügel spürte, die über sein Gesicht strichen und deren Krallen feine Kratzer hinterließen. Blind rannte er in Richtung des kleinen Gehöfts, sich immer wieder umdrehend. So bemerkte er das Hindernis im Weg erst, als er heftig und schmerzhaft dagegen prallte und zurückgeschleudert wurde. Keuchend verlor Justus das Gleichgewicht und landete auf seinem Hosenboden. Die Attacken der Fledermäuse hatten aufgehört, doch sie kreisten noch immer kreischend über ihm, als der Jugendliche den Kopf hob und in ein paar rötliche Augen sah, die selbst in der Dunkelheit noch zu leuchten schienen.