Merins Zweifel wuchsen, während er der Schilderung des jungen Burschen lauschte. Takjin … wenn er denn wirklich so hieß.
Es war etwas Seltsames an dem Jungen. Seine Stimme zitterte und brach, er räusperte sich häufig. Offenbar kam er in den Stimmbruch. Trotzdem wirkte Takjin zu alt, um noch ein Kind zu sein. Die Art, wie Peki den Jungen anstarrte, machte ihm klar, dass das Mädchen dem Fremden bereits vorbehaltslos vertraute. Merin dagegen war sich nicht sicher, dass sie wirklich Verbündete waren.
Chirogan war durch das Portal geworfen worden, das auch er durchritten hatte. Wieso war Telions junger König dann nicht auf der anderen Seite aufgetaucht? Als er am Vorabend nach seinem Freund und König gefragt hatte, hatte Takjin ihn und Peki in einen Raum mit drei Schwerverletzten geführt, denen offenbar die Kehlen durchgeschnitten worden waren. Von wem? Merin hatte keine anderen Menschen als den jungen Takjin und seine Freundin gesehen.
Er wünschte, er hätte seinen Bogen bei sich. Sogar das Jagdmesser hatten sie ihm abgenommen. Er fühlte sich nackt.
„Erzähl mir bitte von den grauen Rittern“, bat Takjin Peki gerade. „Ich glaube, ich kenne sie.“
Ein sichtbarer Schauer überlief Peki. Auch Merin hielt unwillkürlich die Luft an. Er erinnerte sich genau an das Wettrennen mit Chirogan, bei dem er vorgelaufen war, weil er auf Capricorn würde zurückreiten müssen und ein Esel nun mal nicht mit Sturmtänzerin mithalten konnte. Sonst hätte er die Seite seines Königs niemals verlassen. Es war nur dieses dumme Rennen gewesen, nur die kurze Strecke vom Wald zur Koppel, die er ihn aus den Augen gelassen hatte, um das Schloss zu erreichen.
Aber Chirogan war nicht am Palast gewesen. Er war nicht gekommen. Stattdessen waren die unheimlichen Gestalten aufgetaucht: Sieben Ritter in grauen Rüstungen, ohne Wappen, die auf dem Hügel erschienen. Sie eröffneten die Jagd auf ihn und er verdankte es allein Sturmtänzerins flinken Hufen, dass er damals entkommen konnte.
Die Ritter hatten ihn und Peki auch später noch verfolgt. Sie standen definitiv mit Chirogans Verschwinden in Verbindung.
„Sie sind furchtbar“, hauchte Peki. „Es wird dir ganz kalt, wenn du sie siehst.“
„Ihr Anführer ist General Pralikov“, flüsterte Takjin.
Merin fand es interessant, dass Takjin diesen Namen offenbar auszusprechen wagte, den des Spiegelmeisters jedoch nicht.
„Zwei seiner Diener heißen Kith und Naru.“
Peki schüttelte den Kopf. „Ihre Namen kenne ich nicht.“
„Wo kamt ihr her?“, versuchte Takjin einen weiteren Vorstoß. „Gab es dort ein Dorf, Birkengrund?“
Peki schüttelte abermals den Kopf. „Wir waren in Telion. Es war die einzige Stadt auf viele Meilen, aber es sind im Moment nur viele einzelne Viertel. Wir waren in Niemhain. Die Stadt wird erst noch gebaut, musst du wissen, seit Chirogan den Drachen erschlagen hat.“
Merin wurde Takjins Neugier zu viel. Er trat vor. „Du sagtest, das hier wäre eine andere Welt.“
Der Junge sah ihn verschreckt an – offenbar hatte er Merins Anwesenheit bereits wieder vergessen –, nickte dann aber. „Es ist alles sehr kompliziert. Ich werde es euch in Ruhe erklären, wenn auch die anderen wach sind.“
„Falls sie aufwachen.“ Merin konnte sich gerade noch davon abhalten, eine Augenbraue zu heben. Er mochte es nicht, hingehalten zu werden. Schon während Chirogans kurzer Amtszeit hatte er wahrlich genug davon erlebt.
