Der Tag, an dem das Pineglade-Fest stattfand, war ungewöhnlich warm. Es war einer der letzten, richtig warmen Tage des Sommers und jeder, wirklich jeder, war den ganzen Tag über mit den Vorbereitungen beschäftigt. Die Läden und Cafés hatten kleine Holzstände aufgebaut und die ganze Stadt war geschmückt mit Lichterketten in Form von Tannenzapfen.
„Das ist eine uralte Tradition, Ellie“, erklärte Jessy, die sich neben mir gerade die Haare glättete, „Duskwood liegt in einem der größten Wälder dieses Landes und früher, als hier fast nur Holzarbeiter lebten, haben sie zu Beginn des Herbstes die Tannenzapfen von den Bäumen gesammelt und sie für den Winter zum Verheizen benutzt.“
Mit geübten Griffen zog sie die Strähnen ihrer roten Haare durch das Glätteisen und lächelte mir durch den Spiegel zu.
„Als Pfand und um die Waldgeister nicht wegen ihres Diebstahls zu verärgern, haben sie einen Teil der Zapfen auf einem großen Platz zusammengetragen und diese dort verbrannt.“
„Wow.“
Was für ein alberner Brauch. Etwas Klauen und dann die Hälfte davon verbrennen, damit es keinen Ärger gibt? Der Mann ohne Gesicht war definitiv nicht der Einzige, der einen fragwürdigen Sinn für Gerechtigkeit hatte.
Jessy lachte und schaltete das Gerät aus, betrachtete sich im Spiegel und kniff sich danach unzufrieden in die Wangen. „Ich sehe immer so blass aus!“
„Blödsinn“, murmelte ich und betrachtete mein eigenes Spiegelbild. Ich hatte mir für heute nicht so viel Mühe gegeben, wie meine Freundin. Beim Gedanken an den heutigen Abend drehte sich mein Magen um. „Außerdem sehe ich viel blasser aus…“
„Du kannst ein wenig Rouge vertragen, das stimmt“, sie griff nach einem der kleinen Pinsel und schminkte meine Wangen. Gespielt schürzte sie ihre Lippen und grinste dann. „Fertig.“
Wieder starrte ich mich selbst an und versuchte unter den dunklen Augenringen, das zu erkennen, was sie geschaffen hatte.
Ich sah ganz genauso aus, wie zuvor.
„Wow, danke Jessy.“
Die angesprochene zwinkerte mir verschwörerisch zu und legte mir kurz die Hand auf die Schulter.
„Wie geht es dir denn, Ellie? Bist du sehr nervös wegen heute Abend?“
Ich pustete eine Strähne aus meinem Gesicht und zuckte unentschlossen mit den Schultern. Seit den letzten Tagen und dem gemeinsamen Gespräch mit den anderen war so viel passiert, dass ich gar nicht dazu kam, das Ganze so richtig zu verarbeiten.
Und jetzt standen wir hier. Heute würde sich alles entscheiden.
„Ich weiß nicht…“
Wie fühlte man sich als Köder?
Ich konnte ihr schlecht davon erzählen, dass ich die letzten Nächte nicht schlafen konnte, dass mir die Gespräche mit der Polizei pausenlos durch den Kopf gingen, dass ich so sehr darauf bedacht war, nichts Falsches zu sagen, dass ich die meiste Zeit gar nichts sagen konnte.
Ich konnte ihr nicht davon erzählen.
Ich konnte niemandem davon erzählen, denn alle waren dabei, dass was geschehen war, zu verstehen. Jeder musste sich jetzt auch ein Stück weit um sich selbst kümmern.
Als wir an dem Abend ausgesprochen hatten, was wir dachten, war vor allem für Jessy eine Welt zusammengebrochen.
Zunächst hatte sie noch versucht Richy zu verteidigen, doch als Cleo von dem erzählte, was sie in der Pforte der Hoffnung über ihn erfahren hatte, war selbst sie verstummt.
Wir alle waren sprachlos gewesen.
Richys Mutter hatte selber gar nicht so viel sagen können, hatte laut Cleo nur immer wieder die Worte mein armer, armer Junge wiederholt.
Doch sie hatte Glück gehabt, denn eine von den ehrenamtlichen Helfern hatte das Gespräch mitbekommen und Cleo beiseite genommen.
„Es war ein langes Gespräch und das, was sie sagte… kurzgefasst, hat Richy wohl sehr starke psychische Probleme gehabt, seit der Sache mit Jennifer Hanson. Sie muss seine Babysitterin gewesen sein.“
Sie hatte herausgefunden, dass er seit Jahren immer wieder phasenweise in der psychosomatischen Klinik in Colville war.
