MAX
„Hier bin ich, Max!“ Marie winkte mir zu und ich schlängelte mich durch die Tische zu ihr.
Es war ziemlich warm für diesen Monat und die Sonne lockte viele Menschen in die Cafés. Als ich vor ihr stand, umarmten wir uns herzlich und setzten uns dann grinsend hin.
„Ich dachte wirklich, dass du mich versetzt“, sagte sie in gespielter Entrüstung. Pikiert sah ich Marie an.
„Niemals würde ich dich versetzten. Das würde ich mir gar nicht wagen. Ich wüsste doch, dass du mich sonst bis ins Grab verfolgen würdest.“
Sie schlug mir gegen den Oberarm und ich lachte laut auf. Die Gesichter, die sich zu uns umdrehten, ignorierte ich, denn es tat einfach gut sie zu sehen.
Außer mit ihr und Daniel hatte ich gar keinen Kontakt mehr zu meinen ehemaligen Klassenkameraden, zumal ich erst später als sie mein Abitur absolvieren konnte und die Lebensweisheit eintrat „Aus den Augen, aus den Sinn“.
Nach dem „Vorfall“ mit meinen Vater, lag ich fast ein Jahr im Krankenhaus und musste danach noch zur Reha. Auch wenn es mir mittlerweile physisch gut ging und alle Wunden verheilt waren, so blieb auf meiner Seele eine tiefe Narbe. Die Erinnerungen, die ich damals verloren hatte, waren auch nach drei Jahren nicht wieder zurück gekehrt. Dies war auch der Grund, warum ich fast alle Kontakte zu meinen ehemaligen Freunden abgebrochen hatte, denn ich konnte es nicht ertragen, dass sie mehr über mich wussten, als ich selbst.
„Wie geht es Benjamin?“
Ich atmete tief durch. Diese Frage hatte ich erwartet, denn als Marie und ich uns das letzte Mal gesehen hatte, war ich mitten in einer Beziehung mit ihm. Ja, ich war anscheinend wirklich schwul, so, wie Tom es mir im Krankenhaus gesagt hatte. Kurioserweise akzeptierte ich diese Tatsache bei Benny ziemlich schnell, besonders da er äußerst gute Argumente hatte, um mich davon zu überzeugen.
Ich lernte ihn bei der Reha kennen. Während ich Trübsal blies und mit meinem Leben haderte, verströmte Benjamin das pure Leben. Er holte mich aus meinem Schneckenhaus heraus und wir verbrachten eine wunderschöne Zeit zusammen. Doch obwohl er meine Vergangenheit nicht kannte und er auch nie nachfragte, waren diese Lücken in meinem Gedächtnis der Grund unserer Trennung, denn meine ständigen Stimmungsschwankungen machten ihn mürbe.
Es passierte in ganz verschiedenen Situationen. Manchmal trällerte ein bestimmtes Lied im Radio und urplötzlich liefen mir die Tränen. Immer wieder hatte ich Déjà-vu. Klaviermusik? Hatte ich immer gehasst, doch jetzt musste ich nur ein Klavier sehen und schon bekam ich Gänsehaut. Wie konnte mich diese Musik glücklich und traurig zugleich machen? Doch der größte Knackpunkt war die Tatsache, dass ich Benjamin nicht sagen konnte, dass ich ihn liebte. Ich empfand äußert viel für ihn und war ihm auch sehr dankbar, aber war das Liebe oder nur „verliebt sein“?
Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich wieder auf Marie.
„Gut, denke ich. Er hat den Kontakt abgebrochen. Es hat wohl nicht sollen sein.“
Sie nickte und ich sah ihr an, dass sie über etwas nachdachte. Nervös trommelte sie mit ihren Fingern auf der Tischplatte herum.
„Was ist denn? Komm, spuck es aus.“
„War Tom der Grund?“
War Tom der Grund? Genau diese Frage stellte ich mir auch immer öfters. Doch ich konnte keine Antwort darauf finden, solange mein Gehirn nicht meine verlorenen Erinnerungen preisgab. So zuckte ich nur mit den Schultern als Antwort.
