Ihre Arme waren, genauso wie meine, am Rücken gefesselt, die Haare waren verfilzt und sie hatte ein bereits leicht verblasstes Hämatom unter dem linken Auge – doch sie lebte.
Hannah war am Leben.
„Ich habe dich gefunden“, flüsterte ich fassungslos und erschrak gleichzeitig, wie schwach meine Stimme klang.
Hannah lächelte ein kleines, trauriges Lächeln.
„Ja, Ellie… leider. Du hättest nicht herkommen dürfen. Jetzt wirst du sterben, genau wie ich.“
Sie schloss die Augen und lehnte ihren Kopf gegen die Wand hinter sich.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, denn es gab keine gute Antwort.
Es war von Anfang an eine Möglichkeit gewesen, dass unser Plan fehlschlagen würde. Ich hatte nur nicht geahnt, dass sie sich so sehr auf Jake konzentriert hatten. Seine Verhaftung schien der Polizei ein größerer Fang zu sein, als Hannahs Rettung… es war unfassbar.
Ächzend rückte ich meine Arme den Seilschlingen zurecht, um an mein Handgelenk zu kommen – doch die Uhr mit dem Peilsender war verschwunden.
Shit, sie hatten sie entdeckt.
Meine Augen begannen zu brennen, immer mehr realisierte ich, dass es tatsächlich die Möglichkeit gab, dass ich hier sterben könnte.
„Was haben sie vor?“, flüsterte ich.
„Sie wollen uns überfahren“, antwortete Hannah ohne jegliche Emotion, „So wie es mit Jennifer passiert ist. Sie geben uns die Schuld. Dir, mir und … Amy.“
Die Augen schließend atmete sie zittrig aus.
„Was ist mit Amy passiert?“
„Sie war, wie sie immer war… zu laut, zu aufmüpfig… irgendwann haben sie sie weggebracht und tja…“
Sie musste nicht weiterreden, damit ich verstand.
„Wir hatten nach der ganzen Sache keinen Kontakt mehr, weißt du? Ich konnte nach diesem Abend einfach nicht mehr mit ihr befreundet sein. Ich fühlte mich so… schuldig. Gleichzeitig hatte ich die ganze Zeit Angst darüber zu sprechen. Ich konnte mich nie jemandem anvertrauen. Dass es Richy schlecht ging, wusste ich… aber selbst das hatte mich nie dazu gebracht mit ihm über das Geschehene zu reden. Er hatte aber auch nichts mehr dazu gesagt. Nach diesem Abend war das alles… einfach ausradiert, verstehst du? Ich habe einfach mein Leben weitergelebt und irgendwann kam es mir irreal vor, so als wäre es gar nicht passiert. Wie kann das sein, Ellie? Wie kann ich so etwas verdrängen wollen? Wegen uns ist nicht nur Jennifer gestorben, es sitzt auch ein unschuldiger Mann im Gefängnis…“
„Wir waren Kinder“, ich wusste genau, wie sich ihre Vorwürfe anfühlten, denn ich empfand es genauso, „was hätten wir tun sollen?“
„Zur Polizei gehen“, antwortete Hannah mit fester Stimme.
Ich nickte, weil sie recht hatte.
Mein Kopf schmerzte von den kleinen Steinchen am Boden und auch wenn das, was sie mir gegeben hatten, langsam aufhörte zu wirken, fühlte ich mich noch immer verlangsamt.
„Ich hatte meine komplette Erinnerung daran verloren“, gab ich schließlich zu, „Ich wusste nichts mehr, selbst als ich hier ankam. Ich war an so vielen Orten, die ich als Kind total oft besucht hatte und nichts hat geklickt. Jake hat versucht meine Erinnerung zu triggern und selbst das…“
„Jake?“
„Er hat mitgeholfen bei der Suche, Hannah. Er war derjenige, der mich kontaktiert hat. Thomas, Jessy, Lilly, Cleo, Phil und Dan… sie alle suchen nach dir.“
Hannah biss sich auf die Unterlippe.
