Von allen Leuten, die mir hätten begegnen können, war Lilly das Worst-Case-Szenario.
Der Fall Out.
Das Lilly-Gate.
Während ich mich unter ihrem scharfen Blick wand, suchte ich jeden Winkel meines Gehirns nach einer Erklärung ab, doch ich fand einfach keine. Das Video bei YouTube hatte mich so nachhaltig abgeschreckt und irgendwie gleichermaßen beeindruckt, dass ich keine Lösung fand.
„Ähm..."
Ich stand noch immer mit dem Rücken zu ihr, konnte also einfach ohne Worte die Toilette verlassen und dann das Café und dann die Stadt...
Was für ein Schwachsinn! Ich war nicht besonders schnell, noch dazu hatte ich eine Neigung dazu umzuknicken und überhaupt wäre dieses Verhalten kontraproduktiv, denn gerade Lilly – mit der ich zwar mittlerweile ganz gut zurechtkam, die mich aber noch immer verdächtigte – wäre die erste, die sofort wieder denken würde, dass ich hinter all dem stecken würde.
Und das würden die anderen dann auch.
Und damit wäre es eine Sache von Stunden, bis die Polizei in meinem kleinen Ferienzimmer stehen würde.
Fuck.
Es gab einfach keine andere Option, als das kleinstmögliche Übel zu wählen.
Ich drehte mich um und versuchte ertappt, aber freundlich auszusehen.
„Haha, erwischt", ich kicherte dämlich und kratzte mich am Kopf. Lilly stand da wie eine Statue, stumm und ohne jegliche Bewegung. Vielleicht hatte sie einen Schock.
Ich ging einen Schritt auf sie zu, als sie zusammenzuckte.
„Whoa", murmelte sie und ihre Hand griff nach der Ablagefläche neben den Waschbecken, „Eigentlich dachte ich, dass ich wieder paranoid bin. Aber du bist es wirklich, oder? Ellie?"
„Ja... irgendwie schon, denke ich. Hey Lilly."
Sie zog eine Augenbraue nach oben und schürzte die Lippen.
„Was machst du hier? Und warum wissen wir nicht, dass du hier bist? Wie lange bist du schon in Duskwood?"
Bevor ich auch nur Luft zum Antworten holen konnte, öffnete sich die Bad-Tür erneut und Jessy kam herein. Ihr Gesicht war immer noch rot vom Weinen.
„Hey, Lilly", sie wischte sich mit einem Papiertaschentuch über die nassgeweinten Wangen, „Ist alles okay bei dir? Was machst du so lange hier drin?"
Sie hatte mich nicht wirklich wahrgenommen, doch es würde nicht lange dauern, bis Lilly ihr sagen würde, wer neben ihr stand.
Noch vor ein paar Stunden hatte ich mich so sicher gefühlt und dann reichte ein Blick von Lilly und meine ganze Scharade fiel ins Wasser.
Super. Geheimagent konnte ich damit schon mal von meiner Berufswunschliste streichen.
Als ich ängstlich zu Lilly blinzelte, hatte sich deren Gesichtsausdruck aber komplett geändert. Sie sah Jessy mit dem zuckersüßesten Lächeln an, das ich je gesehen hatte und antwortete: „Ich vertrage Espresso einfach nicht so gut, vergesse das aber jedes Mal und dann findet man mich den Rest des Abends auf dem Klo."
„Oh", erwiderte Jessy auf diese doch sehr intime Information und verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sagen in einer der Toiletten-Kabinen.
Mit dem klicken des Schlosses, wurde Lillys Gesicht wieder zu Stein.
„Du bist mir eine Erklärung schuldig", es war nichts als ein leises Zischen. Ich nickte widerwillig.
„Morgen früh um neun bist du am Motel, ich muss da noch ein paar Sachen holen und dann reden wir, verstanden?"
Ich nickte erneut und schob mich dann niedergeschlagen aus der Tür, um mich wieder auf meinen – nun nicht mehr ganz so geheimen – Geheimposten zu begeben.
Auch Lilly hatte sich einige Sekunden später wieder an den Tisch zu den anderen und würdigte mich keines Blickes. Wahrscheinlich hätte sie das Ausspionieren wesentlich besser hinbekommen als ich.
Lilly: Sorry, war kurz auf Toilette, was habe ich verpasst?
Dan: Nichts weiter. Nur Thomas, der uns sein Leid geklagt hat und dass er das alles nicht mehr aushalten würde und sowas halt.
