Die Reise ins Turmviertel dauerte nicht lang, doch die Zeit zog sich nur träge dahin. Dutzende Male musste ihr Wagen für eine Kontrolle anhalten, bei der düster dreinblickende Wachen jeden einzelnen, vor allem Keeda, genau musterten und sie erst nach langen Erklärungen über ihr Reiseziel und Vorhaben weiter ziehen ließen.
Das Viertel lag im äußersten Osten der Protectors Enclave und schmiegte sich an die hohe Stadtmauer in ihrem Rücken, die es von der Innenstadt abschnitt. Es lag benachbart zum Blacklake Viertel und manchmal, wenn der Wind ungünstig drehte, konnten sie den fauligen Geruch nach Teer, Salz und Morast, riechen, der ihnen noch immer vertraut und verhasst war.
Sie waren bereits am frühen Morgen aus der Enclave abgereist und kamen erst zur Mittagsstunde mit steifen Gliedern und angespannten Nerven im Turmviertel an. Der Wagen hatte noch nicht vollständig halt gemacht, da sprang Harbek missgelaunt von seinem Sitz auf. Müde streckte er seine Arme und atmete tief durch. Keeda folgte ihm, während Alice ihrem Fahrer seinen überteuerten Lohn in die Hand drückte. Sie hatten lange gebraucht, um jemanden zu finden, der überhaupt dazu bereit war sie in das Gebiet der Orkkriege zu fahren, und der, den sie am Ende gefunden hatten, ließ es sich weit über dem eigentlichen Preis vergüten.
„Meine Freunde“, seufzte Alice und gesellte sich zu den anderen, „Damit wären wir bankrott.“ Traurig blickte sie dem hämisch grinsenden Fahrer und seinem klappernden Wagen hinterher.
Harbek folgte ihrem Blick und spuckte angewidert aus. „Mit diesem Halsabschneider haben wir einen schlechten Handel geschlossen.“
„Dennoch haben wir das Beste herausgeholt“, widersprach Keeda und blickte sich staunend um, „Seht euch nur diese Schönheit an!“ Sie folgten den weit aufgerissen Augen der Drow und betrachteten die Ruinen, zwischen denen schmale Rauchfahnen die Wachfeuer signalisierten.
Früher war das Turmviertel, wie ihnen ihr Halsabschneiderfreund erzählt hatte, ein belebtes Handelsviertel gewesen, in dem man, wie heute auf dem Marktplatz der sieben Sonne, alles kaufen oder verkaufen konnte. Die hoch in den Himmel aufragenden Türme der Lords-, Zauberer- und Handelsgilde hatten dem Viertel seinen Namen gegeben, doch heute waren von diesen Monumenten nur noch Trümmer übrig, die wie gigantische Gerippe auf der Erde verstreut lagen. Nur noch ein Turm ragte schwankend in den stahlgrauen Himmel. Die steinernen Einzelteile saßen schräg aufeinander, bebten bei jedem Windstoß und wurden lediglich von breiten Wurzeln zusammen gehalten, die vom Boden bis weit in die Höhe wucherten.
Am Horizont konnten sie die Ursache für die Zerstörung erkennen, Mount Hotenow, ein Vulkan, der fortwährend leise qualmte und in dessen Inneren Lavaseen kochten. Vor einigen Jahrzehnten war er erstmals ausgebrochen und hatte Asche und Feuer auf die Stadt regnen lassen. Das Turmviertel wurde bei der Katastrophe am Schlimmsten getroffen. Die Straßen lagen bis heute in Trümmern, Brücken waren abgebrochen und die Menschen geflohen.
„Ich erkenne nur Ruinen“, brummte Harbek düster und wandte den Blick von dem bedrückenden Anblick auf. Alice runzelte bei der Zerstörung die Stirn und sah Keeda mit schräg gelegten Kopf fragend an. „Schönheit? Hier sind viele Menschen gestorben, das Viertel liegt in Trümmern und noch immer wird hier erbittert um Land gekämpft.“
Keeda erwiderte den Blick und lächelte Alice überlegen an, „Eine altes Sprichwort der Menschen sagt, aus Trümmern wächst der Neubeginn.“
Alice schüttelte sprachlos den Kopf und widmete sich Harbek, der den Blick noch immer auf den Boden gerichtet hatte. „Kommt, wir sollten gleich beginnen. Lasst uns die Verantwortlichen finden, und herausfinden was hier los ist.“
Entschlossen stampfte sie voraus und folgte der Straße, die sie parallel zur Stadtmauer in Richtung Norden führte. Nach einigen Schritten kamen sie an einer Gruppe noch halbwegs intakter Häuser vorbei, die von den umher eilenden Soldaten als Lager für die am dringendsten benötigten Dinge genutzt wurden. Essen, medizinische Versorgungskästen, Decken, ja sogar einige Flaschen Branntwein, wurden in herumstehenden Kisten gelagert.