„Ich war kein netter Mensch, bevor sie mich entführt hatten, Ellie“, in der Erinnerung gefangen schüttelte sie leicht mit dem Kopf, „diese Drohungen… das hatte mir so unfassbar Angst gemacht und ich konnte mit niemanden reden, weil niemand davon wusste. Thomas hat gedacht, dass ich ihn betrüge und ich hatte ernsthaft in Erwägung gezogen ihn in diesem Glauben zu lassen…, weil alles besser gewesen wäre als die Wahrheit, verstehst du?“
Ich nickte.
„Ich hätte nie gedacht, dass sie nach all dem so zu mir halten würden… ich habe das alles falsch eingeschätzt, wahrscheinlich hätte ich einfach von Anfang an ehrlich sein sollen.“
„Sie lieben dich, Hannah“, murmelte ich, während Tränen über ihr beschmutztes Gesicht liefen und Spuren hinterließen, „in all der Zeit, in der ich mit ihnen gesprochen hatte, gab es keinen einzigen Moment, in dem sie schlecht über dich geredet haben. Sie hätten alles getan, um dich zu finden.“
Mir wurde bewusst, dass sie es nicht geschafft hatten.
Das wir es nicht geschafft hatten.
Wir waren so nah dran gewesen und jetzt hatte das Blatt eine Wendung genommen.
Verdammter Alan Bloomgate…
„Das mit Richy verstehe ich nicht ganz“, warf ich ein, „Er hat auf mich immer so gewirkt, als würde er dich unbedingt finden wollen. Es hat bis zu seinem Verschwinden nie so gewirkt, als hätte er etwas damit zu tun.“
Hannah lachte freudlos.
„Er war derjenige, der mich entführt hat, weißt du?“
Ich schluckte, darüber hatte ich überhaupt noch nicht nachgedacht.
„Er war sehr krank geworden, durch die Situation damals“, ihre Stimme wurde weich, „Er hatte seit er dreizehn war stimmungsregulierende Medikamente bekommen, anders wäre es ihm wahrscheinlich nicht gelungen, sich ein normales Leben aufzubauen.“
Ein Schauer wanderte über meinen Rücken, als ich an den kleinen, weinenden Jungen aus meiner Erinnerung dachte.
„Ich weiß nicht genau, wann Hanson zu ihm Kontakt aufgenommen hat, aber es war sicher ein Zeitpunkt, an dem Richy wieder Streit mit seinem Vater hatte. Er hat keinerlei Rückhalt zu Hause und ist auch in der Clique nicht bei allen beliebt… Michael hat ihn in einem schwachen Moment erwischt.“
Tatsächlich klang das alles plausibel. Dass Richy nicht immer beliebt war, aber dennoch immer alles dafür getan hatte, dass jeder in der Gruppe ihn mochte, war mir schon zuvor aufgefallen.
„Aber warum hat er dann Richy zu seinem Komplizen gemacht? Er war schließlich genauso Teil der Gruppe gewesen, wie wir und Amy.“
Für einen Moment blieb es still in der Hütte.
„Ich kann mich natürlich irren, aber ich denke letztendlich hat alles, was Michael Hanson getan hatte immer denselben Hintergrund…“
„Frauenhass…“
Hannah nickte.
„Seine Frau hatte ihn verlassen, seine Tochter wollte nichts mit ihm zu tun haben und hat ihn dann – scheinbar – vor der ganzen Stadt bloßgestellt. Wahrscheinlich hat er in Richy ebenso ein Opfer gesehen, wie er in seinen Augen selbst eines war.“
„Nur, dass das so nicht stimmt.“
„Nein“, bestätigte sie, „er war von Anfang an das Problem und damit auch der Täter. Aber dieses kleine Band der Empathie wird ausreichend gewesen sein, um Richy zu überzeugen. Michael hat ihn quasi komplett für sich eingenommen…“
Es blieb still für einen Moment und ich dachte darüber nach, wie unfassbar sich Richy nach Anerkennung gesehnt haben musste, dass er auf jemanden wie Hanson hörte.
