Du bist Allyster der Sehende.
„Ein Einbruch klingt mir zu riskant“, gibst du zu. „Es gibt doch sicherlich viele Piraten in der Stadt, die sich als Geisel eignen würden, richtig?“
Karja nickt. „Mir fallen so um die zwei Dutzend ein, die wichtig genug sind, dass wir im Austausch den Schöpferstein bekommen. Natürlich müssen wir gucken, ob sie sich gerade in Mittsee aufhalten – das wird das größte Problem, fürchte ich.“
„Zwei Dutzend“, wiederholst du nachdenklich. „Ich brauche ihre Namen und alles, was du uns sonst erzählen kannst. Und denk nach, ob dir noch mehr einfallen.“
Du willst nur eine einzige Geisel nehmen und der Gedanke, zwei Dutzend oder noch mehr Piraten überprüfen zu müssen, um festzustellen, wer das geringste Risiko bei der höchsten Aussicht auf Erfolg bieten, gefällt dir nicht. Die richtig wichtigen Piraten werden sicherlich streng bewacht, andere, die weniger streng bewacht sind, werden den Piratenkönigen vielleicht keinen Schöpferstein wert sein. Du liebst Rätsel dieser Art, doch es missfällt dir, das Leben Unbeteiligter wie Schachfiguren auf einem Brett hin und her schieben zu müssen.
„Ich beschaffe dir alle Informationen“, verspricht Karja und steht auf.
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Sie hält ihr Versprechen und am nächsten Tag liegt dir eine äußerst detaillierte Liste vor. Sie enthält nicht nur die Namen der möglichen Geiseln, sondern auch eine Beschreibung der Schutzmaßnahmen, ihrer Gewohnheiten und natürlich den Hinweis, ob sie sich gerade in Mittsee aufhalten oder nicht.
Die Liste ist ernüchternd. Nicht einmal die Hälfte der Piraten halten sich in der Plattformstadt auf. Es sind vier, die überhaupt für euch in Betracht kommen.
„Tja, Piraten mit dieser Macht müssen auch irgendwie an ihren Reichtum gelangen“, sagt Karja entschuldigend, als sie deinen kritischen Blick bemerkt. „Sie sind auf Beutezug.“
Du studierst die Liste. „Wir haben also die Wahl zwischen Calr, Talifa Partelika Oprasta, Molith Don'avel oder Siraku Tamiko.“
„Wobei Calr sich ebenfalls auf einen Beutezug vorbereitet.“ Karja tippt auf eine Stelle in der Beschreibung des Piraten ‚Calr der Schreckliche‘.
„Eindrucksvoller Name“, murmelst du.
„Wir nennen ihn für gewöhnlich den schrecklichen Zwerg“, meint Karja schulterzuckend. „Er ist zwar keiner, aber auch nicht viel größer. Mit dem würde ich mich nicht anlegen, solange uns unsere Kniescheiben wichtig sind.“
„Gut.“ Du streichst den Namen durch. „Was kannst du mir über Oprasta sagen?“
Karjas Blick huscht zu dem Zettel und zurück zu deinem Gesicht. Sie freut sich wohl nicht darüber, dir alles noch einmal mündlich zu übermitteln, was sie bereits sorgsam aufgeschrieben hatte. Nach kurzem Zögern erklärt sie aber: „Sie ist eine schwarze Magierin, eine Voodoo-Priesterin.“
Du verziehst das Gesicht. „Voodoo?“
„Viele Piraten nutzen die Toten als Mannschaft – sie brauchen keine Nahrung, sind niemals müde ...“ Karja seufzt. „Und sind ein wirksamer Schutz gegen alle Eindringlinge.“
„Molith Don'avel?“, sagst du als nächstes.
„Ein Lebemann. Weiberheld, Trunkenbold. Er hat Reichtum von seinem Vater geerbt und sich damit ein hübsches Schiff geholt, aber eigentlich ist er kein Pirat. Es ist zweifelhaft, ob die Piratenkönige wirklich den Schöpferstein für ihn herausrücken wollen.“
„Warum steht er dann auf der Liste?“, fragst du gereizt.
„Weil er einflussreich ist. Außerdem wird er nur unzureichend bewacht.“
Das genügt dir als Grund. „Wie steht es denn mit der Bewachung von dieser Voodoopriesterin?“
„Furchtbar“, sagt Karja. Du siehst sie mit hochgezogenen Brauen an. „Furchtbar im Sinne von …?“
„Furchtbar für uns. Zombies schlafen nicht“, erklärt Karja. „An Oprasta zu kommen wird schwierig, aber sie wäre eine lohnende Geisel. Die Piratenkönige schätzen ihren Rat. Und sie ist mit Freiprinz Anatek verlobt.“
„Also eine fette Beute“, erkennst du. „Komme wir zum letzten Namen. Siraku Tamiko.“
„Einflussreich, aber nicht zu einflussreich. Er besitzt eine kleine Flotte, versteht sich aber mehr auf Handel. Eigentlich ist er recht unauffällig und hält sich bedeckt, aber er wird für seinen Rat überall geschätzt. Vor einigen Jahren hat er sich gänzlich aus der Politik zurückgezogen. Um sich mehr um seine Familie zu kümmern.“ Karja macht keinen Hehl daraus, dass sie Tamikos Entscheidung für albern hält.