„Die Familienurlaube“, murmelte Thomas, „Er hatte immer erzählt, dass sie an einen See fahren… zu einer Hütte, die sie besaßen und ich hatte mich noch gewundert, denn eigentlich sind die Verhältnisse bei ihnen sehr zerrüttet...“
Leider hatte sie nicht erfahren, welche Erkrankung bei ihm diagnostiziert wurde, aber letztendlich hatte das bereits gereicht, um einen handfesten Verdacht bei Cleo zu wecken.
„Aber wie konnte sie das Ganze wissen?“, forschte Jessy weiter nach, „du hast selbst gesagt, dass Richies Mutter sich kaum anständig ausdrücken konnte. Das scheint mir doch ein wenig viel Information dafür zu sein.“
„Der Mann von Doris, also der Frau, mit der ich gesprochen hatte, trifft sich öfter mal mit Roger in der Aurora und mit Alkohol…“
„…wird man redselig:“ Phil hatte den Satz nickend beendet.
Es war für uns alle schwer zu glauben gewesen.
Richy… derjenige, der von Anfang an so erpicht darauf war, dass alle sich wohlfühlten. Derjenige, der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte. Richy, der den Fischen in seinem Büro jeden Tag einen anderen Namen gab, damit Jessy einen Grund zum Lächeln hatte…
Jake hatte dann recht schnell Richies Krankenakte besorgt.
„Das wird für ein handfestes Motiv reichen.“
Ich hatte mir die Akte nicht angesehen.
Keiner von uns hatte das.
Denn auch wenn er der Tatverdächtige war, fühlte es sich immer noch so unmöglich und falsch an. Niemand wollte die unsichtbare Wand, welche sich zwischen uns und die Wahrheit gestellt hatte, einreißen.
Und als wir alle – jeder für sich – versuchten mit dieser neuen Information klarzukommen, zeichnete sich ein Fakt ab, der so deutlich war, dass ihn keiner mehr leugnen konnte.
„Er hat es als nächstes auf Ellie abgesehen“, Jakes Stimme klang müde und farblos.
Nachdem er ihnen alles erzählt hatte – von den Fotos, den Gesprächen und seinem Plan meine Erinnerungen zu triggern, stimmten auch die anderen zu.
„Das ist der einzig logische Schritt“, Dan hatte seine Hand in Müllers Fell vergraben, „Und es wird zum Pineglade-Fest passieren, richtig? Irgendwie dreht sich doch letztendlich alles um dieses verdammte Fest…“
Natürlich war es das.
Das war es die ganze Zeit.
Und je länger wir schweigend beieinandergesessen hatten, desto klarer wurde, dass wir hier mit unserer Arbeit am Ende angelangt waren.
„Euch ist bewusst, dass das eine Nummer zu groß für uns ist, richtig?“, es war Lilly, die sich als erstes traute, es auszusprechen. „Wir können nicht Hannah finden, das lag nie in unserer Macht…“
„Lilly…“
„Nein, Dan. Du weißt es, ich weiß es und alle anderen wissen es auch. Wenn wir jetzt nicht aufhören und mit den Informationen, die wir haben zur Polizei gehen, werden wir Hannah niemals finden und nicht nur das… wir werden wahrscheinlich eine weitere Freundin verlieren. Wir können Ellie nicht beschützen.“
Das allumfassende Schweigen aller war Antwort genug.
„Was ist mit der Tatsache, dass ihr alle wegen der Behinderung der Justiz drankommen könntet?“, warf ich halbherzig ein, „Oder für Einbruch, oder…“, meine Hände ballten sich zu Fäusten, „Was ist mit Jake?“
„Diejenigen, die sich was haben zu Schulden kommen lassen, verschwinden unter dem Radar“, Jake hatte seine Stimme wiedergefunden und sprach nun wieder fester. Er war ganz klar dabei einen kugelsicheren Plan auszuarbeiten.
„Lilly und Thomas… ihr solltet mit den Informationen zur Polizei. Die anderen verhalten sich normal, geht euren Tagesabläufen nach… die Polizei wird so oder so auf euch alle zukommen. Ihr werdet ihnen erzählen, dass es euch irgendwann zu viel geworden ist und dass ihr eingesehen habt, dass es keinen Sinn macht, selbst zu recherchieren.“
Er sah zu Jessy, Phil, Cleo und Dan, die dem Plan zustimmten.