„Und jetzt?“
Sie zuckte die Schultern.
„Es gibt kein und jetzt… als ich gesehen habe, wie sie dich hier rein gezerrt haben, wusste ich das.“
Ich wollte gerade antworten, als die Tür aufflog und mit einem Knall gegen die Wand krachte. Es war Richy der mit einer Taschenlampe zuerst zu Hannah und dann zu mir leuchtete.
„Es ist Zeit“, seine Stimme hallte laut, aber leblos durch den Raum. Mit langen, schweren Schritten durchquerte er den Raum und zerre Hannah auf die Beine. Erst jetzt fiel mir auf, wie dünn sie offensichtlich geworden war, denn ihr Pullover rutschte von ihrer Schulter.
Langsam fast vorsichtig schob Richy den Stoff wieder nach oben.
„Richy“, versuchte sie es, „du musst das nicht tun…“
Der Angesprochene schnaubte.
„Richy tut, was er tun muss, nicht wahr, mein Junge?“, Michael Hansons bullige Gestalt war im Türrahmen aufgetaucht. Er grinste übers ganze Gesicht, als er genüsslich die Arme verschränkte.
„Ja“, antwortete Richy monoton, „Ich brauche das für meinen Frieden.“
Nickend ging Hanson auf ihn zu und klopfte mit seiner großen Hand auf seine Schulter, dann wandte er sich zu mir.
„Na ausgeschlafen, Dornröschen“, er lachte ekelhaft laut über seinen schlechten Witz und zog mich dann ebenso nach oben. „Die Schmerzmittelmischung von Richies Mutter scheint genau die Wirkung bei dir erzeugt zu haben, die wir erreichen wollten. Prima.“
Ich antwortete nicht. Sah ihm nicht ins Gesicht.
Alleine beim Klang seiner Stimme war ich sofort wieder an der Straße von damals und sah ihn vor mir mit dem riesigen Ast in der Hand.
„Mhm, warst ja schon früher eher ungesprächig.“
Er zündete sich eine Zigarette an und pustete blauen Qualm in mein Gesicht. Ich hustete wie verrückt und japste nach Luft. Michael Hanson lachte.
„Schade, dass wir uns nur so kurz sehen… es hat immer so viel Spaß gemacht, mit dir zu telefonieren…“, er wickelte eine Strähne meiner Haare um seinen Finger. Lächelte, als er merkte, wie sehr er mich anwiderte, „Mit dir hätte ich sehr viel Spaß gehabt, das steht fest...“
Er packte mich am Nacken und schob mich ruckartig durch die Tür nach draußen. Richy tat es ihm gleich.
Als wir nach draußen auf die Lichtung traten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Wir waren hier… auf dieser Lichtung.
Hannah war in der Mutprobenhütte gewesen.
Diese Gewissheit fühlte sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Wir waren die ganze Zeit so nah dran gewesen. Die Hütte wäre meine erste Vermutung gewesen, hätte ich meine Erinnerung früher zurückbekommen. Es wäre so einfach gewesen… doch nun war es zu spät.
„So Mädchen, ich bin mir sicher, ihr wisst genau, wo wir hinwollen, richtig?“
Ich schluckte.
Wir würden zu der Straße gehen.
Wir würden zu der Straße gehen und dann würden sie uns überfahren.
Und danach würden sie unsere Leichenteile zersägen.
„Nein.“
„Was, nein?“, Hansons Augen glänzten, so sehr genoss er dieses Spiel, „Bist du jetzt die nächste, die Widerworte gibt? Weißt du, was ich mit eurer kleinen Freundin gemacht habe?“
Bei dem Gedanken an Amy schauderte ich.
„Ich gehe da nicht hin.“
„Ellie…“, Richy zerrte Hannah ein Stück zurück und flüsterte ihr etwas zu, sie verstummte.
Michaels Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse, dann griff er in seine Hintertasche und zog eine Waffe.
Der Lauf drückte gegen meine Stirn.
Ich konnte nichts hören, außer meinem schlagenden Herz.
„Lauf los.“
Seine Stimme war eiskalt.