Cleo: Bleib bitte fair, Dan. Hannah ist schon sehr lange weg. Ist doch klar, dass das ihn fertig macht.
Dan: Ja klar, aber denkst du es geht uns nicht allen so? Ich bin hier in dieser Mist-Bude und kann NICHTS machen! Wisst ihr, wie sich das anfühlt, alles nur wie ein Zuschauer zu sehen?
Ellie: Geht mir ähnlich, Dan, aber anders geht es leider nicht.
Jake: Ist alles okay bei dir Lilly?
Lilly: Klar warum?
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was hier möglicherweise geschehen war. Als ich auf Lilly getroffen war, hatte sie mir geschrieben. Sie hatte mir geschrieben, dass sie wisse, dass ich es bin...
Jake: Einfach so. Ist jetzt nicht so wichtig.
Dan: Oho, Ellie! Dein Hackerboy scheint ja mächtig seine Fühler auszustrecken...
Nein, das war es nicht und die Wahrheit lief mir eiskalt den Rücken herunter.
Dan: Erst Ellie, jetzt Lilly ... wer wird wohl die nächste Glückliche sein, die du in deinen Bann ziehst? Ich wette auf Cleo, Jakey-Boy.
Doch anstatt zu antworten, ging er einfach offline. Er war einfach weg, ohne Reaktion, ohne Antwort.
Er wusste es.
Er wusste, dass ich hier war, weil er den Chat zwischen mir und Lilly gesehen hatte.
Da war es also, das verdammte Lilly-Gate.
Diese ganze Geheimniskrämerei hatte ich nur seinetwegen gemacht, hatte versprochen, niemals nach Duskwood zu kommen und jetzt hatte ich dagegen verstoßen.
Und bin innerhalb von zwei Tagen aufgeflogen.
Fuck... das war nicht gut.
Thomas: Was sollte das denn?
Dan: Das war doch nur ein Witz. Ist Romeo jetzt beleidigt?
Cleo: Halt doch einfach mal die Klappe, Dan. Dieses Provozieren muss jetzt echt nicht sein.
Genervt und wütend auf mich selbst stopfte ich kleine Happen Schokoladenkuchen in mich hinein. Meine Augen brannten. Ich traute mich nicht mal ihn anzuschreiben. Als ich aufsah, trafen meine Augen auf Lillys Blick und ich konnte sehen, dass sie genau dasselbe dachte, wie ich.
Scheiße.
Mir fiel rein gar nichts ein, wie ich das wieder geradebiegen sollte.
Der Rest des Gespräches im Kaffee Regenbogen lief einigermaßen unspektakulär ab. Jessy würde am nächsten Tag – begleitet von Thomas – nochmal zu Rogers Garage gehen, um mit ihm zu sprechen und weil Lilly noch ein paar Sachen von ihrer alten Arbeitsstelle holen musste, würde sie morgen zur Pension gehen. Cleo zog es vor bei ihrer Mutter zu bleiben, die seit den Drohnachrichten und Richys Verschwinden große Angst hatte.
Es war draußen schon dunkel geworden, als sich alle verabschiedet hatten und Lilly winkte mir unauffällig zu als sie als Letzte das Lokal verließ.
Erst als die Tür ins Schloss fiel, verschwand die Anspannung aus meinem Körper und ich sackte förmlich in mich zusammen, während ich mein Gesicht in meine Hände vergrub.
Das war ja gewaltig schief gegangen.
Nicht nur hatte ich mich vor Lilly enttarnt, sondern höchstwahrscheinlich auch vor Jake und obwohl ich wusste, dass er sicher auch Dinge hatte, die er vor mir verheimlichte, drückte sich ein Schuldgefühl in mein Herz, dass es kaum zuließ zu atmen.
Er vertraute mir und ich hatte das ausgenutzt. Gut möglich, dass ich mittlerweile mindestens zehn Plätze auf seiner Verdächtigen Liste nach oben gewandert war.
Die Kellnerin, eine kleine füllige Frau, schob sich in mein Blickfeld und lächelte aufmunternd, während sie mir eine Tasse hinhielt.
„Hier", mit einem leisen Klacken landete das Porzellangefäß vor mir.
„Was ist das?"
„Kakao", antwortete sie freundlich und erinnerte mich so sehr an meine Mutter, dass es fast wehtat, „Niemand sollte mit so einer Schlecht-Wetter-Mine im Kaffee Regenbogen sitzen", ihre Hand berührte kurz meine Schulter, „egal was es ist, Liebes, das wird schon wieder."