Zögernd sah Alice zu ihren Freunden und zog fragend eine Braue nach oben. Harbek zuckte gleichgültig mit den Schultern und Keeda stimmte ihm unbehaglich zu. Alle Soldaten an denen sie vorbei gekommen waren, hatten die Drow mit boshaften Blicken gemustert und sie hatte bei jedem Schritt die Schultern ein wenig höher gezogen.
Unsicher trat Alice als erste durch die schweren Holztüren und augenblicklich schlug ihr ein süßlicher Geruch entgegen. Verblüfft blieb sie auf der Schwelle stehen, sodass sich Harbek und Keeda an ihr vorbei zwängen mussten, um ebenfalls ein Blick ins Innere zu werfen.
An Tischen, Stühlen und Tresen saßen Soldaten, manche mit, andere ohne ihre Rüstung und versuchten die Antwort auf ihre Sorgen auf dem Boden ihres Bechers zu finden. Eine Wendeltreppe führte in großem Bogen nach oben und endete abrupt, wo der Turm abbrach. Die Taverne war erfüllt vom Gelächter der Männer und dem Knirschen von Stühlen, die über den zerbrochenen Steinboden schleiften.
„Willkommen im Zum gefallenen Turm. Was kann ich euch Abenteurern bringen?“, sprach sie eine Frau an, die an ihnen vorbei zum Tresen eilte und winkte ihnen, ihr dort hin zu folgen. Harbek ließ sich nicht zweimal bitte und wuchtete sich mühsam auf einen der hohen Hocker die dort an der Theke standen. Alice musste Keeda am Arm hinter sich her zerren, um die Drow weiter in den rauchgeschwängerten und überfüllten Raum zu bekommen.
Die Frau wandte sich breit lächelnd zu ihnen und dieses Mal war es an Harbek und Alice erschrocken zurück zu weichen, doch die Wirtin schien ihre Reaktion nicht zu kränken. Noch immer lächelte sie sie freundlich aus warmen Augen an, die fast die gleiche grau-grüne Farbe hatten, wie ihre Haut. Ihre Gesichtszüge waren breit und scharf, die Augenbrauen trafen sich beinah über der flachen Nase und aus ihren Mundwinkeln lugten kleine, spitze Zähne hervor, die aus ihrem Unterkiefer heraus nach oben standen.
„Sie sind ein Ork!“, stieß Alice schockiert hervor und griff unwillkürlich nach ihrem Dolch. Mit großen, erschrockenen Augen blickte sie sich in dem vollen Wirtshaus um.
Das Lächeln der Wirtin verrutschte ein wenig. „Ich bin ein Halbork und zur Hälfte menschlich.“
„Doch die andere Hälfte von ihnen ist ...“, erwiderte Alice aufgebracht, doch Keeda zischte sie wütend an, sodass sie verstummte. „Lass gut sein, Alice!“
Alice sah Keeda verwundert an, blieb aber stumm. Harbek starrte die Wirtsfrau ebenfalls schockiert und verwundert an, doch niemanden außer ihnen schien die Herkunft der Frau zu stören.
„Wenn ihr den ersten Schreck verkraftet habt, sagt, was kann ich euch bringen?“
„Die Reaktion meiner Freunde tut mir Leid“, beteuerte Keeda aufrichtig, doch die Frau winkte ab.
„Das ist immer der erste Eindruck, den die Leute von mir bekommen, da legt man sich schnell eine dicke Haut zu.“
Keeda nickte ihr wohl wissend zu und deutete mit einer ausladenden Geste in den Raum , „Wir suchen denjenigen, der im Turmviertel das Sagen hat, können sie uns dabei behilflich sein?“
„Dann seid ihr auf der Suche nach Hauptmann Janros. Er und sein Stellvertreter Feldwebel Creed haben die Aufsicht über die Truppenbewegungen innerhalb des Viertels. Wo sich Janros derzeit aufhält kann ich euch nicht sagen, aber Creeds Posten ist am Lagerfeuer vor meiner Taverne. Fragt dort nach, sicher kann er euch zu seinem Hauptmann führen.“
„An deiner Stelle würde ich mir besser ebenfalls eine dicke Haut zulegen. Ein Halbork zu sein ist eine Sache, aber Dunkelelfen werden noch weit weniger gern gesehen, als meinesgleichen.“
Keeda erwiderte den eindringlichen Blick der Frau trotzig und befreite ruckartig den Arm aus ihrem festen Griff. „Danke für den guten Rat“, verabschiedete sie sich tonlos und machte auf dem Absatz kehrt. Eine dicke Haut zulegen, dachte sie spöttisch, Als hätte ich das nicht versucht.