Meine Augen bohrten sich in seine, als ich mich nicht von der Stelle bewegte.
Er lächelte leicht, drehte sich dann zu Hannah und richtete seine Waffe nun auf ihren Kopf.
„Ich habe gesagt, lauf!“
Ich konnte nicht. Nichts in mir bewegte sich. Starr vor Angst konnte ich nur hoffen, dass er besessen von dem Plan war, uns zu überfahren.
Michael Hansons Augenlid zuckte, dann machte er eine kleine Bewegung und schoss Hannah in den Oberschenkel.
Diese schrie auf vor Schmerzen und krümmte sich nach vorne. Der Stoff ihrer Hose färbte sich in beängstigender Geschwindigkeit dunkelrot.
„Wie oft muss ich dir noch beweisen, dass ich nicht bluffe?!“ Er holte aus und schlug mir mit der Waffe gegen die Schläfe, so dass ich zu Boden fiel. „Du willst sie all auf dem Gewissen haben, Elisabeth, richtig? Dir bedeutet Freundschaft nichts, außer deinem eigenen… sturen Kopf. Du hast kein Herz, nur ein verrotteten Muskel, der in deiner Brust schlägt.“
Er zog mich zurück nach oben, Hannahs Weinen dröhnte durch meinen Kopf.
Und es war wieder meine Schuld gewesen.
Richy sah teilnahmslos auf das blutende Bein, als er versuchte sie wieder auf die Beine zu heben, versagte jedoch.
„Gib schon her, ich trage sie“, murmelte Hanson verärgert und zerrte Hannah auf ihre Füße, „noch ein so ein Ding und ich knöpfe mir deine restlichen Freunde auch noch vor, alle hörst du? Und bei deiner kleinen rothaarigen Freundin fange ich an.“
„Jessy?“
Richy, der neben mir stand, versteifte sich plötzlich.
„Du hattest mir versprochen, sie aus dem Spiel zu lassen.“
Michael schnalzte genervt.
„Wir tun, was wir tun müssen, mein Junge… so hatten wir es doch besprochen. Diese Mädchen“, er deutete mit seiner Waffe zuerst auf mich, dann auf Hannah, die sich kaum auf den Beinen halten konnte, „haben deine und meine Familie zerstört, weil sie einen Streich spielen wollten. Einen Streich, Richy. Stell dir vor, sie hätten dich nicht in en Wald gelockt und du armer Junge wärst ihnen niemals gefolgt. Du wärst ein ganz anderer Mensch. Jemand mit Familie, mit Rückhalt… und Freunden.“
Richies Gesicht verhärtete sich, als er nickte.
Mit einer fließenden Bewegung zog er etwas aus seiner Jacke und drückte es gegen meinen Rücken. Die Spitze des Messers berührte gerade so meine Haut, aber die Drohung dahinter verstand ich.
„Du läufst jetzt, Ellie“, der Klang seiner Worte zerschnitt jede Hoffnung, die in mir aufgekommen war.
Ich wollte nicht riskieren, dass meine Fahrlässigkeit ein weiteres Mal Hannah traf, also begann ich vorsichtige Schritte in die Richtung zu machen, in der ich den richtigen Weg vermutete.
Alles in meinem Kopf drehte sich, ob es letztendlich von der Medikamentenmischung kam, die sie mir eingeflößt hatten, oder der Schlag auf die Schläfe konnte ich nicht mehr sagen.
Der Wald war still und unfassbar dunkel. Aus der Ferne konnte man die Musik und Ausgelassenheit des Pineglade-Festes hören und es erinnerte mich so schmerzhaft an das, was vor ein paar Jahren passiert war, dass ich kaum Luft bekam.
Die Geschichte wiederholte sich also.
Und wir konnten nichts dagegen tun.
Plötzlich tat es mir unfassbar leid, dass ich Jake nicht nochmal geküsst hatte, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ich dachte an sein Gesicht, seine schönen Augen und das Lächeln, dass ich so gerne noch so viel öfter gesehen hätte. Was würde er wohl denken, wenn er erfahren würde, dass ich versagt hatte.