Ich bedankte mich bei ihr und nahm einen großen Schluck des warmen Getränks, während die Sahnekrone meine Lippen kitzelte. Der vollmundige Schokoladengeschmack zauberte ein wenig von den Sorgen davon, wenn auch nur für einen kleinen Moment.
Seufzend stellte ich den Becher beiseite und zog mein Handy hervor. Ich musste ihm einfach schreiben. Ich konnte nicht anders.
Ellie: Ich weiß, dass du es weißt und es tut mir leid.
Sobald ich die Nachricht abgeschickt hatte, änderte sich sein Status und er war online. Ich zuckte zusammen. Irgendwie hatte ich gehofft, ich könnte ihm schnell eine Entschuldigung schreiben, ohne eine direkte Reaktion zu bekommen und mich dann für immer unter irgendeiner Decke zu verstecken.
Doch er hatte meine Nachricht nur gelesen.
Keine Antwort.
Mist.
Ellie: Es tut mir wirklich leid. Aber du hast auch schon versprechen gebrochen, erinnerst du dich? Dann sind wir doch jetzt quitt, oder? Ich hatte dir ja auch verziehen.
Wieder keine Antwort. Kein Wunder, das was ich geschrieben hatte, war auch dumm gewesen.
Ellie: Jake? Du kannst nicht für immer böse auf mich sein. Bitte. Es tut mir wirklich leid.
Jake: Nicht für immer.
Mein Herz begann zu klopfen.
Jake: Aber Zeit brauche ich trotzdem dafür. Ich...
Jake: Ich bin so unfassbar wütend, Ellie...
Jake: Ich hatte es bereits geahnt, als du deinen Standort ausgemacht hattest, hatte aber gehofft, dass du einen kühlen Kopf bewahren kannst. Ich habe mich getäuscht in dir.
Das hatte gesessen.
Ellie: Was soll ich denn machen, Jake? Sie sind meine Freunde. Ich kann nicht dabei zusehen, wie einer nach den anderen verschwindet, während ich zur selben Zeit zu Hause auf dem Sofa sitze. Ich kann das nicht. Verstehst du das nicht? Sie sind mir einfach zu wichtig geworden.
Jake: Und du bist mir wichtig geworden, Ellie. Deswegen bin ich wütend. Weil du in Gefahr bist – du ahnst gar nicht, wie sehr... ich...
Ellie: Gibt es etwas, was du mir verschweigst, Jake?
Jake: Pass bitte einfach auf dich auf, ja?
Ich hatte keine Möglichkeit ihm zu antworten, denn er war sofort offline gegangen. Mit zitternden Händen ließ ich das Smartphone fallen und bezahlte, ehe ich das Lokal verließ.
Mir war schwindelig auf dem Heimweg, welcher, weil ich nur die beleuchteten Hauptstraßen entlanglief, drei Mal so lange dauerte, wie der Hinweg.
Wahrscheinlich war es wirklich ein Fehler gewesen, nach Duskwood zu kommen.
Wahrscheinlich wusste ich wirklich nicht alles.
Aber niemand hier kannte mein Gesicht – mit Ausnahme von Lilly natürlich. Auch der Mann ohne Gesicht kannte es nicht, also war die Gefahr, ihm in die Arme zu laufen verschwindend gering, solange ich weitestgehend anonym blieb.
Denn außer meiner Nummer hatte ich ja nichts mit Hannahs Verschwinden zu tun, richtig?
Doch woher hatte sie denn eigentlich meine Nummer?
Wahllos irgendwelche Tasten zu drücken, schien mir einfach zu willkürlich. Ebenso ergaben die Ziffern meiner Telefonnummer auch unter Anwendung verschiedenster Codes keinerlei sinnvolle Bedeutung. Ich hatte nie einen Sinn hinter dieser Situation gefunden und vergaß auch erschreckend oft, dass schon allein die Tatsache, dass ich in diese ganze Geschichte verwickelt sein sollte – eine völlig Fremde, welche Duskwood nicht kannte, geschweige denn irgendeinen der Leute, mit denen ich schrieb – erschien mir schal.
Und je mehr ich darüber nachdachte, warum Hannah meine Telefonnummer verschickt hatte, desto mehr bekam ich Angst, weil diese Ungewissheit, dieses schwarze Loch, immer größer zu werden schien.
