Du bist Allyster der Sehende.
Das Wasser ist eisig kalt und du schnappst nach Luft. Deine Zehen und Finger werden fast sofort taub. Als du einen besorgten Blick von Brenna bemerkst, zwingst du deinen Atem unter Kontrolle und schwimmst zurück zum Rand der Plattform, wo nur noch Aji auf dem Trockenen steht.
„Wie ging der Zauber?“, fragst du ihn.
„Aina kalimbar te jezka oinolos ti fruva!“, stammelt der Junge ohne den geringsten Akzent.
„Sehr gut.“ Du nickst zufrieden. „Und denk daran – sprich den Zauber und lauf sofort zurück zum Haus.
„Ich weiß.“ In Ajis Stimme schwingt seine jugendliche Ungeduld mit.
Ein wehmütiges Lächeln stiehlt sich auf deine Lippen. „Viel Glück!“
Auch Brenna und Karja nehmen Abschied von dem kleinen Jungen, der nervös seine Kapuze überzieht, um sich vor neugierigen Blicken zu verbergen. Ihr seht ihm hinterher, als er sich auf den Weg zum Palast macht.
„Also gut.“ Du formst mit den Fingern eine Kugel und streifst diese unsichtbare Blase zuerst über Brennas, dann über Karjas Gesicht. Zuletzt wendest du den Zauber auf dich an und er legt sich wie eine zweite Haut über Mund und Nase. Als ihr probeweise untertaucht, befinden sich vor euren Gesichtern Luftblasen, durch die ihr nicht nur atmen, sondern auch deutlich die Unmengen an Müll sehen könnt, die sich unter den Plattformen von Mittsee angesammelt haben. Mehrere rattenartige Fischarten huschen durch den Unrat.
Ihr taucht ein letztes Mal auf. „Bleibt dicht in meiner Nähe“, sagt Karja. „Wenn wir in der Schatzkammer sind, müssen wir zur hintersten Zelle, dort sollte der Schöpferstein sein. Dann müssen wir so schnell wie möglich zurück.“
Ihr nickt ernst. Inzwischen ist dir kalt. Du überprüfst den Sitz deiner leichten Tauchkleidung und deines Wanderstabs. Ihr habt nur wenig Ausrüstung dabei.
Schweigend begebt ihr euch in die surreale Welt unter Mittsee und schwimmt durch das düstere, grünblaue Wasser. Von den beweglichen Holzplatten über euch erklingen dumpfe, schabende Geräusche. Ansonsten ist es unheimlich still. Ihr schwimmt in regelmäßigen Zügen vorwärts, immer hinter Karja her, die euch mit untrüglichem Orientierungssinn den Weg weist.
Als du dich schließlich dem helleren Kreis näherst, der deinen Einstieg markiert, nimmst du noch durch das Wasser den durchdringenden Gestank nach Fäkalien wahr. Das hier ist definitiv nicht das ruhmreichste Kapitel deiner Karriere.
Du hältst die Luft an und greifst die hölzernen Ränder des Lochs, durch das Karja bereits nach oben entschwunden ist. Als dein Kopf aus dem Wasser auftaucht, hörst du Kampfgeräusche. Eilig zieht du dich durch den viereckigen Sitz und das runde Loch nach oben. Hier entdeckst du Karja, wie sie mit einem Bewaffneten mit Hellebarde und bunter Kleidung ringt. Noch ehe du völlig aus dem Loch entstiegen bist, kämpft sich der Bewaffnete frei und brüllt: „Eindringlinge!“, ehe Karja ihn wieder in den Schwitzkasten nimmt.
„Verdammt!“, schreit sie.
Du springst nach vorne und mischt dich in das Gerangel ein. So von zwei pitschnassen Gegnern bedrängt, ist die Wache unterlegen, doch der Schaden ist bereits angerichtet. Zu dritt – Brenna ist ebenfalls der Toilette entstiegen – nagelt ihr den Mann am Boden fest, doch euch nähern sich bereits unzählige Schritte, Befehle werden durch das ganze Gebäude gebrüllt.
„Wir sind entdeckt“, ruft Karja zu Brenna.
„Scheiße! Was sollen wir tun?“ Brenna zerrt ihre Säbel hervor.
Du stößt der Wache das Ende deines Stabs in den Hals.
Die Tür zum Toilettenraum wird aufgerissen und mehrere Bewaffnete starren entsetzt auf das Bild, das sich ihnen bietet. Dann brüllen sie und stürmen mit gezückten Schwertern vorwärts.
Brenna stößt euch zur Seite und zerrt die erste Wache hoch, um ihr einen Säbel an den Hals zu halten. „Keinen Schritt weiter!“
Keuchend halten alle im Raum inne. Nervöse Blicke taxieren Brenna.
„Sie wird es tun“, sagst du mit fester Stimme. „Hört lieber auf sie.“ Der tote Wächter am Boden verleiht deinen Worten den nötigen Nachdruck.
„Legt die Waffen weg!“, befiehlt Brenna vielleicht etwas zu gewöhnt an solche Situationen. „Und geht zurück.“
Die Geisel ringt nervös nach Atem. Du versuchst, nicht in die geweiteten Augen des armen Mannes zu blicken.
Die Wachen kommen euren Befehlen nach, doch Brenna verstärkt den Druck ihrer Klinge noch. Die Geisel wimmert und Blut läuft über die Säbelklinge.
„Jetzt holt den Schöpferstein. Wir wissen, das er hier ist!“, knurrt Brenna.