Was würde er sagen, wenn er wüsste, dass Hannah wegen mir verletzt worden war?
Plötzlich stieß ich mit meinem Fuß gegen etwas Festes und verlor das Gleichgewicht. Da meine Arme verbunden waren, knallte ich mit voller Wucht gegen Richy, der zu Boden fiel, genau neben die Wurzel, über die ich gestolpert war. Das Klirren des Messers brachte Michael Hanson dazu, sich nach uns umzudrehen.
Dann geschah alles innerhalb weniger Sekunden.
Ich sah in Hannahs Gesicht und wie sie mit den Lippen das Wort „Lauf weg“ formte, ich zögerte nur kurz, denn Richy machte sich bereits daran nach seinem Messer zu greifen, als ich es mit dem Fuß wegstieß und begann zu rennen.
Verzweifelt lief ich so schnell ich konnte in den Wald hinein – weg von den Andern, dahin wo ich die Straße vermutete, von der ich damals mit Phil und der Gruppe durch den Wald gelaufen war.
Hanson rief irgendwas hinter mir her, aber ich versuchte ihn so gut es ging auszublenden.
Ich musste schnell sein.
Noch schneller als jetzt. Ich würde uns alle retten.
Ein beißender Schmerz breitete sich plötzlich in meiner Schulter aus und der Aufprall fegte mich von den Beinen. Ich verstand zunächst nicht, was passiert war, nur dass mir plötzlich alles weh tat und ich mich nicht mehr bewegen konnte.
„Du kannst aufhören, es zu versuchen“, Biergeruch wanderte über mein Gesicht, als Michael mich abermals auf die Beine stellte, „hör auf dich zu wehren, Elisabeth. Es gibt Schicksale, die sollte man hinnehmen. Du und Hannah – ihr werdet heute sterben, weil ihr meiner Tochter das Leben genommen habt. Ich lasse euch nicht entkommen.“
Er zerrte mich zurück zu Richy und Hannah, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Als sie sah, dass ich es nicht geschafft hatte, begann sie erneut zu weinen.
Es dauerte nicht lange, bis sich der Wald vor uns lichtete und wir auf eine Straße trafen.
Die Straße.
Sie sah beinahe noch genauso aus, wie meine Erinnerung sie zeichnete. Meine Beine begannen zu zittern, als sie uns über den Asphalt schleiften.
Als wir mitten auf der Fahrbahn waren, ließ Michael Hanson mich los, Richy tat es ihm gleich. Ich stolperte nach vorne und fiel auf den harten, feuchten Boden. Meine Jacke war durchnässt vom Blut der Schusswunde an meiner Schulter und mir war schwindelig – so schwindelig, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment das Bewusstsein verlieren konnte. Ich sah zu Hannah, doch diese starrte einfach nur auf ihr blutendes Bein. Man konnte deutlich an ihrem Blick sehen, dass sie aufgegeben hatte.
„Da sind wir nun“, Hanson klatschte in die Hände, „es ist so weit, der Zeitpunkt unserer Rache ist nah.“ Stolz sah er zu Richy, der vorsichtig lächelte.
„Sie haben uns meine Tochter genommen und deine Mutter, nun ist es an der Zeit Tribut zu zollen.“
„Richies Mutter lebt noch.“
„Es war Hannah, die ihre Stimme wiedergefunden hatte, „sie ist nicht tot.“
„Dahinsiechend in ihrem Irrsinn“, gespielt empört, schüttete Michael den Kopf, „ohne Sinn und Verstand Tag für Tag dieselben Dinge tun, das nennst du leben?“
Er spuckte auf den Boden und entfernte sich von uns.
Erst jetzt bemerkte ich das Auto, welches nicht mal fünf Meter von uns entfernt mitten auf der Straße stand. Hanson stieg ein und zündete den Motor.