Als ich viel später endlich in meinem dicken Daunenbett lag, was für die Temperaturen viel zu warm gewesen war, galt mein letzter Gedanke – wie so oft in letzter Zeit – Jake. Ich hatte das Gefühl durch meine Handlungen alles zerstört zu haben. Nicht nur er selbst war meilenweit von mir entfernt, nein viel mehr fühlte es sich so an, als hätte ich ihn von mir gestoßen und könnte ihn nun nicht mehr sehen.
Und während Herr Müller leise schnarchte, bahnten sich die Tränen, welche ich den ganzen Heimweg zurückgehalten hatte, langsam den Weg über mein Gesicht.
*
Am nächsten Tag stand die Sonne bereits morgens sehr hoch, als ich meinen Weg zum Motel antrat. Es war nur einen kleinen Fußweg entfernt und dennoch war ich bereits nach der Hälfte der Strecke komplett durchgeschwitzt. Mein armer Hund hechelte laut neben mir, während ich mir meine widerwilligen Haare in einen Dutt zusammenstopfte, bevor es weiter ging. Einige Minuten später stand ich vor der kleinen Pension und gönnte mir und Herrn Müller einen Schluck kühles Wasser. Das Motel lag am westlichen Ende der kleinen Stadt und wirkte neben all den Fachwerkhäusern und verzierten Gebäuden seltsam deplatziert. Das flache, großflächige Gebäude wirkte wie aus einem amerikanischen Road-Trip-Film herauskopiert und unschön ins historische Stadtbild gesetzt. Die offene Tür zur Rezeption knallte fortwährend leise gegen den Rahmen, was wohl der leichten Morgenbrise geschuldet war und von Lilly war weit und breit nichts zu sehen. Seufzend setzte ich mich auf die Bordsteinkante gegenüber des Motels und setzte meine Sonnenbrille auf. Die letzte Nacht hatte viel Kummer und wenig Schlaf gebracht, sodass ich jetzt beinahe im Stehen einschlafen könnte.
Wenn man der Straße weiter nach Westen folgen würde, würde man irgendwann direkt zum Wald kommen, zum Schwarzwassersee und zur Mutproben-Hütte.
„Hexe!"
Ich zuckte zusammen, als eine sehr laute, sehr raue Stimme hinter mir erklang und sprang auf. Ein groß gewachsener Mann kam schnellen Schrittes auf mich zu. Sein Finger direkt auf mich gerichtet. Herr Müller – ebenso aus dem Konzept gebracht wie ich – begann sofort bedrohlich zu knurren. Das schien den Typen aber kaum zu beeindrucken.
„Hexe, Hexe!", er stolperte ein paar weitere Schritte und mein Hund begann zu bellen. Schnell wickelte ich die Leine um mein Handgelenk, um ihn in Zaun halten zu können. Dieser beruhigte sich nur schwer angesichts der Tatsache, dass der Mann immer noch im Sturmschritt auf uns zugelaufen kam.
„Hexe!"
„Stopp!"
Ich hatte Lilly nicht aus dem Motel laufen sehen und als sie plötzlich vor mir stand war ich ebenso erschrocken, wie mein Gegenüber.
„Lass das Alfie, du erschreckst Ellie doch damit!"
Der Mann – Alfie – der bei näherer Betrachtung eher ein sehr groß geratener Teenager war, blieb auf Lillys Geheiß sofort betreten stehen.
„Aber... Hexe...", murmelte er leise.
Verwundert drehte Lilly sich dann zu mir um und begann sofort zu grinsen.
„Das sind nur rote Haare, Alfie. Sie ist keine Hexe."
Er nickte eifrig und ich begann mich langsam zu beruhigen. Um nicht vor Schwindel umzufallen, setzte ich mich zurück auf meinen ursprünglichen Platz.
Hexe. Haha. Schon in der Grundschule wurde ich manchmal so genannt.
„Ich bin keine Hexe", murmelte ich Alfie zu, welcher sie interessiert vor mich hockte.
„Da wäre ich mir nicht so sicher", kicherte Lilly und lief zurück zum Motel, „ich bin gleich da."
„Das sind einfach nur rote Haare, weißt du? Viele Leute haben so eine Haarfarbe."
Ein schnelles Kopfschütteln war seine Antwort.
„Ja hier vielleicht nicht, aber Duskwood ist eine kleine Stadt."
Während ich mich eine Weile mit ihm unterhielt, kam mir eine Idee.
„Du hattest dich doch letztens mit meiner Freundin Cleo unterhalten, oder?"
Alfie nickte und hockte sich ein wenig zu nah zu mir.
„Die Freundin des toten Mädchens", erneutes Nicken, dabei schaute er weniger mich als Herrn Müller an.
