Es war ein Morgen ganz nach Salims Geschmack. Die Sonne, die gerade erst aufgegangen war, warf ihre goldenen Strahlen auf den Boden unter ihr und ließ den noch nicht vollständig getauten Schnee in ihrem Licht funkeln. Die Bäumen des Waldes streckten sich ihr regelrecht entgegen, flehten darum, endlich von der weißen Last befreit zu werden.
Es war eine anstrengende tote Zeit gewesen, oh ja. Es war schon schwer genug, nur für sich alleine zu sorgen, doch für das Überleben eines weiteren verletzten Luchses zu kämpfen war deutlich härter.
Der Kuder wusste, dass sie beide es nur mit Ach und Krach geschafft hatten, nicht zu verhungern und er freute sich umso mehr darüber, jetzt hier sitzen zu können. Hier, vor seiner geliebten Höhle und sich den Pelz wärmen zu lassen. Er hätte glücklich sein können und Salim zwang sich ein leichtes Lächeln auf die Schnauze.
Aber etwas lag in der Luft. Etwas, das er nicht hören und nicht sehen konnte und trotzdem war es da. Er warf einen Blick zurück in die Höhle, wo die schlafende Freya in seinem Moosbett ruhte. Er hatte sie gepflegt, die ganze Todeszeit lang. Sie war dem Tod so nahe gewesen und jetzt sah sie so gefährlich aus wie eh und je. Salim bewunderte sie dafür. Er wäre niemals in der Lage gewesen, solch eine Erscheinung aufzubringen und dabei war sie nicht einmal ein Kuder, sondern eine Katze!
Dann wandte sich Salim wieder den Bäumen vor ihm zu. Er sollte die Landschaft genießen, den Beutetieren zuhören und den Wind durch sein Fell streichen lassen, das wusste er. Aber da war diese Vorahnung, die sich nicht unterdrücken ließ.
„Salim?“ Die Stimme der Katze ließ den Kuder herumfahren. Er sah sie dort stehen, mit ihrem beinahe vollständig weißen Fell.
„Ja? Alles in Ordnung?“ Etwas besorgt runzelte er die Stirn, während Freya auf ihn zu kam.
Sie nickte leicht. „Ja, alles bestens. Aber ich habe ein Anliegen an dich.“ Da war es wieder. Das Klopfen seines Herzens, von dem er befürchtete, sie könnte es hören.
„Ich laste dir doch schon die ganze tote Zeit auf deinen Schultern und jetzt, wo der Schnee taut und es nicht so aussieht, dass neuer nachkommen wird… Ich würde gerne in mein Revier zurückkehren.“ Aus festen Augen blickte sie ihn an.
„Zurück? Aber… Aber du bist doch noch gar nicht wieder gesund!“, sprach Salim etwas überrascht aus. Vielleicht würde sie wieder krank werden? Angegriffen oder gar getötet? Was, wenn er dann nicht da war? Nicht, dass sie sich nicht selbst verteidigen konnte, aber es war ihm deutlich lieber, wenn er sie im Auge behielt.
„Du weißt, dass ich gesund bin. Und ich kann für mich alleine sorgen.“
Salim nickte nur leicht. „Ja, das weiß ich.“ Und dann sagte er das, was er bereits bereute, bevor er es ausgesprochen hatte: „Geh nur, Freya. Ich halte dich nicht auf.“ Sie war erwachsen. Die kräftigste Katze, die er je gesehen hatte. Sie kam alleine zurecht. Zumindest versuchte er sich das einzureden.
Die Katze betrachtete ihn mit blitzenden Augen, bevor sie leicht lächelte. „Na dann. Wir sehen uns.“ Sie trat aus der Höhle und nickte ihm zum Abschied zu. „Wenn du mich brauchst, du weißt ja, wo du mich finden kannst.“ Und damit drehte sie sich um, setzte ihre Pfoten in Bewegung und verschwand in den Tiefen des Waldes.
Salim blickte ihr stumm hinterher. Er konnte sie nicht aufhalten, nein, dafür war sie viel zu entschlossen darauf, in ihr Revier zurückzukehren.
Und plötzlich spürte der Kuder wieder, wie alleine er war. Alle seine Liebsten hatten ihn verlassen und nie hatte er sie aufhalten können. Und jetzt war auch Freya von ihm gegangen. Nicht tot, nicht außer Reichweite, aber doch so unnahbar, wie sie es jemals zu anderen Zeiten gewesen war.
Salim wollte sie nicht verlieren, doch er hatte nicht zu entscheiden, wo sie blieb.