„Sie hätte ein schönes Leben haben können“, flüsterte Richy und zog Hannah hinter mich, so dass wir auf einer Linie saßen, „durch euch ist sie fast gestorben…“
„Das stimmt nicht, Richy und das weißt du“, antwortete Hannah ihm mit ruhiger Stimme, „hast du mal darüber nachgedacht, was deine Freunde denken, was Jessy denken würde, wenn sie dich so sehen würde?“
Er zuckte mit den Schultern.
Hanson schaltete die Scheinwerfern ein, beißendes Licht strahlte über die sonst leere Straße.
Ich konnte kaum atmen, konnte kaum aufrecht sitzen.
„Was Jessy denkt, ist mir egal“, flüsterte Richy.
„Du weißt genau, dass das nicht stimmt.“
Der Motor heulte auf.
„Ihr hättet sie dort einfach sterben lassen… Ellie, du warst einfach weggerannt.“
Bilder tauchten in meinem Kopf auf.
Bilder, wie ich rannte, schnell und dann immer schneller.
„Richy“, flüsternde Hannah mit zitternder Stimme, „erinnerst du dich nicht mehr?“
„Was…“
„Nur wegen ihr hat deine Mutter überlebt, Richy“, Hannahs Worte hallten in meinen Ohren wider und weckten eine letzte Erinnerung.
„Sie war diejenige, die den Krankenwagen gerufen hat…“
In diesem Moment machte der Wagen einen Satz nach vorne und fuhr los.
Die Lichter rasten auf uns zu, ich schloss die Augen – versuchte an irgendetwas zu denken, doch fand keinen Gedanken, fand keinen Frieden…
Ich spürte den Wind des heranfahrenden Autos, als es plötzlich knallte.
Einmal, zweimal, drei Mal, viermal.
Dann das Quietschen der Reifen.
Mit einem Ruck wurde ich zur Seite geschleudert und landete im Gras neben der Straße, dicht neben mir lag Hannah.
Richy hatte sich über uns gebeugt, den Blick starr auf den Boden gerichtet.
„Ich kann das nicht“, seine Worte galten niemandem, nur sich selbst, „kann nicht…“
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Mehrere Polizisten stürmten den Platz und zerrten Hanson aus dem Auto. Richy wurde von uns weggezogen und ebenso in Handschellen gelegt. Ich blinzelte, völlig unfähig die Situation zu verstehen. Sie schrien viel – sicherten den Tatort und redeten durcheinander.
Plötzlich sah ich zwischen den ganzen Polizisten Jake stehen.
Jake mit einer blutenden Wunde am Kopf und einer Waffe in der Hand.
„Hannah?“ Das war Thomas‘ Stimme. Sie setzte sich auf und versuchte irgendwie auf die Beine zu kommen, schaffte es durch die Schusswunde am Bein aber nicht.
„Hier!“
Es dauerte nicht lang, bis er schließlich bei ihr war und sie in die Arme schloss.
„Du lebst…“, er drückte sie an sich, streichelte ihren Rücken, ihre Haare, ihre Arme, „ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen.“
„Ich auch.“
Ich wendete mich ein wenig ab, weil ich ihnen diesen Moment lassen wollte, als ich plötzlich selbst in eine feste Umarmung gezogen wurde.
Ich brauchte nicht zu schauen, wer es war, denn ich erkannte ihn sofort an der Art seiner Berührung.
„Ich hatte Angst, dass ich zu spät bin“; flüsterte Jake und ich konnte fühlen, dass sein ganzer Körper zitterte, „das hätte ich mir niemals verzeihen können Ellie. Ich hab den Typen beinahe abgeknallt…“
Er lachte überdreht und legte seine Lippen auf meine.
Als er meine Schulter berührte zuckte ich zusammen.
„Shit, Ellie das sieh richtig übel aus, hey! Wir brauchen mal einen Notarzt!“
Sobald Jake ein wenig Aufmerksamkeit hatte, wurde er auch schon von mir zu einen der Polizeiwagen gezogen. Er würde seiner Festnahme nicht entkommen können.