„Da ihr die größten Bezugspersonen von Hannah seid, werden sie Verständnis dafür haben, dass ihr tiefer gegraben habt, Thomas und Lilly. Sollten sie dennoch belastende Beweise gegen euch in der Hand haben, werde ich die selbstverständlich beseitigen.“
Als die beiden einverstanden waren, hatte er sich direkt an mich gewendet.
Ich konnte ihm nicht mal in die Augen schauen.
„Sie werden zu dir kommen, Ellie.“
Es tat weh zu hören, wie er meinen Namen aussprach. Als würde er sich tatsächlich Gedanken darum machen, wie es mir damit ging.
„Du stehst natürlich noch immer unter Verdacht, aber die Tatsache, dass du ebenso gefährdet bist, wiegt das Ganze auf. Was heißt, dass sie dich unter ihren Schutz stellen werden, oder aber – und das ist wahrscheinlicher – als Köder benutzen werden.“
„Tja, das scheint wohl meine Rolle zu sein.“
Der Satz war so schnell aus meinem Mund gefegt, dass ich selbst davor erschrocken war.
„Ich weiß, du wirst es mir nicht glauben, Ellie“, er kam ein paar Schritte auf mich zu, „aber, das, was ich getan habe, tut mir ehrlich und aufrichtig leid. Hätte ich gewusst, dass, ...“
„Ich glaube, du solltest Ellie fürs Erste in Ruhe lassen, man“, Phil war unbemerkt aufgestanden und hatte Jake die Hand auf die Schulter gelegt. Mit einem Blick, als würde er sich wünschen, dass eben diese Hand abfallen würde, zog Jake seinen Arm weg und war zurück zu seinem Platz gegangen.
„Ellie?“
Das Ganze war jetzt zwei Tage her. Alan Bloomgate hatte kaum ein paar Stunden vergehen lassen, nachdem Lilly und Thomas bei ihm waren und als er vor der Türe meines kleinen Appartements stand die Hände in den Taschen und ein süffisantes Grinsen auf dem faltigen Gesicht, hätte ich ihn am liebsten geschlagen.
„Heute müssen sie mit mir mitkommen.“
Selbstverständlich hatte nicht protestiert, hatte mich schweigend in das Polizeiauto gesetzt und die Lichter Duskwoods an mir vorbeiziehen sehen.
Wir hatten uns streng verboten über den Messenger zu kommunizieren und so konnte ich mit den anderen nur reden, wenn ich sie im Polizeipräsidium sprach, oder zufällig auf der Straße.
Jake war so gut er konnte untergetaucht.
Durch Lilly wusste ich, dass er bis heute Abend alles gelaufen war, auf jeden Fall in der Stadt bleiben würde. Was danach passieren würde, konnte ich mir nur zu gut denken…
Es fühlte sich seltsam an, plötzlich wieder so alleine zu sein.
Offensichtlich war es mir vorher nie aufgefallen, dass ich zwar Freunde, aber keine Vertrauten bei mir zu Hause hatte und auch, wenn es eigentlich nur darum gegangen war, ein verschwundenes Mädchen zu finden, musste ich mir mehr und mehr eingestehen, wie sehr mir die Menschen, mit denen ich fast tagtäglich kommuniziert hatte, fehlten.
Und ich vermisste Jake.
Selbstverständlich war da diese allesumfassende Wut in mir, darauf, dass er mich mutwillig in die Gefahr – nein, in diese ganze Situation gebracht hatte, aber nichtsdestotrotz war mein albern verliebtes Herz immer noch ganz in Gedanken bei seinen Händen auf meiner Haut, bei seinen Lippen auf meinen. Nachts träumte ich davon, in seiner Umarmung zu liegen, durch seine Haare zu fahren und seinen tiefen Atemzügen zu lauschen.
Doch er war nicht da und mit ihm war auch jegliche Möglichkeit der Aussprache verschwunden.
Alan hatte mich darüber aufgeklärt, dass Richy – laut den Angaben seiner behandelnden Psychotherapeuten – schon ungefähr ein Jahr lang seine Termine versäumt hatte. Auch seine Rezepte für ein stark stimmungsstabilisierendes Medikament, hatte er nicht mehr abgeholt.
„Wir haben es hier mit einem Täter zu tun, der stark verwirrt ist und wahrscheinlich nicht weiß was er tut“, hatte sein – glücklicherweise etwas freundlicherer - Kollege erklärt, „Das heißt, er ist schwer einzuschätzen.“
Richy war unberechenbar und chaotisch und mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht er selbst. Das hieß im Umkehrschluss, dass die zweite Person, diejenige war, die ihn steuerte.