Takjin war sein Missfallen nicht entgangen. Er erhob sich. „Wartet bitte hier. Ich hole euch etwas zu essen. Unternehmt keine Wanderungen über die Insel, Soregrat ist … voller Überraschungen.“
Peki grinste, als Takjin fort war. „Ich mag Überraschungen.“
„Ich nicht.“ Merin lief trotz Takjins Warnung zu der kleinen Koppel, auf der Jen und Wildfang grasten. Sein hellbraunes Pferd hob den Kopf und begrüßte ihn mit einem glücklichen Wiehern. Merin klopfte dem Tier auf den Hals und untersuchte seine Beine, Flanken und den Kopf auf Verletzungen. Wildfang hatte ein paar Schrammen und einige winzige Brandflecken im Fell, wohl von Merins rücksichtslosem Ritt durch die Flammen. Er bereute es im Nachhinein. Selbst so war er nicht schnell genug gewesen, um Chirogan zu retten.
Peki schloss zu ihm auf und streichelte Jen. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“
„Du glaubst ihm, dass wir in einer anderen Welt sind?“
„Gestern hast du’s noch selbst gesagt“, antwortete Peki. „Mein Vater hat auch von einer anderen Welt geredet.“
„Dann stimmt es vielleicht.“ Merin sah sich um.
Er spürte Pekis Blick auf sich. „Du weißt, dass Garabath unser Feind ist, der Spiegelmeister. Nicht diese Leute.“
Takjin kam aus der Tür der kleinen Hütte, in den Händen ein Tablett, auf dem sich Brot, Käse und zwei Becher mit Getränken befanden.
„Ich bin mir noch nicht sicher, ob sie nicht zu Garabath gehören“, wisperte er Peki zu. Ihm entging nicht, dass das Kind die Augen verdrehte.
Das Brot schmeckte süß, der Käse säuerlich – Ziegenkäse. In den Bechern befand sich eine Art herzhafter Tee, der nach Honig schmeckte. Merin, Peki und Takjin setzten sich in den Strand ans Meer und sahen der Brandung zu. Die Hütte stand auf einer schmalen Landzunge zwischen dem Ozean und einem kleinen, kreisrunden Teich, dessen dunkles Wasser vermuten ließ, dass er sehr tief war. Hinter der kurzen, flachen Küstenregion erhoben sich gewaltige Berge, an deren Klippen sich wackelige Wege aus Holz befanden.
„Vor welchen Überraschungen wolltest du uns warnen?“, fragte Peki in belanglosem Tonfall. Doch Merin musste zugeben, dass auch ihn Takjins Antwort interessierte.
„Soregrat ist eine Art Zufluchtsort“, erklärte der Junge bereitwillig. „Diese ganze Welt wurde verflucht, sodass nur noch auf dieser Insel Leben bestehen kann. Das war der Spiegelmeister. Also haben Junea und ein paar andere versucht, so viele Tierarten wie möglich zu retten.“
„Verflucht?“ Merin hob nun doch eine Augenbraue.
„Es ist eine Art Gift.“ Takjins Blick richtete sich in eine unbestimmte Ferne. „Es kommt langsam auf die Insel zu, es ist im Wasser. Im Meer, im Regen …“
„Dann war der Sturm gestern giftig?!“, entfuhr es Peki.
„Ich glaube nicht. Doch jeder Sturm bringt das Ende von Soregrat näher.“
Takjin richtete sich plötzlich auf und starrte auf das Haus. „Ich glaube, die anderen werden wach. Kommt ihr mit?“
Er ließ ihnen nicht wirklich eine Wahl. Er sprang auf und rannte zu der Hütte zurück.
„Die leben noch?“, wunderte sich Peki.
Merin nahm das Tablett mit dem Essen auf. „Komm. Vielleicht bringen wir etwas mehr in Erfahrung.“
In der Hütte stellten sie fest, dass nur einer der Fremden wachgeworden war, eine untersetzte Frau mit kurzen, braunen Haaren. Sie beugte sich besorgt über einen ebenso untersetzten, blonden Mann. Als Takjin, dicht gefolgt von Merin und Peki, eintrat, schreckte sie auf.
