Manchmal ist das Schicksal gemein und wirft einem komplett aus der Bahn. Und manchmal entdeckt man erst, wenn man neben dieser Bahn ist, was es wirklich bedeutet, zu leben.
Das regelmässige Piepsen einer Maschine war das erste, was mein Bewusstsein durchdrang. Ich wollte meine Augen öffnen, mich bewegen, fragen, was vorgefallen war, aber ich war so müde. So unsagbar müde. Meine Lider waren tonnenschwer und ich konnte keinen Muskel rühren.
Das Piepsen füllte mein ganzes Bewusstsein bevor es leiser wurde und ich wieder in bodenlose Schwärze fiel.
Das nächste was ich hörte war die Stimme meiner Mutter. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, mein Gehirn konnte den Lauten einfach keine Bedeutung geben, aber ich glaubte zu hören, wie sie meinen Namen sagte. Die Melodie der Töne an meinem Ohr hörte sich so vertraut an.
Also öffnete ich meine Lider vorsichtig einen Spalt und bereute es sofort. Ein greller Blitz schoss durch meine Augäpfel direkt in mein Gehirn und ich fühlte nichts ausser diesem gleissenden Schmerz.
Ich sah das verschwommene Gesicht meiner Mutter vor mir, wollte fragen was passiert war, aber mehr als ein leises Aufstöhnen brachte ich nicht zustande.
«…Bei der Operation wird der Kammerscheidewanddefekt verschlossen und die Einengung im Ausflusstrakt der rechten Kammer behoben. Dadurch wird dein Herz leistungsfähiger sein als zuvor, aber trotzdem besteht nach der Operation oft eine Resteinengung oder eine Undichtigkeit der Pulmonalklappe. Das ist die Klappe zwischen der Lungenarterie und der rechten Herzkammer.» Die Ärztin schaute mich über den Rand ihrer Brille hinweg an.
Ich nickte nur langsam und versuchte die ganzen Informationen zu verarbeiten. Mittlerweile sass ich aufrecht in meinem Bett, meine Mutter auf einem Stuhl neben mir und die Ärztin stand am Fussende meines Krankenbettes.
«Wieso wurde der Fehler denn nicht schon gleich nach der Geburt festgestellt?» Meine Mutter klang wütend, aber ich war mir sicher, dass sie eigentlich nur Angst um mich hatte.
«Ein Prozent aller Kinder werden mit einem Herzfehler geborgen, aber die Auswirkungen davon zeigen sich meist erst viel später. Oft sogar erst im Erwachsenenalter.»
Ein unbehagliches Schweigen trat ein und jeder schien darauf zu warten, dass jemand anderes etwas sagte.
«Wann soll die Operation denn stattfinden?», durchbrach ich schliesslich die Stille.
«Der Termin ist für morgen Nachmittag angesetzt, vorausgesetzt, du fühlst dich fit genug für die Untersuchungen, die nachher noch anstehen.»
Ich nickte nur. In meinem Kopf schossen die Gedanken in einem wilden Chaos umher. Ich dachte an Finn und an meine Mutter. An meine kleine Schwester, die jetzt gerade in der Schule sass und an mein Laufteam, mit dem ich nächste Woche hätte an einem Wettbewerb teilnehmen sollen. Ich hatte Angst vor der Operation und ich fühlte mich grässlich.
Aber all das liess ich mir nicht anmerken, sondern lächelte nur zuversichtlich.
Meine Mutter neben mir sah ziemlich nervös aus. Ununterbrochen zupfte sie am Reissverschluss ihrer Handtasche herum und ihr Knie wippte auf und ab. Schliesslich stand sie so ruckartig auf, dass der Stuhl laut über den Boden kratzte. «Könnte ich vielleicht noch schnell mit ihnen reden? Unter…unter vier Augen?»
Wenn die Ärztin überrascht war, so liess sie es sich nicht anmerken und gemeinsam verliessen sie den Raum. An der Tür drehte meine Mutter sich nochmals zu mir um und warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. Doch ich konnte sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte.
Kaum als dass die Tür hinter den beiden Frauen ins Schloss gefallen war, setzte ich mich auf, schwang die Beine über die Bettkante und schlich vorsichtig zur Türe hinüber. Mit dem Rücken an die Wand gepresst, lauschte ich der Unterhaltung.
«…Risiken bei einer solchen Operation?», fragte meine Mutter.
«Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Wir sprechen hier von einer Herzoperation. Abgesehen davon, dass bei der Operation etwas schief gehen könnte, ist auch der Heilungsprozess nicht ungefährlich.»
«Sie könnte also sterben?»
«Ich versichere Ihnen, dass die Ärzte hier absolute Profis sind und…»
Jetzt war Mutters Stimme schon beinahe hysterisch: «Ist es möglich, dass sie das Ganze nicht überlebt?»
«Ja.»
Die Ärzte trugen allesamt grüne Hauben und grüne Mundschütze. Um mich herum waren lauter Maschinen aufgebaut und alles piepste und blinkte. Ich fühlte mich schrecklich hilflos, wie ich da auf dem Tisch lag und bei dem Gedanken daran, dass diese Leute mir gleich die Brust aufschneiden würden, wurde mir schlecht.
Eine Frau mit runder Brille trat an mich heran und legte eine Maske auf mein Gesicht. Langsam versank die ganze Welt in grünen Wiesen und dem Geruch von Minze.
Als ich die Augen wieder aufschlug sass ich in dem Museum auf dem Boden. Schnell rappelte ich mich auf und machte mich auf die Suche nach Finn. Ich vermutete den Jungen bei seinem Lieblingsbild, dem grossen Auge, aber als ich dort ankam, hing das Gemälde alleine und verlassen an der Wand.