„Egal wer der zweite Täter ist, wir müssen davon ausgehen, dass derjenige seinen Plan am Tag des Pineglade-Festes durchziehen wird, dem Todestag von Jennifer. Wir werden sie verwanzen und einige Einheiten an Zivilpolizisten auf dem Fest platzieren. Ebenso haben wir Zugriff auf ihr Handy und die Mobiltelefone aller betroffenen Personen“, was Jake bereits vermutet hatte, „Wir werden sie problemlos orten können, sollte etwas schief gehen – was es nicht wird.“
Die Uhr an meinem Handgelenk war mit einem Abhörgerät versehen worden und mein Handy trug ich in einer kleinen Umhängetasche, welche mir Jessy geliehen hatte, eng an meinem Körper.
Ich war sicher.
Ich war sicher.
Nach heute Abend würde ich keine Angst mehr haben müssen.
„Ist alles okay mit dir?“
Jessys besorgte Stimme holte mich zurück in ihre kleine Wohnung und das Bad und den Spiegel, in den ich die ganze Zeit gestarrt hatte.
„Ich… ja,… ja alles gut.“
Sie legte ihre Schminkutensilien beiseite und legte ihr Arme um mich.
„Du musst nicht immer versuchen, die Starke zu sein, weißt du?“
Ihre Worte waren leise, aber deutlich.
„Es ist okay, wenn du zeigst, dass du Angst hast… das hätte ich auch.“
Ich nickte und biss mir dabei fest auf die Unterlippe.
„Ich habe Angst… natürlich. Aber wenn ich im Normalfall Angst habe, verkrieche ich mich nach Hause in mein Bett… und das ist jetzt nicht möglich also…“
Ich zuckte mit den Schultern und Jessy lachte halbherzig.
Lilly schob ihren Kopf durch den halb geöffneten Türspalt.
„Seid ihr fertig?“
Ich nickte, ehe mein Blick auf ihre Haare fiel.
„Was ist das denn?“
Unsicher rückte sie den künstlichen Blumenkranz auf ihrem Kopf zurecht. Jessy lachte.
„Das ist eine weitere Tradition des Festes, Ellie. Die Frauen tragen Herbstblumenkränze… die gibt es hier an jedem Eckladen zu kaufen…“
„Und die Männer?“, stichelte ich kopfschüttelnd, „Tragen die kleine Tannenzapfen als Haarreif?“
Lilly prustete in sich hinein.
„Natürlich nicht“, murmelte Jessy leicht pikiert, „sie tragen ein kariertes Holzfällerhemd, wie die…“
„Holzarbeiter“, ergänzte ich, „Wow, diese Stadt übertrifft jedes Klischee.“
„Sei nicht unfair, die Traditionen hier sind eigentlich ganz süß.“
Gemeinsam liefen wir zurück in Jessys Wohnzimmer.
„Oh solange ich nicht auch so ein Ding aufsetzen muss, ist mir das wirklich herzlich egal.“
Dass alle verstummt waren, hatte ich erst bemerkt, als ich ihn sah.
Jake stand mitten im Raum und wirkte dabei so deplatziert, wie Darth Vader in einem Barbie-Traumhaus.
„Jessy“, murmelte Lilly verschwörerisch, „kannst du mir noch kurz mit den Wimpern helfen?“
Kichernd liefen die beiden aus dem Zimmer und ließen mich zurück.
„Hey, Ellie.“
Er trug einen dunkelblauen Hoodie, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. In meiner Erinnerung konnte ich genau spüren, wie es sich anfühlte, in diesen Armen zu liegen. Das Blau seines Pullovers passte perfekt zu seinen traurigen Augen.
„Hey.“
Unsicher kam er ein paar Schritte auf mich zu, ich verschränkte die Arme.
„Ich wollte dich nochmal sehen.“
Oh nein, das war es also.
Er war gekommen, um sich von mir zu verabschieden.
Ich schluckte den Drang zu ihm zu laufen herunter und blinzelte meine Tränen weg.
„Tja“, antwortete ich erstaunlich gefasst, „da bin ich.“
Er lächelte kurz.
„Ich werde das vermissen, also… deine schnippischen Antworten.“
„Ich bin nicht schnippisch.“
„Doch… schon. Und das mag ich an dir“, er kam erneut ein wenig auf mich zu, „Jeden anderen kann ich mit Leichtigkeit ausspielen. Dich nicht...“
Mein Magen drehte sich um.
„Und dennoch hast du es geschafft, weißt du? Du hast mich ausgespielt. So sehr, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin“, ich schüttelte den Kopf, noch immer fassungslos über mich selbst, „und noch weniger weiß ich, wer du bist, Jake. Ich kenne dich überhaupt nicht.“
Jake nickte und sagte nichts.