Die Wachen tauschen nervöse Blicke.
„Das können wir nicht tun!“, wimmert einer.
„Das hier“, Brenna zeigt mit einem Kopfnicken auf dich, „ist ein Zauberer. Ein Wort, und er jagt die ganze Hütte in die Luft. Jetzt schwingt eure Ärsche und schafft den Stein her!“
Panisch eilen die Wachen davon. Das Trappeln verklingt in der Ferne.
„Scheiße!“, ruft Karja. „Sie sind auf dem Platz!“
„Dann holen wir uns den Stein, los!“ Brenna schubst ihre Geisel vorwärts, zum hintersten Verließ. „Aufschließen!“
„Ich … ja … bitte, tut mir nichts!“, wimmert der Mann in Todesangst. Der stechende Uringeruch, der dir auffällt, stammt wohl nicht allein von eurer durchtränkter Kleidung.
Mit zitternden Fingern öffnet die bemitleidenswerte Wache den Kerker und deutet auf eine Art riesiges, beiges Schneckenhaus, das auf einem kleinen Podest ruht. „D-da.“
„Der Ammonit“, hauchst du ehrfurchtsvoll. Du kannst seine Macht spüren, ein Prickeln in der Luft.
Karja drängt sich an dir vorbei und steckt den Schöpferstein in ihren Beutel. „Nichts wie raus hier!“
Durch die geöffnete Tür des Kerkers erhascht du einen kurzen Blick auf dem Vorplatz, wo hohe, tieforange Flammensäulen wüten. Das verschafft euch die nötige Zeit, um euch mit einem Hechtsprung in die Toilette zu retten. Karja schwimmt hastig voraus.
Schnell erkennst du, dass ihre Eile nicht nur an den Wachen liegt, die jederzeit zurückkommen können: Riesige, schwarze Haie halten aus allen Richtungen auf euch zu. Sie sind doppelt so groß wie gewöhnliche Haie und sehen ziemlich unfreundlich aus.
„Schnell!“, ächzt Karja undeutlich durch ihre Luftblase, die ein ganzes Stück schrumpft. Die Blasen sind nicht für Unterwassergespräche konzipiert.
Ihr schwimmt, was eure Arme hergeben, doch die Haie schließen auf. Mit einem Knurren wendest du dich um und schießt eine gewaltige Druckwelle nach hinten, die die Haie ein ganzes Stück zurückwirft und die Holzplatten über euren Köpfen tanzen lässt.
Doch im gleichen Moment verschwinden auch eure Luftblasen – deine magische Kraft ist aufgebraucht! Mit angehaltenem Atem und brennenden Lungen schwimmst du Brenna und Karja hinterher in Richtung Oberfläche.
°°°
Gegen Abend klopft ihr gegen die Tür von Karjas Haus. Aji öffnet die Haustüre ein Stück, sieht euch mit großen Augen an und rümpft die Nase.
„Ja, ja, wissen wir.“ Du drängst dich an dem Jungen vorbei.
„Habt ihr ihn?“, fragt Aji leise.
Nachdem alle drinnen sind und Karja die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hat, zieht sie triumphierend den Ammoniten hervor. „Tadaah!“
„Ohhh!“, staunt Aji mit großen Augen und berührt den Stein. Du hältst unwillkürlich den Atem an, voller Angst, dass sich Aji erneut verwandelt, doch nichts geschieht. Der Junge streichelt den Schöpferstein. „Er ist so … alt.“
„Sie sind alle alt“, brummst du.
„Wir haben ihn, und das ist alles, was zählt“, sagt Brenna.
„Und jetzt müsst ihr so schnell wie möglich verschwinden“, fügt Karja hinzu. „Morgen fahren wir ab.“
„Wir?“, fragst du.
„Klar. Oder wollt ihr euch nach dem Chaos heute einen neuen Kapitän suchen?“ Die Piratin grinst euch an. „Außerdem haben mich die Wachen sicherlich erkannt. Ich sollte eine Weile untertauchen.“
„Also …“, fängt Brenna an und wirft dir einen fragenden Blick zu.
Du reißt die Augen auf. „Auf keinen Fall!“
„Was?“ Karja sieht zwischen euch hin und her.
„Wir können noch jemanden gebrauchen, der mit einem Schwert umgehen kann“, setzt Brenna ihr Angebot fort, ohne auf deinen Einwand zu achten. „Du könntest mit uns ziehen.“
Karja hebt die Augenbrauen. „Das wäre eine Möglichkeit.“
„Denk drüber nach!“ Brenna grinst und eilt in ihr Zimmer, um deinem finsteren Blick zu entgehen.
Du stehst Karja gegenüber und peinliches Schweigen füllt den Raum.
„Wir sind ein eingespieltes Team“, sagst du in einem Versuch, dich zu entschuldigen. „Und zwar schon eine ganze Weile. Der Gedanke, jemand neuen aufzunehmen ist … seltsam. Normalerweise würden wir es wohl vorher besprechen. Aber wenn du willst, warum nicht?“
„Es würde dir nichts ausmachen?“, fragt Karja nach. „Ich hab keinen Bock auf unterschwellige Spannungen!“
„Solange du dich nicht als Kapitänin aufspielst“, gibst du zurück. „Und ich kann nicht für den Rest unserer Gruppe sprechen.“
Karja zuckt mit den Schultern. „Ich überleg's mir.“
Herzlichen Glückwunsch!
Dies ist das Canon-Ende von Allysters Part.
Lies weiter in Kapitel 27.