Du atmest schwer durch. Ein Familienvater. „Hat er Kinder?“
„Zwei. Aber sie werden uns keine Schwierigkeiten bereiten, sie sind beide keine zehn Jahre alt. Ansonsten gibt es noch eine kränkliche Frau und einige wenige Diener und Leibwachen.“
„Er wird also nicht stark bewacht?“
„Ich würde sagen, stärker als Don'avel.“ Karja lacht dreckig. „Aber die Wachen sollten kein Problem für uns darstellen. Tamiko ist auch mein Favorit.“
Du versuchst, dir deine Gefühlsregungen nicht anmerken zu lassen, doch insgeheim wunderst du dich, wie jemand bloß so herzlos sein kann.
„Er ist ein guter Freund der Königsfamilie und wird uns damit mit Sicherheit ein Lösegeld einbringen“, fährt Karja fort. „Nehmen wir ihn?“
„Das muss ich erst noch entscheiden.“ Du scheuchst sie ungeduldig mit einem Handwedeln fort. „Heute Abend sage ich dir, wie meine Wahl ausfällt.“
„Heute Abend könnte es zu spät sein, jedenfalls, um Calr noch zu erwischen“, erwidert Karja.
„Dann wäre es ebenfalls zu wenig Zeit, um die Geiselnahme vernünftig zu planen“, gibst du streng zurück und unterdrückst ein entgeistertes Kopfschütteln. Wie stellt sich Karja das vor, sollt ihr einfach kopflos in das Haus eines der Piraten stürmen?
Die Piratin schnaubt abfällig und stolziert aus dem kleinen Raum. Du wendest dich an Brenna und Aji, die sich bisher schweigend im Hintergrund gehalten haben.
„Was denkt ihr?“
Brenna hat ihr Urteil bereits gefällt. „Tamiko. Er bedeutet das geringste Risiko verbunden mit der größten Chance auf Erfolg.“
„Aber er hat Kinder!“
„Na und? Alle haben Kinder“, faucht Brenna. „Sie werden es schon überstehen, ihren Vater mal ein paar Tage nicht zu sehen.“
„Und die Angst?“, fragst du. „Sie werden furchtbare Angst haben.“
Brenna hält sich offenbar nur mit Mühe davon ab, mit den Augen zu rollen. Dafür tritt Aji vor. „Ich stimme für Talifa Oprasta. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wenn wir den Schöpferstein nicht so bekommen, werden sie vorgewarnt sein und wir kommen nie an ihn dran.“
„Bist du verrückt? Weißt du nicht, wozu die Voodoos fähig sind?“, faucht Brenna.
Aji legt die Hand auf die Brust, wo unter seinem Hemd der Schöpferstein an seiner Kette hängt. „Auch ich bin zu etwas fähig.“
„Aber damit verraten wir uns“, gibst du zu bedenken. „Die Jenseitsvölker werden unseren Plan erraten und die anderen Schöpfersteine noch stärker bewachen.“
„Schlägst du etwa vor, dass wir uns diesen Säufer schnappen?“, fragt Brenna entgeistert.
Du senkst den Blick. Don'avel ist den Piratenkönigen vielleicht kein Lösegeld wert. Kannst du das wirklich verantworten, die Mission so scheitern zu lassen?
Dir wird klar, dass du beginnst, die einzelnen Menschen als Ansammlung von Risiken zu betrachten. Dabei sind es allesamt normale Menschen, die ihrem Leben nachgehen und mit dem beginnenden Krieg vermutlich nicht mal viel zu tun haben – Zivilisten, deren friedliches Leben du eiskalt zerstörst und die du wie Bauern opfern willst. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr – du musst also entscheiden, wen du zu deiner Geisel machen willst, ohne Rücksicht darauf, dass es vielleicht nur ein harmloser Bürger von Mittsee ist.
Schweren Herzens entscheidest du dich für …
- … die Voodoo-Hexe Talifa Partelika Oprasta. Lies weiter bei Kapitel 24.
[https://belletristica.com/de/books/20829/chapter/22924]
- … den Familienvater Siraku Tamiko. Lies weiter bei Kapitel 25.
[https://belletristica.com/de/books/20829/chapter/22925]
- … den Lebemann Molith Don'avel. Lies weiter bei Kapitel 26.