Irgendwie hatten wir auch beide von Anfang an gewusst, dass es irgendwann zu dieser Erkenntnis kommen würde.
Wir waren Fremde.
Fremde, die nach dieser Sache nichts mehr miteinander gemeinsam haben würden.
„Es tut mir…“
„Ich weiß“; unterbrach ich ihn ruhig, „ich weiß, dass es dir leidtut und ehrlich gesagt, kann ich verstehen, dass du das getan hast. Ich habe selbst einen kleinen Bruder und ich wüsste nicht… ob ich nicht vielleicht dasselbe getan hätte… in deiner Situation.“
Schweigend nickte er. Dann war es still.
Die Abendsonne schien durch die Fenster und färbte das Zimmer golden.
Ich wäre gerne zu ihm gegangen.
Hätte ihn gerne geküsst.
Doch bereits jetzt fühlte er sich an, wie der Geist von etwas, was es eigentlich nie gab.
„Meinst du, wenn wir uns ganz normal kennengelernt hätten… keine Ahnung, an der Uni, oder in einem Café… meinst du, wir hätten ein ganz normales Paar werden können?“
Gedankenverloren lächelte er leicht.
„Ich hätte dich vielleicht auf ein Eis eingeladen und hätte mich völlig eingeschüchtert kein Weiteres Wort herausbekommen… aber ja, ich hätte dich definitiv angesprochen. Selbst in einem Raum voller Menschen wärst du mir aufgefallen.“
Ich konnte die Tränen, die mir über die Wangen liefen, nicht zurückhalten.
Er war so schnell bei mir, dass es unmöglich war, auszuweichen. Mit seiner Hand zeichnete er die nassen Spuren nach, blinzelte.
„Das ist das schwerste, was ich jemals getan habe…“
„Ich werde dich vermissen, Jake“, flüsterte ich.
„Ich dich auch Ellie. Alles an dir und alles, was ich noch nicht von dir weiß. Ich hätte alles gegeben für eine normale Beziehung…“
Ich nickte, unfähig noch irgendetwas zu sagen, ohne völlig zusammen zu brechen.
Jake legte seine Stirn an meine.
„Sei vorsichtig, heute Abend… ich bin in deiner Nähe, auch wenn du mich nicht siehst.“
„Jake…“
„Kein Wort… ich überlasse deine Sicherheit nicht diesen Anfängern“, er lachte leise, „hast du gemerkt, wie überrascht sie darüber waren, was wir alles im Alleingang herausgefunden haben? Anfänger.“
Ich lachte durch meine Tränen und löste mich von ihm.
„Ich danke dir… für alles, Jake.“
Kopfschüttelnd küsste er meine Stirn.
„Nein, Ellie. Ich danke dir. Dafür, dass du immer zu mir gehalten hast, auch wenn alle anderen an mir gezweifelt haben.“
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und schniefte.
„Ich hoffe, du bist sicher, da wo du hingehst“, murmelte ich, „Und dass es dir dort gut geht.“
Jake nickte mit einem bitteren Lächeln.
„Mal schauen, im Moment fühlt es sich so an, als würde es mir nie wieder wirklich gut gehen“, er lachte freudlos und griff danach in eine Tasche, die auf dem Wohnzimmertisch stand.
„Ich habe schon gehört, dass du diese Tradition hasst“, flüsterte er und wog den goldenen Blumenkranz in seinen Händen hin und her, „aber ich habe ihn gesehen und musste sofort an dich denken. Würdest du ihn für mich tragen?“
*
Es war bereits dunkel, als wir schließlich zum Fest in die Stadt aufbrachen. Nachdem Jessy fünf Mal und Lilly ebenso drei Mal erwähnt hatte, dass ich total süß aussehen würde mit dem Kranz, hatten sie sich mittlerweile beruhigt und liefen, genauso nervös wie ich, neben mir her.
Im Gegensatz zum sonst recht schläfrigen Duskwood waren heute die Straßen belebt und voll mit ausgelassenen Menschen. Überall sah man zwischen den vielen Buden glitzernde Lichterketten funkeln, wie kleine Sterne. Es roch nach Met, Zuckerwatte und Tannenzapfen und viele der Besucher tanzen ausgelassen auf den abgesperrten Straßen. Im Schimmer der Lichter sahen die Kränze auch nicht mehr so lächerlich aus und es war leicht sich von dieser herrlichen Beschwingtheit anstecken zu lassen.
Leider galt das nicht für mich, denn als wandelnde Zielscheibe wäre ich am liebsten wieder in mein Bett gekrochen, oder hätte mich mit Herrn Müller im nächstbesten Schrank versteckt.