Marie war so einfühlsam das Thema zu wechseln und fragte mich stattdessen, was ich in der Zwischenzeit getrieben hatte. So erzählte ich ihr, dass ich vor einigen Tagen meine Ausbildung zum Pharmakanten begonnen hatte. Es tat mir gut. Ein Neuanfang. Eine neue Stadt, neue Freunde und endlich niemand, der mehr von meiner Vergangenheit kannte, als ich. Zwar absolvierte ich mein Abitur nicht mit meiner alten Klasse, doch natürlich lief ich meinen alten Klassenkameraden immer wieder über den Weg. Anscheinend wusste von ihnen keiner, dass ich mit Tom zusammen gewesen war. Dennoch waren sie alle verwundert, dass er und ich keinen Kontakt mehr miteinander hatten. Marie war die Einzige, die von der Beziehung wusste. Naja, eigentlich hatte sie es nur geahnt, doch irgendwann war es mir so rausgerutscht. Sie wirkte nicht sonderlich überrascht und als ich nachhakte, erzählte sie mir, dass Tom nach meinem „Unfall“ nur noch ein halber Mensch gewesen sei. Zwar konnte er es für die anderen gut überspielen, aber Tom hatte sie nicht täuschen können.
Noch immer fehlte mir das Verständnis dafür, dass ich mich an die Fußballspiele erinnern konnte. Sogar an die Städtereise, die „mein Ex“ und ich über Silvester durchgeführt hatten, waren Erinnerungen da, doch nur an Gebäude, anderen Menschen oder Essen. Alle Sequenzen mit ihm waren weg. Nichts. Es war wie ein Film, den man abspielte und immer wieder fehlten Momente. Ich konnte zwar den Ablauf nachvollziehen, aber es ergab einfach keinen Sinn. Und wenn ich dann von Menschen angesprochen wurde, die den vollständigen Film gesehen hatten, dann machte mich das verrückt.
„Ich habe Tom vor ein paar Wochen getroffen.“
Sie sagte es beiläufig, beobachtete aber intensiv meine Reaktion. Bewusst ruhig es sah ich sie an.
„Wie geht ihm?“
„Ich denke ganz gut. Er wohnt auch hier. Wusstest du das?“
Nein, das wusste ich nicht. Überrascht sah ich sie an. Bei meiner Reaktion schmunzelte sie.
„Ich bin kein Psychologe und so … Aber meinst du nicht, dass du dich vielleicht Tom stellen solltest?“
„Wie meinst du das?“
„Naja … Es sind ja schon einige Jahre vergangen, seit ihr euch das letzte Mal gesehen habt. Vielleicht ist es an der Zeit für ein Wiedersehen?! Du musst ja nicht mit ihm reden. Sehen und hören hilft ja eventuell auch schon.“
Marie erzählte mir, dass sie Konzertkarten von Tom erhalten hatte und Daniel eher minder begeistert von der Vorstellung war, mit ihr zu diesem Konzert zu gehen. Klaviermusik sei wohl eher nicht sein Ding. Meines ja eigentlich auch nicht. So sagte ich mit einem mulmigen Gefühl zu. Was hatte ich schon zu verlieren?
2 Wochen später
Der Tag ging zur Neige und ich war nervös wie lange nicht mehr. Nachdem ich gefühlte zwei Stunden meinen Kleiderschrank durchwühlt hatte, entschied ich mich für eine schlichte Jeans und einen Pullover. Ich saß danach eine Stunde auf meinem Bett und starrte an die Kollage auf der gegenüberliegenden Seite. Bilder von meiner Mutter, Robert, einigen Freunden, Benjamin und seit drei Minuten ein Bild von Tom und mir, ergaben ein Abbild meiner Vergangenheit. Ich hatte gelogen. Die Bilder von Tom und mir hatte ich nie vernichtet. Wie konnte ich auch? Mein Gedächtnis war verschwunden und ich sollte Relikte meiner Vergangenheit löschen? Nein. Zu sehr hoffte ich, dass ich irgendwann durch diese Momentaufnahmen einen Geistesblitz bekommen würde und schwupps würde das Gedächtnis da sein. Aber leider war das nur Wunschdenken. Angestrengt starrte ich auf das neue alte Bild. Ich sah so glücklich aus und er wirkte einfach selig. Mittlerweile tat es mir leid, wie es mit Tom auseinander gegangen war. Damals war es mir nur einfach alles zu viel.
Seufzend stand ich auf, schnappte mir mein Portemonnaie und lief Richtung Straßenbahn.
Die Fahrt kam mir unendlich lang vor und die Leute um mich herum strapazierten meine Nerven. Ich wollte es einfach nur hinter mir bringen.
