Seine Hand drückte so fest gegen meine Lippen und meine Nase, dass ich kaum Luft bekam. Verzweifelt rammte ich meinen Ellenbogen in seine Seite, doch er zuckte nur kurz zusammen, keuchte und zog mich schließlich unter größten Mühen hinter einen Baum. Mein Fuß traf mit voller Wucht sein Schienbein, ein leises Fluchen, dann knallte ich so sehr mit dem Brustkorb gegen die Rinde des Baumes, dass meine Lunge komplett zusammengedrückt wurde. Keuchend schnappte ich nach Luft und bekam nur am Rande mit, dass noch immer warme Flüssigkeit über mein Gesicht lief. Blut… mein Blut… vor meinen Augen tanzten bunte Punkte.
„Scheisse…“
„Jetzt sei doch still“, beim Klang dieser Stimme erstarrte ich plötzlich völlig. Seine Hand legte sich erneut auf meinen Mund und verschloss ihn fest, „Es ist alles gut, okay? Ich bin’s.“
Es war Jake.
Und er war wütend.
„Es ist alles in Ordnung, Ellie, ich bin’s… hör‘…“, mit geübten Griffen drückte er meine Hände auf den Rücken, „Hör’ bitte auf hier rumzuzappeln. Sonst hören sie uns, bitte…“
Da hörte ich es.
Schritte.
Leise. Langsam.
Das waren keine Schritte von einem der anderen. Diese Schritte waren nicht unsicher, nein, sie wurden mit Bedacht gesetzt.
Vorsichtig.
Berechnend.
Und sie waren viel zu nah.
Ich gab meinen Widerstand auf, was dafür sorgte, dass Jake seinen Klammergriff lockerte. Gänsehaut kletterte meine Arme nach oben. Er war hier. Der Mann ohne Gesicht.
Und er war mir so nah.
„Die anderen…“
„Ich habe ihnen längst geschrieben“, er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich zitterte, „Sie sind da hinten aus dem Wald raus, konnten dich aber nicht finden. Ich war die ganze Zeit in eurer Nähe… gerade so viel Abstand, dass ich euch noch hören konnte… großer Gott, Ellie, weißt du eigentlich was für eine dumme Idee das war? Für einen kurzen Moment dachte ich, ich habe dich ebenso verloren.“
„Ich bin hingefallen“, flüsterte ich leise zurück und versuchte mich so gut es ging nicht zu bewegen, „das war keine Absicht.“
„Es war eine Scheiss-Idee in den Wald zu gehen. Es war eine Scheiss-Idee nach Duskwood zu fahren und überhaupt war es eine Scheiss-Idee, dass ich dich…“„Jake…“
Das nächste Geräusch war nah. Zu nah.
Keine zwei Meter neben uns bewegte sich etwas im Gebüsch. Beinahe geräuschlos drückte Jake sich an mich und damit uns beide näher an den Baum und verdeckte uns dabei mit seiner schwarzen Kleidung.
„Bleib ganz still“, seine Stimme war nur ein Hauch, „beweg‘ dich nicht.“
Ich presste meine Augen zusammen, während ich den Schritten lauschte. Das leise Knacken kleiner Zweige, ein schwerer, träger Lauf. Dann das Knipsen einer Taschenlampe.
Fuck.
Ich konnte nicht atmen, presste mich so sehr gegen den Baum, dass ich das Gefühl hatte, mit ihm zu verschmelzen. Das Zittern, welches sich zunächst nur leicht angefühlt hatte, wurde immer stärker und ich hatte Angst, dass es uns verraten würde.
Als ich die Augen öffnete, konnte ich den Lichtstrahl erahnen, wie er durch das dichte Gestrüpp leuchtete und nach uns suchte.
„Shhh“, hauchte Jake leise.
Ich stellte mir vor, wie er uns gleich entdecken würde. Was würde dann geschehen? Würde er uns packen und uns sofort umbringen? Würde er uns bewusstlos schlagen und uns entführen, genauso wie Hannah?
„Hast du sie?!“
Und zum zweiten Mal an diesem Abend gefror mir das Blut in den Adern.
„Das ist…“
„Shhh…“
Ich presste meine Lippen fest aufeinander, während Tränen sich langsam ihren Weg über mein Gesicht bahnten. Das konnte nicht sein…
Das Klicken der Taschenlampe fühlte sich wie eine Erlösung an.