„Darf ich den mal streicheln?"
„Lieber nicht", vorsichtshalber packte ich meinen Hund direkt am Halsband, da Alfie ihm nicht geheuer zu sein schien, „Wenn er Angst hat, beißt der manchmal."
Schnell zog Alfie seine Hand zurück.
„Ich hatte mal einen Vogel, der hat auch immer gebissen..."
Ich nickte, wohlwissend wie die Geschichte mit dem Vogel geendet hatte.
„Die tote Freundin, von der du erzählt hast", versuchte ich es erneut, „welche Haarfarbe hatte die denn?"
Einen Moment lang sah er mich fragend an, dann schaute er wieder zu Herrn Müller.
„Ich würde ihn gerne streicheln."
„Alfie!"
„Ja?", kleinlaut und erschrocken, blickte er mir direkt in die Augen. Jetzt tat es mir schon wieder ein wenig leid, dass ich ihn so angefahren hatte.
„Ich habe ja zum Beispiel rote Haare..."
„Wie eine Hexe."
„Wie eine Hexe, richtig", ich unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen, „Cleo hat braune Haare und Lilly", ich deutete auf das Motel, „ist blond. Kannst du dich noch daran erinnern, welche Haarfarbe das tote Mädchen hatte. Das, was der Mann ohne Gesicht geholt hat?"
Einen Moment lang schien er zu schaudern und ganz tief in seiner Erinnerung versunken sein, dann sprach er die Worte aus, die ich schon seit einer Weile vermutet hatte.
„Sie waren ganz hell, fast weiß, also so wie die von Lilly", die Sätze schossen so schnell aus ihm heraus, dass er kaum Luft holen konnte, „Er hat mich aber nicht gesehen. Und das blonde Mädchen hat er getragen, so wie ein Baby manchmal. Und erst dachte ich, die schläft nur, aber ihr Kopf hat so sehr geschaukelt."
Er versuchte es zu imitieren, gab er schnell wieder auf.
„Und dann kam es später im Fernseher, dass das Mädchen weg ist. Und da wusste ich, dass die nicht geschlafen hat, das hab ich Mama auch gesagt, aber die glaubt mir ja nicht, weil nie glaubt die mir irgendwas."
„Das tut mir leid", antwortete ich ehrlich, „danke, dass du mir das verraten hast, Alfie. Und wenn du vorsichtig bist, kannst du auch Herrn Müller streicheln."
Nachdem wir noch eine Weile vor dem Motel gewartet hatten, war Lilly gekommen und wir hatten uns von Alfie verabschiedet. Die ersten Minuten liefen wir schweigend nebeneinanderher, doch als ich bemerkte, in welche Richtung wir gehen, fand ich meine Stimme wieder.
„Du willst in den Wald?"
„Mach dich nicht lächerlich", grinsend schüttelte Lilly den Kopf, „wir gehen an den See. Das Wetter ist super und dort werden wir niemandem begegnen. Der Schwarzwassersee ist so riesig, dass man niemals gefunden werden würde, wenn man es nicht will."
„Aha", entgegnete ich, weil mir nichts anderes einfiel.
„Ich muss sagen, dass ich zuerst dachte, dass du uns komplett verarscht hast", begann Lilly, während sie nervös an ihrem Sonnenhut zurecht fummelte, „Ich dachte, du wärst die ganze Zeit hier gewesen und dass ich doch richtig lag am Anfang und du mich einfach nur um deinen Finger gewickelt hast, mit deiner weltverbesserischen Art."
Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich zu mir.
„Aber als ich dich dann gesehen habe, wie du gestern reagiert hast, nach der Sache mit Jake...", bestürzt sah ich auf den Boden, „das kann man nicht schauspielern und ich muss auch sagen, wenn ich dich jetzt so vor mir sehe, kann ich dich einfach viel besser einschätzen. Du könntest nicht mal einer Fliege was zu Leide tun."
„Na danke"
Lilly lachte. „So war das doch gar nicht gemeint. Du wirkst nur einfach sehr aufrichtig, das ist etwas, was ich allein übers Schreiben nicht so empfunden habe. Ich kann Gefühle und Emotionen über Text schlecht deuten."
„Wie bei Jake", fiel es mir sofort wieder ein, „er hatte mir genau dasselbe gesagt."
Bei dem Gedanken an diese Konversation wurde mein Herz ganz schwer. All das fühlte sich an, als wäre es meilenweit entfernt.