„Keine Angst!“ Takjin hob beide Hände und ging leicht in die Knie. Als wollte er ein wildes Tier beruhigen, ging es Merin durch den Kopf. Ähnliches hatte er von Chirogans Vater gelernt, als sie beide noch Kinder und nichts weiter als Waldläufer gewesen waren. In den Zeiten vor dem Feuerdrachen Ashram.
Die Frau beruhigte sich scheinbar, doch ihr Gesicht blieb ängstlich verzerrt. „Wird er überleben?“
„Bestimmt. Aber du darfst noch nicht aufstehen. Bitte, setz dich wieder.“
Takjin wirkte überfordert. Merin drängte sich an ihm vorbei und beugte sich über den Blonden, der leichenblass auf dem Boden lag. Vorsichtig zog er das Tuch um dessen Hals zurück.
Natürlich hatte er schon Wunden gesehen. Pfeilwunden in Rehen, die Spuren von Drachenklauen in toten Siedlern in deren verbrannten Hütten … aber das war etwas anderes. Hier hatte er es mit einem versuchten Mord zu tun. Ein langer, aber zum Glück flacher Schnitt über die Kehle …
„Er hat viel Blut verloren“, urteilte er. „Doch die Blutung ist gestoppt. Die Wunde ist sauber und die Heilung hat bereits eingesetzt.“ Er schenkte der Frau an seiner Seite ein schwaches Lächeln. „Er kommt durch. Darf ich deine Wunde sehen?“
Sie nickte. Jetzt, aus der Nähe, erkannte er, dass sie jung war. Jünger, als ihr stämmiger Körperbau ihn hatte vermuten lassen.
Vorsichtig zog er auch ihren Verband zur Seite. Sie reckte das Kinn, um ihm einen guten Blick zu ermöglichen.
Ihre Kruste war gerissen, etwas Blut sickerte in den Verband.
„Du musst den Hals still halten, unbedingt“, sagte Merin. Innerlich wunderte er sich, wie viel Glück beide gehabt hatten. Der Schnitt hatte weder die Kehle noch die Halsschlagadern verletzt. Es grenzte an ein Wunder.
„Barka kannte uns“, sagte die Frau zögerlich. Offenbar hatte sein Blick seine Verwunderung offenbart.
„Barka? Ihr kanntet den, der euch das angetan hat?“
„Was hätte er tun können? Er stand unter dem Befehl unseres Königs“, flüsterte die Frau. Tränen schimmerten in ihren Augen, ihre Hände zitterten.
Merin zog die Augenbrauen zusammen. „König?“ Sprach sie von Chirogan? Das konnte nicht sein.
„Ellyd Silberherz“, antwortete die Frau zu seiner Erleichterung. „Der Zwergenkönig.“
„Zwerge?“, fragte Peki und prustete los. Merin sah, wie ein pikierter Ausdruck in die Augen der Frau trat.
„Sei still“, fuhr er das Kind an, während seine Gedanken rasten. Zwerge gab es nicht – oder doch? Er befand sich in einer anderen Welt, die Fremde stammte offenbar aus einer weiteren Welt. Konnte es dort Zwerge geben?
Vielleicht war es auch nur der Name für ihr Volk, doch ihre Kleinwüchsigkeit sah er mit einem Mal mit anderen Augen.
Die Tür der Hütte ging auf. Takjin kam herein. Merin hatte nicht gemerkt, dass der Junge gegangen war und hätte sich ohrfeigen können. Zuerst ließ er zu, dass seine Miene seine Gedanken verriet, dann wurde er auch noch unaufmerksam. So könnte er Chiro niemals retten.
Hinter Takjin kam die schwarzhaarige Frau, die reichlich müde aussah. Kommentarlos kniete sie sich neben die zwei, die noch auf dem Boden lagen, und rüttelte sie sanft. Der schlanke Junge schlug sofort die Augen auf und sah sich verwirrt um. Der Zwerg – wenn es denn einer war – öffnete die Augen langsamer. Merin half ihm, sich vorsichtig aufzusetzen, und hielt seine Hände fest, die sofort zum Hals wollten.
„Schön“, sagte die schwarzhaarige Frau von Soregrat. „Da jetzt alle wach sind, setzen wir uns zusammen. Ich denke, wir haben uns eine Menge zu erzählen.“