Seufzend ging ich weiter, schritt durch die verschiedenen Teile der Ausstellung, wobei ich den Kunstwerken jedoch kaum Beachtung schenkte. Als ich schliesslich einen blonden Haarschopf sah, musste ich unwillkürlich lächeln.
Ich hatte Finn schon bei unserer ersten Begegnung in mein Herz geschlossen und der Gedanke, dass ich zu ihm kommen würde, hat mir die Angst vor der Operation genommen.
«Finn?» Vorsichtig trat ich näher.
«Viviane! Schön, dass du wieder da bist, also ich meine, schade, dass du wieder da bist, aber schön, dich zu sehen!» Der Junge grinste verschmitzt.
«Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.» Ich lächelte schüchtern. Es lag eine gewisse Spannung zwischen uns in der Luft. Ich fühlte mich unbehaglich und auch Finn wirkte unsicher.
«Lass uns zusammen ins Café gehen», schlug er nach einer längeren Pause vor.
«Es gibt hier ein Café?» Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es hier so etwas gäbe. Ich war einfach davon ausgegangen, dass die Zwischenwelt sich auf diesen Ausstellungsraum beschränkte, aber vielleicht war es ja tatsächlich eine ganze Welt, welche Finn hier zur Verfügung stand.
«Ja, es gibt ein Museumscafé im Erdgeschoss. Da gibt es Snacks und Getränke. Komm, ich zeig’s dir.» Zu zweit gingen wir eine Treppe hinunter und dann einen Gang entlang, bevor sich vor uns ein Raum mit lauter kleinen Tischchen öffnete.
Auch hier war alles in Weiss gehalten, allerdings wurde die eine Längsseite des Raumes komplett von einer bodentiefen Glasscheibe eingenommen, hinter der sich sanfte Hügel mit Wiesen und Wäldern bis zum Horizont erstreckten. Dort konnte ich die Umrisse von grossen Bergen ausmachen und am Himmel trieben ein paar vereinzelte Wölkchen umher.
«Setzt dich doch schon mal. Ich hole uns etwas zu trinken. Was möchtest du? Cola? Kaffee? Limonade?»
«Eine Limonade gerne.» Ich strich mir verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr und setzte mich an einer der Tische nahe des Fensters. Ich wusste nicht wieso, aber irgendwie fühlte sich das Ganze an wie ein Date.
"Verdammt Viviane, reiss dich zusammen! Ihr seid nichts weiter als zwei Leute, die am gleichen Ort ihre Zeit totschlagen. Nichts weiter!" Mit aller Gewalt schob ich diese lästigen Gedanken beiseite und lächelte freundlich, als Finn mit zwei Limonaden in der einen und einer Packung Chips in der anderen Hand zu mir zurückkam. Er setzte sich und wir schwiegen. Keiner von uns schien so recht zu wissen, was er sagen sollte.
«Es ist schön hier.» Finn schaute überrascht auf. Er wirkte, als ob er nicht damit gerechnet hätte, dass ich noch etwas sagen würde.
«Ja, die Aussicht auf die Landschaft ist wirklich toll. Nur vom Dach aus sieht man noch weiter.»
«Hast du das Museum schon mal verlassen?», wollte ich wissen.
Er schüttelte traurig dem Kopf: «Meine Zwischenwelt ist dieses Gebäude hier. Ich kann das Museum nicht verlassen.»
Gerade als ich zu einer Antwort ansetzten wollte, hörte ich hinter mir ein Scheppern und führ erschrocken herum. Ein älterer Mann mit einem stattlichen Bauch hatte eine Kaffeetasse umgeworfen. Verwirrt sah ich zu Finn herüber, der nur müde lächelte.
«Na Bernhard, auch mal wieder da?», rief er grinsend zu dem Mann herüber.
«Aloha Finn. Ich werde wohl nicht mehr oft kommen, bis es für mich weitergeht, aber noch geniesse ich die Zeit hier.» Er hob die Tasse zum Gruss. «Wie ich sehe, hast du Damenbesuch. Dann will ich mal nicht weiter stören.» Leise lachend schlurfte er davon.
Auf meinen fragenden Blick antwortete Finn lachend: «Das ist Bernhard. Der Arme hat Herzprobleme und wird es wohl nicht mehr allzu lange machen.»
Ich nickte nachdenklich und beschloss dann die Frage zu stellen, die mir schon vorhin auf der Zunge gelegen hatte. «Wieso ist deine Zwischenwelt eigentlich ein Kunstmuseum?»
Die Zeit verging wie im Flug und ehe ich mich versah, waren die Hügel in goldenes Licht getaucht. Wir hatten den ganzen Tag über Gott und die Welt geredet und so viel gelacht, dass uns die Bäuche weh taten.
Wie beim letzten Mal stand Dzana wie aus dem Nichts vor uns und lächelte mich an.
«Es ist Zeit zu gehen, habe ich recht?», fragte ich und stand auf. Tief in meinem Inneren hoffte ich, dass es bei der Operation Schwierigkeiten gab, einfach nur, damit ich noch etwas länger hier bei Finn im Museum bleiben konnte.
Die Frau in Grau nickte. Ich konnte ihrer Miene nichts entnehmen. Finn hatte sich ebenfalls erhoben. Er lächelte matt.
«Bis zum nächsten Mal», sagte ich und wollte mich schon abwenden, als mir bewusst wurde, dass es vielleicht kein nächstes Mal geben würde. Ohne noch lange zu überlegen, umarmte ich ihn kurz und ungelenk.
«Hoffentlich nicht.» Er grinste.
«Hoffentlich schon», sprach sein Herz, als das Mädchen ging. Hoffentlich schon.