Alice und Harbek warteten bereits draußen auf sie und unterhielten sich angeregt mit einem breitschultrigen Mann, der ihr, als sie die Taverne verließ, argwöhnisch entgegen blickte.
„Keeda“, rief Alice sie zu sich, „Das ist Feldwebel Creed, er hat bereits einen Boten zu dem Hauptmann geschickt. Scheint so, als wären die Geschichten über uns bis hier her durch gedrungen.“ Sie lächelte die Drow fröhlich an und wandte sich wieder Creed zu, als der amüsiert zu lachen begann.
„So außerhalb liegt unser Viertel nun wirklich nicht. Ich schätze die Heldengeschichten über euch werden selbst in den entferntesten Dörfern erzählt.“
Alice stimmte in sein raues Lachen ein, und selbst Harbek lächelte düster. „Welche übertriebenen Märchen hat man sich hier ausgedacht?“, fragte er und Alice schlug dem Zwergen dafür spielerisch gegen die Schulter.
„Das eine oder das andere ist sicher ein wenig ausgeschmückt“, gab Creed schmunzelnd zu. Im nächsten Moment straffte er die Schultern und sein Lachen erstarb.
„Hauptmann!“, salutierte er und blickte zu einer schmalen Gestalt, die aus dem Inneren des eingestürzten Hauses trat.
„Feldwebel“, erwiderte die Gestalt und wandte sich Alice, Harbek und Keeda zu, „Ich war über eure Ankunft überrascht. Was führt die Helden Neverwinters in unser kleines, verwüstetes Viertel?“
Hauptmann Janros sah sie prüfend an und faltete die langen Finger vor der Brust. Er war lediglich halb so breit wie Creed und wirkte neben ihm fast schwächlich, doch wurde sein Auftreten von einer natürlichen Autorität begleitet, die man nur durch jahrelanges führen und herrschen erlangte.
Sein Helm, der sein Gesicht herzförmig umschloss und tief in die Stirn hing, brachte seine spitzen, schräg abstehenden Ohren und schmalen, waldelfentypischen Augen, umso mehr zur Geltung.
„Der Krieg und der Frieden führen uns her“, antwortete Harbek und trat ihm ebenso selbstsicher mit erhobenem, göttlichen Siegel entgegen.
„Ein Glaubenskleriker des nördlichen Ordenszweigs, dieses Detail wird in keiner der zahllosen Geschichten erwähnt. Es ist mir eine Ehre“, säuselte Jarson und neigte verehrungsvoll den Kopf.
„Nach unserem Sieg über Valindras Vorboten, dem Zurückschlagen ihrer Armee und der Zerschlagung der Nasher Rebellion, wollen wir im Turmviertel für Frieden sorgen“, erklärte Harbek und ließ keines ihrer Abenteuer unerwähnt, „Sagt uns Hauptmann, wie steht es um euer Viertel und den Kampf?“
„Wie ich schamvoll zugeben muss, steht es schlecht um uns. Während die Zahl der Orks stetig steigt, nimmt die Zahl meiner Soldaten ab, sodass wir ihr Vordringen nicht auf Dauer verhindern können“, gab der Hauptmann zerknirscht zu. „Doch“, sprach er mit neuer Kraft weiter, „Wir werden bis zum letzten Mann mutig unsere Posten halten!“
„Ein ehrenvoller Tod führt zu keinem Sieg, Hauptmann“, wies Harbek ihn zurecht und schüttelte abweisend den Kopf, „Wie ist unsere Lage?“
Hauptmann Jarson verzog beleidigt das Gesicht, versuchte sich aber nicht zu rechtfertigen. „Wir kontrollieren nur noch einen kurzen Straßenabschnitt entlang der Stadtmauer, der Rest des Viertels wird entweder umkämpft oder von den Orks kontrolliert. Die meisten Straßen haben sie mit Barrikaden und Befestigungstürmen verstellt, besonders im Bereich des Mantelturms. Er ist der letzte Turm der noch steht und wird von der Anführerin der Orks und den Hordenführern als Residenz verwendet. Es ist unmöglich sich den Weg bis zum Turm freizukämpfen und sich heimlich hinein zu schleichen funktioniert ebenfalls nicht, glaubt mir, ich habe es versucht, doch keiner meiner Männer hat überlebt.“
Jarson sah zu Alice und Keeda hinüber, die ihn stumm musterten und auf einen Vorschlag seinerseits warteten. Auch Harbek sah den Hauptmann nachdenklich an und richtete seinen Blick auf den gigantischen, nur noch von Wurzeln zusammen gehaltenen Turm in der Ferne.