Je näher ich meiner Zielstation kam, desto schneller schlug mein Herz. Albern. Reiß dich zusammen Max! Es war nur ein Konzert und ich machte mir viel zu viel Hoffnung. Wahrscheinlich würde ich nur die Zeit absitzen und mir auf dem kalten Boden eine Blasenentzündung einfangen. Letzteres geschah Gott sei Dank nicht, da Marie eine dicke Decke mitgebracht hatte, auf die wir beide Platz nahmen. Für die Außenstehenden musste es wie ein Date ausgesehen haben. Eine junge Frau, welche mit einem Korb voller Leckereien ankam. Ein Junge, der sehr nervös wirkte und später noch, mehr oder weniger, romantische Klaviermusik im Sonnenuntergang. Doch das hier war definitiv kein Date.
Es dauerte noch dreißig Minuten, bis es los ging. Dreißig Minuten, die ich angespannt wie ein Bogen neben Marie saß, die alles versuchte, um mich abzulenken.
„Komm doch mal runter Max. Du machst mich ganz nervös.“
Ich sah sie nur gequält an, während mein Mittag versuchte mir erneut Hallo zu sagen. Die Grashalme entlang der Decke waren abgezupft und nicht eine Fussel war mehr auf der Decke zu finden.
Wir hatten einen wunderbaren Blick auf die Bühne. Eine kleine Leinwand vergrößerte die Musiker und diese Tatsache machte mich noch nervöser. Ich würde Tom bald sehen. Mein Herz schlug heftig und ich atmete mehrmals tief durch, als der erste Auftritt angekündigt wurde. Erst als jemand plötzlich meine Hand nahm, erwachte ich aus meiner Trance. Marie sah mich lächelnd an und ich entspannte mich etwas.
„Alles wird gut Max.“
Sie ließ meine Hand auch nicht los, als Tom auf die Bühne kam. Er hatte sich verändert. Sein Gesicht war markanter und die Haare etwas länger. Sein Gang war locker und ich schüttelte kurz meinen Kopf. Ein Gedanke war plötzlich da, so greifbar und doch wie Nebel. Tom, der seine Tasche lässig über seine Schulter hielt, selbstbewusst lächelnd. Was war das? Wann war das?
„Au, Max. Du tust mir weh.“
Erst jetzt spürte ich, dass ich ihre Finger fast zerdrückte.
„Oh. Tut mir leid.“
Ich ließ ich Finger los und sie massierte sich ihre Hände.
„Alles gut. Was ist denn los?“
„Ich konnte mich an was erinnern.“
Aufgeregt rutschte sie hin und her. Ihre schmerzende Hand war anscheinend vergessen, denn schon hatte sie die meine schon ergriffen.
„An was konntest du dich erinnern?“
Doch die Frage blieb unbeantwortet. Tom saß hinter dem Klavier, fing an zu spielen und ich verlor den Boden unter den Füßen.
Seine Musik berührte etwas ganz tief in mir. Sie durchströmte mich und jeder Tastenanschlag erschütterte mein Innerstes. Ich stand auf, ging näher Richtung Bühne. Es war wie ein unsichtbares Band, was mich unaufhörlich zu der Musik führte. Mein Blick war auf die Leinwand gerichtet. Marie sagte etwas, doch ich hörte nicht zu. Ein Gefühl manifestierte sich … ein Bild wie Nebel, welches langsam sichtbarer wurde.
Momentaufnahmen erschienen in meinem Kopf. Tom, der weinte. Wir im Regen - beim Flaschendrehen - gegeneinander beim Fußball. Ich griff mir Richtung Herz. Es war zu viel, was ich fühlte. Wieder Bilder. Tom am Klavier, hier an diesem Ort und ich stand unter einem Baum, während ich fasziniert seine Hände beobachtete, die sanft über die Tastatur glitten. Mit jeder Erinnerung schien es in meinem Gehirn zu knacken. Die Lieder wechselten, während ich Schritt für Schritt langsam weiter ging. Warme Tränen bahnten sich ihren Weg, obwohl ich nicht wusste, warum ich weinte.
Tosender Applaus holte mich ins Hier und Jetzt zurück. Irritiert sah ich mich um. Viele Menschen waren aufgestanden und ich folgte ihren Blicken. Tom saß nicht mehr am Klavier, sondern stand vor einem Mikrofon. Er lächelte schüchtern in die Menge, sein Blick wirkte weit weg.
„Für dich. Wo auch immer du sein magst.“
Gänsehaut erfasste mich, als ich seine melodische Stimme vernahm, die mir so vertraut wirkte, wie lange nichts mehr. Und dann begann er zu singen.