„Er wird sich schon wieder einkriegen", beschwichtigte sie, als sie meinen Stimmungswechsel bemerkt hatte, „Ich habe mich schließlich auch eingekriegt und ich bin bei weitem der schlimmere Brocken."
„Das stimmt."
„Hey!"
Wir unterhielten uns noch eine Weile, ehe wir am Schwarzwassersee ankamen. Das Gewässer war riesig und dicht umwachsen mit Bäumen und Büschen. Ab und an gab es freie Stellen direkt am Wasser, die – da Dienstag war – aber um die Uhrzeit alle frei waren.
Lilly deutete auf einen sehr versteckten kleinen platt getretenen Platz zwischen hohem Schilf.
„Da findet uns niemand so schnell"
Als wir uns unseren Weg durch die Büsche gebahnt hatten, öffnete sich direkt vor uns der See. Eingeschlossen zwischen dem Schilf, den Gräsern und dem Wasser vor uns fühlte sich dieser Ort wie ein kleiner schützender Platz nur für uns an.
„Das ist echt wunderschön hier", murmelte ich mehr zu mir selbst. Lilly breitete eine kleine mitgebrachte Decke für uns aus und Herr Müller zögerte nicht lange und stürmte voller Freude ins kühle Nass.
„Hannah und ihre Freunde waren hier früher oft und haben gespielt", als Lilly von ihrer Schwester sprach, flog ihr Blick ziellos übers Wasser, „als sie größer waren, hatten sie mich manchmal mitgenommen. Sie hatten mir immer von den großartigen Sommerferien erzählt, die sie hier verbracht haben. Ich vermisse sie so, Ellie", kurz, kaum bemerkbar wischte sie sich über die Augen, „Wir waren uns nie ähnlich, weißt du? Sie war immer die große, schlaue, ruhige Hannah. Ich hingegen, laut und vorschnell und emotional. Sie war reserviert und ich impulsiv, wenn wir keine Geschwister wären, wären wir keine Freunde, weißt du? Aber das ist eigentlich egal, denn ich vermisse sie jeden Tag und das, obwohl wir uns manchmal nur einmal im Monat gesehen haben. Aber jetzt, wo sie nicht mehr da ist, weiß ich, dass sie mir trotz allem so unfassbar wichtig ist."
Einen Moment lang blieb ich still.
Ich konnte nichts sagen, was die Situation hätte besser machen können. Ich hatte Lilly zu Beginn falsch eingeschätzt und das lediglich aufgrund der Tatsache, dass sie Jake und mich für die Entführer hielt und während ich sie beobachtete, wie sie aufs Wasser sah und immer wieder mit den Tränen kämpfte, fragte ich mich, wie ich mich in so einer Situation verhalten hätte.
Was passiert wäre, wenn es mein Bruder gewesen wäre, der plötzlich verschwand.
Ich legte meine Hand auf ihre, um sie so ein wenig trösten zu können.
Nach einer Weile dann begann ich ihr alles zu erzählen, von der Situation, als ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte, wie ich die Tickets gebucht hatte, von meiner Begegnung mit Richies Vater und dem Gespräch in Rogers Garage und schließlich auch von dem, was ich bei Alfie herausgefunden hatte.
„Er hat also Amy gesehen und nicht Hannah", man konnte fast hören, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Ich nickte.
„Er hat gesagt, so blond wie Lilly."
„Hannahs Haare sind dunkelblond, fast braun, also kann sie es nicht gewesen sein, oder?"
„Ich denke nicht, denn auch wenn Alfie vielleicht nicht die sicherste Quelle ist, denke ich, dass er damit nicht daneben liegen kann."
Wir diskutierten weiter, auch darüber, dass wir beide eine Weile gedacht hatten, dass Alfie und sein Vater hinter der ganzen Sache stecken könnten.
„Alfie war der erste, der den Verdacht auf den Mann ohne Gesicht gelenkt hatte, richtig?"
Lilly nickte.
„Und erst danach trat der Mann ohne Gesicht auch in den Videoanrufen als solcher auf. Es kann also durchaus sein, dass Alfie das Gesagt und sein Vater das Ganze aufgegriffen hat."
„Es könnte aber auch jeder andere aus unserer Gruppe aufgeschnappt haben, in dem Moment, als wir darüber gesprochen haben."
Lilly schnippte einen Stein übers Wasser, welcher fünf Mal über die Oberfläche sprang, ich versuchte es ihr nachzumachen, doch meiner ging sofort unter.
„Da ist nur eine Sache, die nicht dazu passt", warf ich nach einer kurzen Pause ein.