„Dan wartet beim Feuer auf uns!“, rief uns Lilly zu, während sie ihr Handy wegsteckte.
Sie hatte sich bei Jessy eingehakt, welche wiederrum an meinem Arm hing.
Wir schoben uns gemeinsam durch die Menschenmassen hindurch und ich kam nicht umhin, mich immer wieder umzuschauen und nach einem Gesicht zu suchen.
Ich konnte Richy natürlich nicht finden und so folgten wir dem vergnügten Feierpulk Richtung Feuerstelle.
Das große Lagerfeuer fand auf einem extra mit Kies ausgelegten, runden Platz direkt am Schwarzwassersee statt. Rund um den See waren vereinzelt Fackeln aufgestellt worden. Auf dem kleinen Steg hatten Sie einen Foto-Spot installiert, bei dem sich mehrere Pärchen tummelten und sich zur Erinnerung fotografieren ließen. Auch hier gab es einige Stände, welche durch Windlichter und reichlich Lichterketten beleuchtet waren.
Es sah wirklich wunderschön aus und für einen kurzen Moment ließ ich mich von der schieren Bewunderung für diesen Anblick treiben.
„Da drüben!“
Jessy zog mich quer über den Platz zu der Stelle, wo Thomas und Dan standen, die uns zuwinkten.
Auf dem Weg dahin rempelte ich gegen einen Mann, welcher sich als Alan entpuppte. In seinem karierten Holzfällerhemd sah er mehr als lächerlich aus und während wir beide so taten, als würden wir uns nicht kennen, war ich insgeheim erleichtert, ihn hier zu sehen.
Wir hatten unseren Treffpunkt zwar genauso vereinbart, aber die Tatsache, dass er hier war – wie besprochen – und mit ihm sicher noch einige andere Polizisten, gab mir ein wenig Sicherheit zurück.
Dan und Thomas standen direkt neben einem der Stände, an dem Getränke ausgeschenkt worden. Kurz nachdem wir bei ihnen angekommen waren, bemerkte ich, dass der Stand niemand anderem als Phil gehörte.
Er hatte die Ärmel seines Hemdes lässig abgeschnitten, so dass seine tätowierten Oberarme zu sehen waren, die langen Haare hatte er achtlos aus dem Gesicht gebunden und während er kleine Tonbecher mit heißem, duftenden Met füllte unterhielt er sich angeregt mit einer Blondine, welche es sich an seiner kleinen Holz-Bar gemütlich gemacht hatte. Ich grinste in mich hinein und stellte mich zu den anderen
Als Lilly Dan erreichte, zog er sie zugleich in seine Arme und küsste sie. Ich freute mich für die beiden, auch wenn ich dabei immer mal wieder zu Jessy rüber schielte, die das ganze Schauspiel allerdings gar nicht interessierte. Als sich das Pärchen voneinander gelöst hatte, deutete Dan auf die vollen Gläser auf dem runden Stehtisch.
„Freunde, ich gebe eine Runde aus“, er hob sein Glas und die anderen taten es ihm gleich, „auf das alles heute gut geht und wir morgen mit neuem Mut aufwachen.“
Unsicher blickte ich auf den Becher vor mir.
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“
Ich beobachtete, wie die anderen ihr Getränk ansetzten und tat es ihnen gleich. Ich ließ den Met jedoch nur kurz meine Lippen berühren, während ich für mich entschied am heutigen Abend keinen Alkohol zu trinken.
Verunsichert sah ich mich auf dem großen Platz umher.
Bisher hatte ich weder Richy noch sonst irgendjemand Verdächtigen gesehen.
Plötzlich entstand in mir die Angst, dass wir hier nicht an der richtigen Stelle waren.
Wir waren zwar in der Nähe des Waldes, aber war es die richtige Stelle?
„Miss Wieler?“
Ich hatte ihn nicht gesehen, bis er mich angesprochen hatte.
Ob es daran lag, dass er in seinem karierten Hemd nicht aussah, wie ich ihn in Erinnerung hatte, oder weil er heute Abend noch schmächtiger wirkte, konnte ich nicht sagen.
„Wer ist das?“, fragte Thomas mit einem etwas zu bedrohlichen Ton und ich versuchte ungezwungen zu lachen.
„Das ist Dr. Barret“, erklärte ich, „Was kann ich für sie tun? Ich hätte nicht damit gerechnet, sie hier zu treffen.“
„Ehrlich gesagt, ich schon“, er lachte ein wenig zu laut und erst jetzt fiel mir auch, dass seine Wangen deutlich gerötet waren, „Entschuldigung, ich hatte wohl zu viel von dem Honigwein… Wie dem auch sei, kann ich sie einen kurzen Moment etwas ungestörter sprechen? Es geht um die Sache, über die wir letztens gesprochen haben“
Er öffnete die große Umhängetasche und zeigte mir eine sich darin befindende Akte.