„Darf ich mir das mal anschauen?“
Während ich ärztlich versorgt wurde, begriff ich langsam, dass ich beinahe gestorben wäre. Mittlerweile waren auch die anderen eingetroffen. Jessy war völlig aufgelöst und ließ sich von einem der Polizisten erklären, was genau passiert war. Dan, Lilly und Cleo waren bei Thomas und Hannah und Jake wurde vor dem Polizei-Auto immer noch vernommen.
Ich fühlte mich unheimlich glücklich, dass ich die Chance bekommen hatte, ihn nochmal zu sehen.
Er wirkte kein bisschen angespannt, als er mit dem Officer sprach und an vielen Stellen schien er sich sogar zu amüsieren.
Man konnte ihm jetzt schon ansehen, dass ihm eine riesige Last von den Schultern genommen wurde, jetzt, da Hannah gefunden worden war.
Der Sanitäter legte mir eine Decke um die Schultern und schob mir einen Becher mit heißem Zitronentee in die Hand. Ich pustete den heißen Dampf von meinem Getränk und sah wieder zu Jake.
Würden sie ihn jetzt gleich mitnehmen, oder würde ich nochmal die Chance bekommen, mit ihm sprechen zu können?
Als hätte er meinen Blick gespürt, trafen seine Augen nun auf meine. Lächelnd griff er nach seinem Smartphone und tippte etwas. Als ich nicht verstand, weil ich mein Handy nicht bei mir hatte, deutete er mit einem Blick auf das Smartphone, was neben mir auf der Pritsche lag und offensichtlich dem Sanitäter gehörte.
Verwundert griff ich danach und öffnete – nachdem ich mich nochmal umgesehen hatte – die Nachricht, die er darauf geschickt hatte.
Jake: Wie geht es dir?
Ellie: Ich weiß es nicht. Ich verstehe nicht wirklich, was passiert ist. Ich habe den Peilsender verloren, wie habt ihr mich gefunden?
Jake: Ich musste etwas nachhelfen.
Ellie: ?
Jake: Eventuell habe ich jetzt noch eine Anzeige wegen Körperverletzung und Beamtenbeleidigung auf dem Hals :)
Ellie: Jake!
Jake: Sie hätten euch nicht rechtzeitig gefunden, Ellie. Sie hatten keine Ahnung. Also habe ich mich darum gekümmert.
Ellie: Aber wie?
Jake: Selbst in einem Raum voller Leute würde ich dich finden, Ellie.
Ich lächelte ein wenig.
Jake: Nein, aber ehrlich: In deinem Blumenkranz ist ein weiterer Sender versteckt. Tut mir leid.
Ich berührte den Blumenkranz auf meinem Kopf und zog ihn herunter. Die goldenen Blätter betrachtend fiel mir wieder die Wahrsagung von Lady Lotus ein Die goldene Krone des Königs. Ich lachte in mich hinein, unfassbar, dass es tatsächlich stimmte.
Jake: Was ist ?
Ellie: Nichts… nur danke. Du hast uns das Leben gerettet.
Ich wollte noch mehr schreiben, aber in diesem Moment, wurde Jake das Handy aus der Hand genommen und Handschellen angelegt. Es tat mir weh zu sehen, wie sie ihn in ihr Polizeiauto drückten und dass ich nicht wusste, wann ich je wieder mit ihm sprechen konnte.
Es tat weh nicht zu wissen, ob das nicht sogar das letzte Mal für eine sehr lange Zeit gewesen war.
Und zwischen all dem Trubel und den Tränen fiel mir ein, wie ich helfen konnte.
Ich konnte selber nichts ausrichten als Studentin und meine Freunde konnte ich in diesem Fall nicht fragen.
Doch als ich Jake sah, wie er noch immer jeden einzelnen der Polizisten angrinste, als wäre das alles nur ein Spiel, wusste ich, was ich tun musste.
Normalerweise nutzte ich es nicht aus, wenn jemand in meiner Schuld stand, aber in diesem Fall war es anders.
In diesem Fall ging es um Jake.
Ich nahm erneut das Telefon das Sanitäters zur Hand und tippte die Zahlen der Telefonnummer ein...