„Und die wäre?"
„Hannahs Cloud. Die Zeichen des Raben hat sie schon viel früher abgespeichert, als wir darüber gesprochen hatten."
„Stimmt", überlegte Lilly weiter, „außerdem... ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Alfie und Gray hinter der Sache stecken."
Interessiert sah ich zu ihr, während sie nachdenklich auf ihrer Unterlippe herumkaute.
„Wenn wir der Sage Bedeutung zukommen lassen sollten, was wir definitiv sollten, nach den ganzen Hinweisen, müsste Hannah ja an irgendeinem Punkt Alfie gemobbt haben und das stimmt einfach nicht. Sie hatte schon immer ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl gehabt und würde einfach niemals einem..."
Ihre Worte versagten, doch ich verstand sie auch so.
„Schon gut, Lilly. Ich weiß was du meinst. Außerdem macht so die Geschichte um Jennifer Hanson keinen Sinn. Ich denke wir können mit Sicherheit Alfie und seinen Vater ausschließen."
Nach diesem Gespräch meldeten sich Jessy und Thomas mit einem Videoanruf und berichteten davon, dass Richies Mutter tatsächlich den Schlaganfall am selben Tag hatte, an dem auch Jennifer Hanson verschwunden war.
Lilly: Dem Pinegladefest.
Jessy: Ja. Er meinte irgendwas davon, dass Richy wohl weggelaufen sei und sie ihm wohl hinterhergelaufen ist. Leider war es nicht einfach mit ihm zu sprechen.
Thomas: Weil er komplett betrunken war.
Jessy: Ja, aber er hat immer wieder betont, dass das am selben Tag war und er nicht weiß, was genau vorgefallen war.
Thomas: Nur, dass Richy daran Schuld hat.
Cleo: Armer Richy. Es ist unfassbar, wie empathielos sein Vater ist.
Dan: Er hat seine Frau verloren und scheint auch sonst einige Probleme aufm Buckel zu haben. Also irgendwie kann man das schon verstehen.
Ellie: Aber seinen eigenen Sohn jahrelang deswegen verurteilen. Das ist nicht fair. Er war ein Kind.
Jake: Jedenfalls wissen wir jetzt, dass an dem mysteriösen Ereignis Richy beteiligt war. Das erklärt auch, warum er überfallen wurde und verschwunden ist. Zu schlussfolgern, dass sowohl auch Hannah und Amy ebenso an diesem Ereignis teilhatten liegt nahe, findet ihr nicht?
Dan: Jo, macht auf jeden Fall Sinn.
Ellie: Wir werden nicht umhinkommen, zu versuchen mit Richies Mutter zu reden, oder was meint ihr?
Jessy: Ellie, es ist schlichtweg unmöglich mit ihr zu sprechen. Roger lässt niemanden an sie heran.
Cleo: Das stimmt nicht.
Cleo: Roger bringt sie regelmäßig zu den Bastelnachmittagen in der Pforte der Hoffnung und holt sie dann wieder ab.
Cleo: Das heißt, ich hätte ein Zeitfenster von circa zwei Stunden, in denen ich sie befragen kann.
Jake: Das ist perfekt, Cleo. Wann findet der Bastelnachmittag das nächste Mal statt?
Cleo: Übermorgen um drei Uhr nachmittags.
Wir vereinbarten, dass Cleo das Gespräch übernehmen würde und verabschiedeten uns danach schnell. Jake ging sehr schnell offline und ich hatte nicht das Gefühl, dass es eine gute Idee sein würde, ihn privat anzuschreiben.
„Wie machen wir jetzt weiter?", unterbrach Lilly meine Gedanken.
Überlegend stieß ich Luft durch meine Lippen aus.
„Wir können die Verdächtigungen rund ums Motel streichen und haben viele Anhaltspunkte bei Rogers Garage gefunden... vermutlich sollten wir dort weiter machen, aber..."
„Du willst zunächst noch einen anderen Verdächtigen überprüfen, richtig?"
Ich nickte und erzählte ihr, dass es unerlässlich sei mit Phil zu reden. Schließlich war er im Gefängnis und hatte sicher auch einige Informationen über das Armband und Hannah, die er bisher noch nicht preisgegeben hatte.
„Dan wird morgen entlassen und ich werde ihn aus dem Krankenhaus abholen. Er hat mich auch gefragt, ob ich ihm zum Anwalt begleiten könnte, weil er das allein nicht hinbekommt... du weißt ja, wie er ist."