Meine Akte…
„Natürlich, gehen wir doch dorthin“, murmelte ich und deutete auf die ruhigere Ecke hinter einem der Stände.
„Das ist keine gute Idee, Ellie“, gab Jessy zu bedenken und schüttelte unauffällig mit dem Kopf.
„Alles gut, macht euch keine Gedanken, ich bin nicht länger als zwei Minuten weg.“
Wir schoben uns gemeinsam durch die tanzenden Menschen und blieben schließlich an der besagten Ecke stehen.
Mein Herz sprang mir vor Nervosität fast aus der Brust.
War Dr. Barret der zweite Täter?
Jetzt wäre ein perfekter Zeitpunkt, um einen Angriff auf mich zu vollführen.
Er griff erneut in seine Tasche, doch statt – wie von mir befürchtet – eine Waffe zu ziehen, zog er nur wieder die Akte aus der Tasche.
„Es hat wirklich ein paar Tage gedauert, bis ich sie gefunden hatte“, sagte der Psychologe und wischte vorsichtig über den Einband, „Mein Vater hatte sie nicht bei den übrigen Unterlagen aufbewahrt, sondern in seinem abgeschlossenen Schrank, bei den paar Krankenblättern, die ihm... naja, sagen wir mal, wichtig sind.“
Ich nickte, ohne wirklich zu wissen, wovon er sprach.
Dann zuckte ich zusammen, als hinter uns ein betrunkener Jugendlicher aus einem der Gebüsche stolperte und dann lachend von seiner Freundin aufgefangen wurde.
„Haben sie sie gelesen?“
Dr. Barret nickte.
„Da hat die Neugier wohl gesiegt“, er lachte erneut, dann wurde er ernst, „Sie sollten das wirklich nicht alleine lesen, Ellie. Ich will ihnen keine Angst machen, aber dieses Schriftstück könnte wirklich zu einer Retraumatisierung führen.“
Ungeduldig nahm ich ihm die Akte aus der Hand und presste sie an meinen Oberkörper. Das war sie also, meine fehlende Erinnerung.
„Ich werde sie in Ruhe lesen, wenn ich zu Hause bin. Jetzt hier… darauf kann ich mich jetzt nicht konzentrieren. Danke, Dr. Barret.“
Der angesprochene nickte und verabschiedete sich mit einem Schulterklopfer.
Als ich zurück am Stehtisch war, waren die anderen verschwunden, nur die leeren Becher zeugten davon, dass sie gerade eben noch hier standen.
„Phil?“
Der Barkeeper drehte sich zu mir um und lächelte über das ganze Gesicht.
„Hey Ellie, gut siehst du aus“, die alberne Röte, welche wegen seines Kompliments über mein Gesicht wanderte, ignorierte ich, „falls du die anderen suchst, die sind vorne am Wasser und Warten aufs Feuerwerk.“
Etwas unentschlossen, ob ich hinterher gehen sollte, blieb ich schließlich am Tisch stehen. Vielleicht war es keine gute Idee, die ganze Zeit mit den anderen zusammen zu sein, denn so war die Wahrscheinlichkeit sehr viel kleiner, dass der Mann ohne Gesicht zuschlagen würde. Auch hier war ich ja nicht vollständig allein, sondern hatte Phil im Hintergrund, auf den ich mich verlassen konnte.
Das Lagerfeuer hatte die ganze Luft erhitzt und der schwere Duft der brennenden Tannenzapfen wanderte über den ganzen Platz. Der beinahe stechende Geruch benebelte ein wenig meinen Kopf, sodass ich nun doch zu dem letzten vollen Becher Met griff und einen großen Schluck daraus trank. Das süße, mittlerweile lauwarme Getränk stieg mir sofort ins Gesicht und ich merkte, wie meine Wangen begannen zu glühen.
„Wow“, flüsterte ich und schüttelte den Kopf.
Der Honigwein, den Phil ausschenkte schmeckte wirklich unfassbar gut.
Während ich weiter abwechselnd nach den anderen und dann nach Richy Ausschau hielt, versuchte ich herauszufinden, woran mich der Geruch nach brennenden Zapfen erinnerte.
