***Keeda***
„Links oder Rechts?“, fragte Harbek und untersuchte die zwei identischen Tunneleingänge der Kreuzung. Nach dem Werrattenangriff waren sie eine Weile dem Tunnel gefolgt ohne erneut attackiert zu werden und standen nun an einer Kreuzung
„Links!“ entschied Alice und betrat den dunklen Gang.
„Darf man fragen weshalb?“ fragte Keeda und folgte ihr. Im Endeffekt war es ihr gleich welchen Tunnel sie wählten, sie konnten ohnehin nur raten, doch die Entschlossenheit in Alice Stimme erweckte ihr Aufmerksamkeit.
„Seht doch!“, antwortete Alice und deutete auf den feuchten Boden. Harbek und Keeda folgten Alice Blick und starrten auf den schmutzigen, aber leeren Grund.
„Kann es sein, dass der Werrattenbiss dir doch mehr zugesetzt hat, als du glaubst?“, fragte Keeda zögernd und trat einen Schritt zur Seite.
Alice verdrehte die Augen und zog ihren Dolch, „Sehr witzig.“
Sie kniete sich ohne weitere Erklärung auf den Tunnelboden und strich mit den Händen suchend über die dünne Algenschicht, mit dem er bedeckt war. Harbek tauschte mit Keeda einen bedeutungsvollen Blick und gerade als er die verrückte Alice aus dem Gang ziehen wollte, fuhr ihre Hand mit dem Dolch knapp über dem Boden durch die Luft.
Ein metallisches Klappern ertönte und eine Leiste mit messerscharfen Dornen und Widerhaken glitt aus dem Boden. Keeda schlug erschrocken die Hände vor den Mund und starrte die tödliche Falle an.
„Wie gesagt, ich kann nicht all meine Geheimnisse verraten“, antwortete Alice auf die unausgesprochene Frage, die in der Luft hing, „Keeda, schieß einen Pfeil durch den Gang, es könnten noch weitere Fallen in den Wänden versteckt sein.
Weiteres Klappern erklang aus dem Tunnel, als Keeda der Bitte nachkam, und hinter der Bodenfalle kamen in den Wänden Schanzen zum Vorschein, die jeweils einen Bolzen in die Leere abfeuerten.
Alice bedachte ihre Gefährten mit einem überlegenen Blick.
„Ich gehe vor.“
Harbek und Keeda stimmten ihr sprachlos mit einem Nicken zu und folgten ihr durch den linken Gang. Ständig warfen sie misstrauische Blicke auf Wände und Boden. Jede Sekunde erwarteten sie eine neue Falle der Nasher, doch bis auf zwei weitere Bodenfallen entdeckte Alice keine weiteren.
Keeda wusste nicht wie lange sie schon durch den Tunnel liefen, doch irgendwann wurden die kahlen Tunnelwände vom fernen Schein eines Feuers beleuchtet und in der Luft lag der rauchige Geruch nach Tabak und Qualm.
„Harbek!“ zischte sie den Zwerg an, der ohne weitere Worte verstand. Nach und nach erloschen die Lichtfunken in der Luft und ließen sie in der Dunkelheit allein.
Leise schlichen sie näher an den Feuerschein, verharrten im Halbdunkel und spähten in den weiten Saal, der sich vor ihnen öffnete.
Alice warf ihr und Harbek einen schnellen Blick zu, bevor sie sich lautlos in den Raum stürmte. Keeda konnte nur erkennen wie drei der Nasher zu Boden gingen, bevor der Erste von ihnen die Situation erfassen und reagieren konnte. Ein Pfeil nach dem anderen verließ ihren Bogen und fand sein Ziel, während sie sich einige Schritt hinter Alice hielt, die wie ein rothaariger Wirbelsturm durch die Nasher fegte. Harbek hielt sich zwischen ihnen auf und warf die Angreifer zurück, um Alice den Rücken frei zu halten.
Eine Gruppe Nasher stürmte zusammen auf die Menschenfrau zu, doch ein heller Blitz brachte sie zu Fall, bevor Alice über sie hinweg sprang, um in den nächsten Raum zu stürmen und den Überraschungsmoment zu nutzen.
Sie erstarrte so plötzlich, dass Keeda beinah in sie hineingerannt wäre, wenn Harbek sie nicht am Ellenbogen zurück gezogen hätte, nur um sich im nächsten Moment mit großen, leuchtenden Augen an Alice vorbei in den Raum zu schieben.
Sie standen am Eingang eines langen, von Fackeln beleuchteten Saals. Die Wände säumten zwei Säulenreihen und auf dem Boden lag ein dicker, modriger Läufer, an dessen Ende ein altarähnliches Podest erbaut war. Das Feuer der Fackeln, die in einem Halbkreis um den samtbezogenen Altar standen, spiegelte sich im polierten Metall einer goldenen Krone, die darauf aufgebahrt war.
Unsicher trat Keeda einige Schritte in Richtung der Krone, doch Harbeks Stimme ließ sie inne halten.