„Habt ihr eine diplomatische Lösung in Betracht gezogen?“, durchbrach Keeda die Stille und erntete dafür ein spöttisches Lachen von Jarson und Creed.
„Diplomatie? Mit diesen Bestien?“
„Völlig unmöglich!“
Keeda verdrehte abfällig die Augen und deutete zu den verwüsteten Straßen, „Durch einen Kampf können wir nicht gewinnen, durch eine Einigung mit den Orks haben wir jedoch eine Chance.“ Creed sah sie ungläubig an und schüttelte fassungslos den Kopf, „Und wenn wir jeden Soldaten bei dem Versuch verlieren diese Monster zu erledigen, ein Heldentod für Neverwinter ist besser als ein Frieden mit dem Feind!“
Alice atmete schockiert auf und trat einen Schritt von dem Feldwebel zurück, „Ich bin sicher, da würden euch eure Männer und ihre Familien widersprechen!“
„Keiner meiner Männer …“
„Genug Feldwebel“, unterbrach Jarson die Diskussion und Creed verstummte augenblicklich, „Drow“, er wandte sich ruihig an Keeda, „Es ist nicht wichtig, was wir von einer diplomatischen Lösung halten. Die Orks werden nie einem Friedensvertrag zustimmen, sie sind ein kriegerisches Volk, ohne Interesse an Ehrlichkeit oder Ordnung. Selbst wenn wir einen Boten zu ihnen schicken, würden sie ihn bestenfalls schnell töten und uns als Spott seine Leiche zurück schicken.“
Keeda schüttelte nachdenklich den Kopf, „Ich bezweifle, dass die Orks ausschließlich an Krieg interessiert sind und finde, eine friedliche Einigung ist einen Versuch wert.“
Creed biss sich zornig auf die Lippe und starrte Keeda wutentbrannt an bevor er einen hilfesuchenden Blick zu seinem Vorgesetzten warf.
„Meister Zwerg“, wandte sich dieser an Harbek, „Was haltet ihr vom Vorschlag der Dunkelelfin?“
Harbek sah nachdenklich zu Keeda, und senkte anschließend den Blick. „Ich denke, dass ihr lange genug versucht habt, dieses Konflikt auf eure Art zu lösen. Mir ist bewusst, dass weder ich, noch meine Freunde über Befehlsgewalt verfügen, doch zeigt uns die Geschichte, dass der Krieg sowohl Unschuldige als auch Schuldige leiden lässt, es wird Zeit diesen hier zu beenden.
Dennoch schätze ich auch die Meinung eures Feldwebels, der um seine Männer besorgt scheint. Daher bitte euch uns Dreien die Erlaubnis zu geben, als Vermittler aufzutreten und die Orks aufzusuchen. Womöglich finden wir heraus, worum sie kämpfen und schaffen es einen Kompromiss zu erzielen, denn was hier alle zu vergessen scheinen: Die Orks sind bei weitem nicht unser größter Feind! Valindra will uns alle, ob Mensch oder Ork, in tiefe Finsternis stürzen und jeder Soldat wird beim Kampf gegen sie benötigt, sonst gibt es bald kein Neverwinter mehr, für das es sich zu sterben lohnt.“ Er sah auf und blickte dem Hauptmann fest entschlossen in die Augen. Für einen Moment regte sich keiner von beiden und die übrigen beobachteten gespannt das sich ihnen bietende Kräftemessen bis Jarson langsam, aber bedacht nickte.
„Nun gut. Tretet als die Boten Neverwinters auf und versucht eine Einigung zu erzielen. Kehrt danach zu mir zurück und erzählt mir von der Vereinbarung. Je nach dem, werde ich dem Vertrag zustimmen oder nicht.“
Feldwebel Creed sah seinen Hauptmann schockiert an, verkniff sich aber eine Antwort. Ihm musste bewusst sein, dass er bei dieser Entscheidung nicht mitzureden hatte.
Harbek und Alice senkten dankbar den Kopf und selbst Keeda zeigte sich widerstrebend erkenntlich, auch wenn sie Harbek mit leicht hochgezogenen Brauen beobachtete.
„Wir werden sofort aufbrechen, Hauptmann. Danke für die Möglichkeit die ihr uns hiermit bietet“, verkündete Alice und lächelte zufrieden, bevor sie sich abwandte und Keeda und Harbek mit sich die Straße entlang zog.