Ich hatte diesen Geruch schon mal gerochen…
Einen weiteren Schluck trinkend, ließ ich meine Hand über die Akte vor mir wandern. Ich würde sie nicht jetzt lesen, auch wenn es mir in den Fingern juckte. Als ich einen weiteren Blick über die feiernde Menschenmenge wandern ließ, entdeckte ich Jessy, die bei Thomas stand und auf ihn einredete. Beide sahen sich immer wieder um.
Erst jetzt kam mir der Gedanke, dass die beiden vielleicht nach mir suchen könnten, weil sie vielleicht gar nicht mitbekommen hatten, dass ich längst wieder zurück war.
Ich tat einen Schritt nach vorne, als sich merkte, dass der Boden sich unter mir drehte.
Das konnte doch gar nicht sein. Ich hatte gerade mal zwei Schluck Met getrunken und auch wenn ich nicht viel Alkohol vertrug, war diese Art der Reaktion zu extrem.
„Phil?“
Erst jetzt merkte ich, dass meine Stimme ganz anders klang, sie zitterte und war irgendwie zu schrill.
Verwirrt krallte ich mich an der Tischplatte fest. Phil war nirgends zu sehen, sein Stand war leer.
„Sch...scheiße…“, flüsterte ich und versuchte meine Füße vorwärtszuschieben.
Ich war nicht einmal einen Zentimeter vorangekommen, als es plötzlich knallte. Ich schrie auf und duckte mich, doch dann realisierte ich, dass es das Feuerwerk war, welches gerade begonnen hatte.
Vor Schreck waren mir anscheinend die Beine weggeknickt, denn plötzlich saß ich auf dem Kiesboden und mein Körper fühlte sich so an, als würden Gewichte ihn nach unten ziehen.
„Wa… was…?“
Angestrengt starrte ich auf meinen Arm, wollte ihn bewegen und wie durch zähen Leim bewegte er sich auch, aber zu langsam, zu schwerfällig.
Was passierte hier gerade?
„Jessy?“
Meine Stimme war viel zu leise.
Viel zu hoch.
Niemals würde sie das Feuerwerk übertönen.
Niemals die Jubelschreie der Bewohner Duskwoods.
Plötzlich wurde ich nach oben gezogen und auf die Beine gestellt.
Jakes fester Griff stütze mich, während er mich aufrichtete.
„Ellie?“, seine Stimme war hohl, unecht, sie klang wie ein fernes Echo… und immer wieder dieser Geruch, dieser stechende, beißende Geruch, „Ellie? Bist du okay? Was ist mit dir?! Ellie!“
„Ich…i-ich ich…“
Und dann plötzlich erschien da das Gesicht von Alan Bloomgate und jetzt realisierte ich es.
Jake war gekommen, um mir zu helfen.
Er hatte seine Deckung aufgegeben, ohne nachzudenken.
Er war einfach losgerannt.
Bloomgate und die anderen Zivilpolizisten umringten ihn, packten ihn an den Schultern.
Niemand, absolut niemand verstand, dass diese Situation komplett falsch lief.
Niemand bemerkte mich.
Der beißende Geruch kroch in meinen Kopf, stach in mein Gehirn.
„Ja…Jake…“
Sie ergriffen ihn.
Er wehrte sich.
Die Situation wurde lauter und lauter.
Und während ich beinahe bewegungsunfähig dastand, konnte ich es deutlich in Bloomgates Gesicht sehen:
Es hatte niemals nur einen Plan gegeben.
Es gab zwei.
Und jetzt, da sie den Mann ohne Gesicht nicht gefasst hatten, hatten sie wenigstens Jake.
„Nein,“ hörte ich seine Stimme. Viel weiter weg bereits, während ich die Dunkelheit, die mich umgab, versuchte wegzublinzeln. „Halt! Etwas stimmt nicht mit ihr, bleibt doch hier, ihr könnt mich doch auch nachher verhaften!“
Ich sah, wie Gestalten weggingen.
Hörte Schreie und Rufe, die ich nicht verstand.
Fühlte erst Boden unter mir, dann plötzlich nichts mehr.
Und roch brennende Tannenzapfen.
Immer wieder brennende Tannenzapfen.
Ich fiel nach hinten, doch ich fiel weich.
Da waren Arme und irgendwer lachte und es roch nach brennenden Tannenzapfen.
Ich hörte das Knacken des Feuers.
Spürte keinen Boden mehr unter mir und dann wurde es dunkler.
Es wurde kühler.
Und jemand begann zu laufen, aber derjenige war nicht ich.
Und plötzlich… ganz plötzlich erinnerte ich mich wieder.
Ich hatte den Geruch an diesem Abend gerochen.
Damals.
Ich hatte den Geruch an dem Abend gerochen, als wir Jennifer Hanson umgebracht hatten.