„Keeda, stopp! Das ist zu einfach, ich vermute hier wimmelt es nur von fiesen Fallen.“
Keeda riss sich vom Anblick der glitzernden Krone los und wandte sich ihren Verbündeten zu.
Ihre Augen weiteten sich, als sie nach einem Pfeil griff und gleichzeitig einen Warnruf ausstieß. Zu spät.
Harbek wurde quer durch den Raum geschleudert, als der Hüne der lautlos hinter ihnen im Eingang aufgetaucht war ihm einen Schlag in den Rücken versetzte. Er landete hart auf seiner Schulter und blieb benommen liegen. Alice dagegen schrie schmerzerfüllt auf, als sie von dem Giganten an den Haaren in die Luft gehoben und wie eine Puppe geschüttelt wurde. Ihre Hände hielten bereits die Dolche fest umklammert und verzweifelt versuchte sie ihren Angreifer abzuschütteln.
Keedas wutverzerrter Schrei ließ Harbek aufschauen, doch der Koloss wehrte die Pfeile, die die Luft vor ihm durchschnitten unbeeindruckt mit seiner Armschiene ab. Ein grausames Lachen ertönte aus seiner Kehle und er warf die zappelnde Alice mit solch einer Kraft durch den Raum, dass sie an die gegenüber legende Wand prallte, an ihrem Fuß bewusstlos zusammen sackte und liegen blieb.
Keeda wich mit zusammen gepressten Lippen ein paar Schritt zurück und schaute sorgenvoll von Alice zu Harbek, der noch immer benommen auf dem Boden kauerte. Sie nahm bedächtig einen neuen Pfeil aus ihrem Köcher.
Die Gedanken überschlugen sich in Keedas Kopf, und ihre Sorgen nahmen nie gekannte Ausmaße an, doch in all dem Gewirr formte sich eine einzige Frage: Was würde Alice tun? Die Menschenfrau übernahm in all ihren Kämpfen ohne Zögern die Führung und stellte sich an vorderste Front. Nun, da Keeda als einzige von ihnen noch aufrecht stand, musste sie diese Position einnehmen.
Doch als sie versuchte den Hünen einzuschätzen, so wie Alice es immer tat, traten kalte Schweißperlen auf ihre Stirn und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus.
Sorge? Verunsicherung? Angst? Sie versuchte sich zu beruhigen, doch die Panik breitete sich immer weiter aus.
Knox hatte sie, bevor sie aufgebrochen waren, vor Karzovs Kraft gewarnt, dennoch hätte sie nie mit einem solchen Giganten gerechnet. Der Mann der vor ihr stand und spöttisch auf sie herabblickte war doppelt so groß wie sie und besaß Arme wie Baumstämme. Sein Gesicht war zur Hälfte durch Brandnarben bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und die dunkle, verfilzten Haare hatte er zu einem Zopf zusammen gebunden.
Keeda atmete tief durch und zwang sich dazu, die wesentlichen Dinge zu beachten. Seine Brust war ungeschützt und sie konnte sie verschlungenen Tätowierungen darauf erkennen, lediglich seine Arme und Schultern waren durch eine Rüstung geschützt, während seine Beine in dicken Lederhosen steckten. Die Armschienen bedeckten nur seine Unterarme, die aussahen als könnte er allein mit den dortigen Muskeln Bäume ausreißen. Sein Gesicht verzog sich unter ihrem Blick zu einer boshaften Grimasse, die sie erstarren ließ und er ballte seine gewaltigen Hände zu Fäusten, mit denen er vermutlich in seiner Freizeit Steinbrocken zerbrach.
„Gefällt dir was du siehst?“, grollte Karzovs Stimme durch die Halle und ließ Keeda zusammen zucken, „Tu es besser deinen kleinen Freunden nach und ergib dich, Drow. Ich versichere dir, dein Tod wird nicht schmerzhaft, nicht sehr.“ Sein maliziöse Lächeln wurde breiter und er zog langsam und effektvoll ein breites Schwert.
Keeda ließ als Antwort den Pfeil von der Sehne schnellen, der, wenn Karzov sich nicht im letzten Moment gebückt hätte, seinen Hals durchbohrt hätte. Das wütende Knurren, dass er daraufhin ausstieß verursachte bei Keeda eine Gänsehaut, doch sie feuerte einen Pfeil nach dem anderen auf Karzov, der Mühe hatte, allen auszuweichen.
Während sie den Nasheranführer weiter unter Beschuss nahm, bekam Keeda nur am Rande mit, wie sich Harbek langsam aufrappelte, um ihr beizustehen.
Ein Blitz erhellte das flackernde Halbdunkel des Raumes und hinterließ eine blutige Brandnarbe auf Karzovs tätowierter Brust.
Zornentbrannt stürzte er sich auf Keeda, die ihm geschickt auswich und sich in Richtung Harbek rettete. Sie tauschten einen verzweifelten Blick, bevor sie sich abermals dem wutschnaubenden Hünen entgegen stellte.