Nervös stich sie sich durch die blonden Haare und lächelte leise.
„Kann es sein, dass du..."
„Ja, Ellie", unterbrach Lilly mich nachdrücklich, „aber er hat nur Augen für Jessy. Wahrscheinlich kennen wir uns zu lang und er sieht mich eher als kleine Schwester und naja... Man nimmt, was man kriegen kann, oder?"
Man konnte deutlich sehen, wie nahe ihr das Thema ging, doch ebenso, dass sie darauf nicht weiter angesprochen werden wollte.
Nach einer Weile hielten wir die Hitze nicht mehr aus und beschlossen die Gunst der Stunde zu nutzen und ins Wasser zu springen. Für einen kurzen Moment fühlte sich alles komplett normal an, so als wären wir zwei Freundinnen, die sich einen Tag freigenommen und zum Schwimmen verabredet hatten. Lilly war ganz anders, als ich zunächst gedacht hatte und jetzt, wo ich mich mit ihr ausgesprochen hatte, hatte ich das Gefühl, dass wir von vorne anfangen könnten.
Erst als sich die Sonne langsam immer tiefer senkte, bemerkten wir, wie viel Zeit vergangen war. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag und packten dann unsere Sachen zusammen. Ein wenig wehmütig ließ ich meinen Blick ein letztes Mal über den See schweifen, der die Farben der Dämmerung in rosa und lila spiegelte. „Hier muss ich wirklich wieder mal herkommen."
Lilly lächelte mir nickend zu und während ich Herrn Müller anleinte, fiel mir etwas auf, was ich vorher nicht beachtet hatte.
Es war schon leicht zugewachsen und dennoch sichtbar, wenn man genau hinsah.
Buchstaben in die Rinde des Baumes geritzt, ungelenk, aber deutlich:
H + A + R + E
Nachdem ich meinen Hund in das kleine Appartement geschafft hatte, fiel mir auf, was für einen wahnsinnigen Hunger ich hatte.
Mittlerweile hatten sich die Temperaturen etwas abgekühlt, so dass ich – etwas müde vom Tag am Wasser – leichtfüßig durch die Straßen Duskwoods schlenderte und nach einem Imbiss, oder einem Restaurant Ausschau hielt. Ich lief vorbei an der geschlossen Bar Aurora, direkt auf den Marktplatz, wo sich einige sehr touristische und sehr teure Restaurants versammelten und schlug von da aus meinen Weg in eine kleine Seitenstraße ein, bis ich das Schild eines asiatischen Restaurants entdeckte.
Einen Moment lang dachte ich an das Gespräch, welches ich mit Jake geführt hatte und mein Herz machte einen wohligen Sprung, aber kurz darauf war das Gefühl auch schon wieder verschwunden und Traurigkeit machte sich breit.
Um mein Glück herauszufordern, drehte ich mich genau zum gegenüberliegenden Haus, doch das war das Kino. Innerlich schimpfte ich mich kindisch dafür, dass ich tatsächlich gehofft hatte, dass Jake hier war.
Mein knurrender Magen trieb mich schließlich ins Restaurant. Ich stellte mich an der kleinen Theke, an der man bestellen konnte, an und bestellte mir Kung-Bao und als Vorspeise Frühlingsrollen. Bewaffnet mit einer Cola in der Hand, drehte ich mich um, um nach einem freien Tisch zu schauen.
Nach dem ersten Schritt stolperte ich über meine offenen Schnürsenkel und während ich die Cola schon im Gesicht der älteren Dame sah, die gerade vor mir gebratene Nudeln aß, wurde ich an beiden Armen gepackt und aufgefangen.
Die ganze Aktion war mir so unfassbar peinlich, dass ich hochrot den Boden anstarrte und um Entschuldigung bat.
Der Handgriff an meinen Schulterblättern lockerte sich, bis er schließlich ganz verschwand.
„Kein Problem", war die Antwort, die eindeutig von einem Mann kam.
Seine Stimme war rau und dunkel und trotzdem warm und freundlich. Ich hätte ihn gerne angesehen, um mich anständig zu bedanken, doch ich schämte mich so sehr, dass ich mit hochrotem Kopf zu einem der Tische lief und dort sehr intensiv meine Essstäbchen betrachtete, während ich inständig hoffte, dass sich der Boden öffnen und mich verschlingen würde.
Ich nahm einen Schluck von meiner Cola und starrte weiter nach unten, als sich Schuhe in mein Blickfeld schoben.
Sie waren schwarz.
„Entschuldige, bist du Ellie?"