„Ich zeig dir nur die weiße Spitze.
Die gute Seite rein und klar.
Der ganze Dreck auf dem ich sitze
ist für dein Auge unsichtbar …“
Mit jeder Zeile zerbrach die Mauer in meinem Kopf. Die Erinnerungen in meinem Kopf explodierten förmig und ich fiel auf die Knie. Ich verbarg das Gesicht in meinen Händen, da mich die Informationsflut zu übermannen drohte.
Ich erinnerte mich an unseren gemeinsamen Urlaub und all die schönen Momente. Ich spürte die Qual, die mich damals umfing, als ich mir meine Gefühle für Tom nicht eingestehen wollte.
Und nun konnte ich mich auch wieder an den Grund des „Vorfalls“ entsinnen, der mich später in eine tiefe Dunkelheit führte. Mein Vater war betrunken. In seiner Hand hielt er das Foto von Tom und mir. Er wedelte damit vor meinem Gesicht und bevor ich überhaupt verarbeiten konnte, was da geschehen war, hatte ich seine erste Faust im Gesicht gespürt. Doch ich wollte das alles nicht mehr. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich Tom liebte, während er immer und immer wieder auf mich einschlug. Irgendwann, als ich schon am Boden lag, rief ich Tom im Geiste. Er sollte bei mir sein, mich beschützen, so, wie er es mir versprochen hatte.
Ich schluckte und der Schmerz in meinem Körper wurde immer größer. Es war ein Gefühl zu zerbrechen und Stück für Stück wieder erneut zu entstehen.
„Ich erinnere mich Tom.“
Flüsternd sagte ich diesen Satz immer und immer wieder.
„Ich erinnere mich …“
Und dann wurde es schwarz vor meinen Augen.
Das monotone Piepen und der strenge Geruch von Desinfektionsmittel waren das Erste, was ich wahrnahm. Erneut lag ich in einem Krankenhaus. Dazu musste ich noch nicht einmal die Augen öffnen, um das zu wissen. Mehrmals atmete ich tief durch, während mein Gehirn schon wieder auf Hochtouren arbeitete. All meine Erinnerungen waren wieder da. Es fühlte sich wunderbar und erschreckend zugleich an. Es war, als hatte ich in zwei verschiedenen Welten gelebt und doch ergab es nun ein Gesamtbild. Nun verstand ich den Film – in allen Sequenzen.
Mit flatternden Lidern öffnete ich meine Augen. Das Licht war so grell, dass ich im ersten Moment gar nichts sehen konnte. Jemand ergriff meine Hand und ich atmete tief durch. Langsam drehte ich meinen Kopf. Große Augen blickten mir entgegen, verunsichert und doch glücklich.
„Tom …“
Meine Stimme krächzte und ich sah, wie er mit sich kämpfte. Er stand neben meinem Bett und wirkte viel zu klein. Seine Schultern hingen nach unten und sein Rücken schien verkrümmt, als würde er die Last der ganzen Welt tragen.
„Max ich …“
Bevor er weiter sprechen konnte, zog ich ihn zu mir. Ich umarmte ich so fest, als wäre er der einzige Grund nicht zu fallen – und vielleicht war er das auch. Mein Gesicht an seine Schulter gedrückt, atmete ich tief ein.
„Ich erinnere mich. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich!“
Jedes Mal sagte ich es etwas lauter und ich spürte, wie Toms Körper zu zittern begann, während er herzerweichend schluchzte. Nun umarmte er mich auch und wir umfassten uns wie zwei Ertrinkende.
Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Position verharrten, bis wir uns irgendwann voreinander lösten. Wir betrachteten uns wie zwei ewige Bekannte und völlig Fremde. Sanft berührte er mein Gesicht, seine Hand zitterte und ich lehnte mich daran, während ich nicht fassen konnte, dass dies wirklich real war. So viele Jahre. So viele Jahre wusste ich nicht wohin, fühlte mich allein unter all den Menschen. Und jetzt, in diesem Augenblick war ich endlich dort, wo ich sein sollte. Bei dem Menschen, der zu mir gehörte, wie die Narben auf meinem Körper.
„Ich habe doch gesagt, dass ich nie vergessen werde, wie du für mich singst.“
Unsere Lippen berührten sich in einem vertrauten und völlig neuen Kuss. Ein Versprechen auf mehr und das Wissen, dass wir einander immer wieder finden würden.
Wir zwei, unter Millionen von Menschen. Unmöglich?
Never say never – Sag niemals nie!
ENDE