„Nein, nichts“, diese Stimme war tiefer, dunkler – und auch sie kam mir bekannt vor, „hätte schwören können, hier etwas gehört zu haben… tja…“Und dann entfernten sich die Schritte, schnell und sorglos. Ich konnte hören, dass sich die beiden Personen unterhielten, beide waren wütend, sie diskutierten harsch miteinander und dann irgendwann verstummten sie langsam.
Wir blieben noch eine Weile so stehen. Ich spürte, wie ich langsam wieder begann zu atmen, wie das Zittern langsam aufhörte und einer hysterischen, auslaugenden Müdigkeit Platz machte. Als Jake ein paar Schritte zwischen uns brachte, verlor ich für einen Moment das Gleichgewicht und lehnte mich kraftlos an den Baum, während ich sinnlos über mein verschmiertes Gesicht wischte.
„Das war…“
„Ich weiß.“Seine Stimme klang genauso resigniert, wie ich mich fühlte.
„Ich fasse es nicht… wie passt das alles zusammen… ich…“
„Warte mal, Ellie“, ich konnte nur seine Umrisse erkennen, als er sich mir langsam wieder näherte, „du bist verletzt und erschöpft, das sollten wir zunächst mal versorgen. Außerdem denke ich, dass wir beide erstmal einen Moment zum Durchatmen brauchen. Über das, was wir da gerade gehört haben, können wir uns auch noch morgen unterhalten.“
„Richtig“
Als er das sagte wurde mir erst so richtig bewusst, dass er hier war.
Jake war hier. Bei mir. Nicht er als Alex und auch nicht er per Nachricht.
Er war wirklich hier.
„Du bist hier“, murmelte ich albern vor mich hin.
„Ja.“
Zugegeben, seine Antwort fiel sehr kurz aus, doch als er aus seiner Jackentasche scheinbar ein Stück Stoff zog und es mir auf die Wunde drückte, musste ich lächeln.
„Und du bist wütend.“
Schweigen.
Ein paar Sekunden lauschte ich nur seinen zittrigen, unruhigen Atemzügen.
„Ich hatte dich gebeten nicht in den Wald zu gehen“, seine Worte waren messerscharf, „und ich habe dich gebeten, nicht nach Duskwood zu kommen. Dachtest du, das wäre ein Spaß? Dachtest du, dass ich nicht weiß, was passieren würde, sobald du auch nur einen Fuß in diese gottverdammte Stadt setzen würdest?“, wütend murmelte er ein paar unverständliche Worte vor sich hin, „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie gefährlich es für mich ist, so lange an ein und demselben Ort zu bleiben? Ich hätte schon längst weiterziehen müssen, aber es geht nicht, Ellie und weißt du auch warum nicht?“, Ich spürte, wie seine Hand an meiner Stirn zitterte, spürte seinen Atem auf meiner Haut, „Weil du hier einfach reinspazierst und alles auf den Kopf stellst. Das machst du mit den Wäldern, das machst du mit Duskwood und das machst du auch mit mir!“
Seine Worte trafen mich, denn er hatte recht. Bisher hatten meine Aktionen nichts weitergebracht, außer dass ich für noch mehr Unruhe gesorgt hatte. Ich hatte meine Freunde in Gefahr gebracht und Jake in Gefahr gebracht und als wäre das nicht genug, wäre ich heute auch noch beinahe dem Mann ohne Gesicht direkt in die Hände gelaufen.
„Denkst du es wäre besser gewesen, wenn Hannah niemals meine Nummer versendet hätte?“
Meine leise Frage hallte laut durch die Stille der Nacht. Es hatte zu regnen begonnen.
„Manchmal glaube ich das schon“, antwortete er ruhig, während er meine Hand nahm und mich vorsichtig auf die Beine zog.
Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Seine Zurückweisung bohrte ein tiefes Loch in mein Herz.
„Es tut mir leid“, meine Worte klangen sehr viel schwacher, als ich sie mir in meinem Kopf zurechtgelegt hatte, „Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen, Jake. Ich wollte niemanden in Gefahr bringen.“
Schweigend beobachtete ich seine Silhouette, stellte mir sein Gesicht vor, seine Augen…
Ich hätte niemals hierherkommen dürfen, denn genau das hatte der Täter – nein die Täter gewollt. Die Angst um mich und meine Freunde hatte mich zu einer absolut egoistischen Entscheidung gedrängt und jetzt hatte ich alles nur noch schlimmer gemacht.
Träge wischte ich mir den Dreck von den Armen und rieb mir mit dem Ärmel über die Stirn.
„Wie hast du mich eigentlich gefunden?“, ich konnte diese Stille nicht ertragen. Vorwurfsvolles Schweigen war nicht meine Stärke, „Ich habe meinen Standort doch deaktiviert.“Ein freudloses Lachen war seine Antwort, dann drehte er sich zu mir um. Wie gerne würde ich seine Augen sehen können.
„Es ist kein Problem für einen Hacker wie mich, deinen Standort auch ohne deine Zustimmung herauszufinden, aber in diesem Fall… Ich war euch gefolgt und als ich dich verloren hatte… tja, keine Ahnung Intuition? Vermutlich würde ich dich auch in einem Raum voller Leute sofort finden, Ellie. Du bist so…“, er seufzte leise, als er weitersprach war die Härte aus seiner Stimme verschwunden, „Wir sollten gehen, du bist verletzt und völlig durchnässt.“
Vorsichtig versuchte ich seinen Schritten zu folgen, doch nach nur ein paar Metern stolperte ich erneut – wahrscheinlich sogar über dieselbe gottverdammte Wurzel.
Noch bevor ich auf den Boden fallen konnte, zog Jake mich erneut nach oben. Unbeholfen stützte ich mich bei ihm ab.
„Sorry“, murmelte ich peinlich berührt, „Mein Kopf… mir ist einfach ein bisschen… schwindelig.“
Vorsichtig legte er seine Hand um meine Schulter. Die Wärme seines Körpers legte sich über meine Arme, ein wohliges Schauern fuhr durch meinen Körper.
„Danke, Jake“, flüsterte ich kaum hörbar, „für deine Hilfe.“
Nach ein paar Schritten blieb er erneut stehen und drehte sich zu mir. Ich konnte seine Augen nicht sehen, dennoch spürte ich deutlich, wie er mich ansah.
„Ellie, ich…“
Für ein paar Sekunden war es komplett still. Da waren keine Geräusche. Nur wir und der Regen und unser Atmen. Nur wir, nass und unbeholfen und wütend und verletzt.
Da waren nur wir.
„Ach scheiss drauf…“
Dann überwand er die Entfernung zwischen uns und küsste mich.
Und seine Lippen schmeckten nach Pfefferminz und Wärme und Jake. Es dauerte einen Moment, bis ich aus meiner Schockstarre erwachte. Seine Hände legten sich vorsichtig auf meinen Rücken und ich stolperte unbeholfen in seine Umarmung. Seine Lippen küssten mich sanft und weich und meine Knie wurden schwach. Meine Hände krallten sich in seinen Pullover, während sich der Kuss intensivierte. Jakes Lippen öffneten sich leicht und er presste sich noch fester an mich. Ich konnte die Wärme seines Körpers spüren, seine Hände in meinen Haaren. Diese Küsse fühlten sich an wie Fieber, doch ich konnte nicht aufhören. Nicht jetzt. Nicht hier.
Vergessen war die Gefahr, der wir erst vor ein paar Minuten ausgesetzt waren.
Vergessen der Streit und die Unsicherheiten.
Das hier waren wir. Jake und Ellie und als dieser Mann meine Lippen zum ersten Mal berührten, wusste ich, dass unsere ganze Geschichte – all die Nachrichten und kleinen Flirts, all das Hinterfragen und die Zweifel – keine Traumschlösser waren. Jake… dieser wundervolle Mann war hier und küsste mich.
Wir keuchten beide, als wir unseren Kuss lösten. Ich spürte seine Stirn an meiner.
„Du hast dein Versprechen gehalten“, murmelte ich lächelnd und genoss wie seine Hand auf meinem Rücken kleine Kreise zeichnete.
„Was meinst du?“, seine Stimme war ein raues Flüstern. Mein Herz flatterte.
„Du hast gesagt, du willst mich beim nächsten Mal küssen.“
Ich hörte sein Lächeln und kurz darauf spürte ich seine Lippen erneut auf mir. Seine Wärme und die Art wie seine Zunge mit mir spielte brachte mich schier um den Verstand.
„Ich halte meine Versprechen in den meisten Fällen“, flüsterte er gegen meinen Mund, „obwohl ich das schon wollte, bevor ich dich das erste Mal gesehen habe… Ellie, du hast keine Ahnung, was du mit mir anstellst…“Ich verlor mich wieder in seinen Händen, genoss dass Gefühl seines Körpers, den er gegen meinen presste, erkundete seine Haare mit meinen Händen.
Als ich spürte, wie seine Finger an meinem nackten Bein entlangwanderten und eine Spur von Gänsehaut hinterließen, löste ich mich schließlich von ihm.
„Tut mir leid“, hauchte er lächelnd.
„Alles gut“, atemlos strich ich mir durch die wirren Haare, „Wir sollten nur… ich meine… also, nicht hier.“
Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, als er meine Hand nahm und mich hinter ihm durchs Dickicht zog. „Du hast recht, bringen wir dich hier raus.“
Noch immer wackelig auf den Beinen folgte ich ihm durch den stockfinsteren Wald. Es dauerte nicht lang, bis wir schließlich an einer Straße ankamen.
Ein paar Minuten später landeten wir an unserem Ausgangspunkt und damit auch bei den anderen, die dort auf uns warteten.
Sie waren nicht mehr so euphorisch, wie ich sie in Erinnerung hatte, eher standen sie etwas betroffen und mit gesenkten Blicken zusammen und redeten leise miteinander.
Der erste, der uns bemerkte war Phil. Ich konnte seinen Blick schwer deuten, doch als er auf unsere Hände sah, fuhr er sich ruppig durch die Haare und sagte etwas zur Gruppe, kurz darauf waren alle bei uns.
„Danke, Jake“, sagte Lilly, ihr Blick war müde und betreten, „Dass du uns gewarnt hast.“
Sie sprachen eine Weile über das, was geschehen war. Wie die Gruppendynamik uns alle dazu gedrängt hatte, in den Wald zu gehen, dass sich alle immer weiter angestachelt hatten, dass niemand wirklich schuld daran war.
„So etwas passiert öfter als man denkt“, erklärte Jessy, „dass sehe ich oft in True-Crime-Dokus, dass sich soziale Gruppen zusammenfügen und dann eine Art Hetzjagd veranstalten… ich habe in dem Moment tatsächlich gedacht, dass das eine gute Idee wäre.“
Ich hatte Probleme dem Gespräch zu folgen, denn meine Gedanken rasten so schnell, dass es mir schier unmöglich war, auch nur einem einzigen zu folgen.
Ich bekam noch mit, dass Jake zwar jedem nochmal sehr deutlich machte, dass voreilige Entscheidungen niemandem helfen würden, aber dass auch er niemandem die Schuld gab.
Als er mit den anderen redete, konnte ich nichts weiter tun, als ihn im Scheinwerferlicht anzusehen. Das schwarze Haar fiel ihm in lockigen Strähnen ins Gesicht. Vorbei war der seltsame Kontrast zwischen dem blonden Haar, was er als Alex getragen hatte. Ich beobachtete, wie er hochkonzentriert zuhörte, als Thomas ein paar Beobachtungen teilte und sah, wie er seine blauen Augen verdrehte, als Phil etwas sagte. Jake war ein unfassbar gutaussehender Mann. Ich hatte nicht das Gefühl jemals wieder wegschauen zu können.
Als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, lächelte er ein kaum wahrnehmbares Lächeln und drückte meine Hand.
„Wir sollten morgen alles Weitere besprechen“, unterbrach er Dan, der sich darüber aufregte, dass er seine Chance den Mann ohne Gesicht verprügeln zu können, verpasst hatte, „Wir sind sicher alle müde und haben für heute genug zu verarbeiten. Wir sollten nach Hause gehen.“
Ich seufzte leise in mich hinein, wohlwissend, dass meine Zeit mit ihm nun vorüber war.
„Ellie, ich ähm…“, er sah kurz auf seine Schuhe, als würde er da finden, was er sagen wollte, „Ich würde dich für heute Nacht gerne mit zu mir nehmen…“Jessys Uuuh gefolgt von einem lauten Kichern machte die Situation noch unangenehmer, als sie eh schon war.
Mit geröteten Wangen trafen seine blauen Augen auf meine.
„Ich mache mir einfach Sorgen… du hattest vorhin eine Panikattacke und die Sache im Wald… ich will einfach nicht, dass du heute Nacht alleine bist.“
Nun war es an mir rot zu werden und während Phil sich ebenso für einen Schlafplatz anbot, was Jake gekonnt ignorierte, erklärte sich Lilly bereit, schnell mit Dan in meiner kleinen Ferienwohnung Herrn Müller abzuholen, der dringend eine Gassi-Runde brauchte.
„Ich hole ihn morgen früh bei dir ab“, versicherte ich ihr, was sie mit einem Zwinkern beantwortete.
Wir durchquerten die dunklen Straßen Duskwoods schweigend, jeder von uns seinen eigenen Gedanken folgend. Wir verabschiedeten uns von den anderen an einer Straßenecke, die ich bisher noch nicht kannte und als Jake schweigend voraus ging, versuchte ich zu erahnen, wo genau wir uns befanden. Erst als ich von Weitem ein paar bekannte Häuser erblickte, stellte ich fest, dass er eine Straße von mir entfernt gewesen war – die ganze Zeit.
Zu benommen und zu müde, um weitere Fragen zu stellen, folgte ich ihm leise, bis er an einem kleinen Laden für Drogerieartikel stehen blieb und einen Schlüssel zückte.
„Der Besitzer vermietet sein Hinterzimmer, weil er durch die großen Ketten kaum noch Einnahmen hat“, beantwortete er schulterzuckend meine unausgesprochene Frage, „es ist kein Luxus, aber es ist gut versteckt und ich … war näher bei dir.“
Mit stolperndem Herzen lief ich hinter ihm her durch den dunklen Laden, bis wir schließlich im Hinterzimmer ankamen.
Es war wesentlich größer als ich es mir vorgestellt hatte. Es gab zwei Fenster, die provisorisch mit Decken verhangen waren. In der Mitte des Raumes stand ein abgesessenes Sofa, das offensichtlich ausklappbar war, denn direkt daneben lagen unordentlich gestapelte Kissen und Zudecken. Jake hatte mehrere Tische zusammengezogen und sie an der Wand zu einer Art Schreibtischlandschaft gestellt, darauf stand eine unfassbare Menge an Technik – Monitore, ein Laptop, mehrere Handys und eine externe Festplatte – die mit monotonem Summen ihre Arbeit verrichteten.
„Hinter der Tür da ist eine Toilette und eine Dusche“, murmelte Jake, während er hastig ein paar Fastfood-Verpackungen aufsammelte, „Entschuldige, ich habe nicht mit Besuch gerechnet und ja…“
Ein wenig hilflos sah er zu mir und winkte mich schließlich aufs Sofa.
„Willst du etwas essen? Ich könnte versuchen etwas Liefern zu lassen, obwohl das wahrscheinlich wohl eher schwierig wird, hier…“
„Ich habe eigentlich gar keinen Hunger, Jake, alles gut“, er nickte und lief zu der kleinen Kochnische, um nach einem der sauberen Gläser zu greifen.
Es war seltsam hier zu sein. Auch wenn ich oft das Gefühl hatte, dass wir uns schon sehr lange kannten, war ich jetzt hier – bei ihm, in seiner Welt, von der ich so oft gedacht hatte, dass er sie behütete, wie seinen Augapfel. Mit müden, schweren Augenlidern überquerte ich langsam die Schritte bis zu dem viel zu bequem aussehenden Sofa und ließ mich darauf fallen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie klitschnass meine Sachen waren und wie sehr ich fror.
„Hier“, die Jogginghose und der Pullover, welche er mir gab, fühlten sich warm und kuschelig an, „die werden sicher etwas zu groß sein, aber besser als dein durchnässtes Kleid sind sie allemal.“
Schnell verschwand ich im Badezimmer, duschte heiß und schlüpfte schließlich in die trockenen, herrlich warmen Klamotten. Als ich mich im Spiegel betrachtete, musste ich beinahe lachen. Ich sah wirklich lächerlich klein in Jakes Sachen aus, aber ich liebte den Gedanken, dass er sie sonst trug und atmete lächelnd seinen Geruch ein, der in Jakes Kleidung hing.
Als ich zurück ins Hinterzimmer kam, saß Jake auf dem Stuhl vor seinem PC und schien in ein Projekt vertieft. Seine Finger flogen schnell über die Tastatur, während er seinen Blick ständig von einem Bildschirm zum anderen wandern ließ. Über eine Audio-Wiedergabe ertönte leise Lofi-Musik, etwas was mir ebenso beim Fokussieren half.
Jake hatte seinen schwarzen Pullover ausgezogen und ihn achtlos über die Rückenlehne gehangen. Das weiße Shirt, was er nun trug, war tropfnass von seinen Haaren, doch das schien ihn nicht weiter zu stören. Die Hand leicht an die Stirn gelegt, schien er über irgendetwas sehr stark nachzudenken. Mit den Augen verfolgte ich die langen, dunklen Wimpern, die gerade Nase mit dem kleinen Knubbel, seine Lippen, die sich so unglaublich gut angefühlt hatten, …
Ergeben ließ ich mich auf das Sofa fallen, erst jetzt bemerkte ich, dass er mir eine Tasse mit dampfendem Tee hingestellt hatte. Seufzend zog ich meine Beine an und legte meine Hände an das warme Gefäß, der Duft von Rooibusch und Vanille stieg mir in die Nase und ich nippte vorsichtig.
Ich wollte ihn nicht stören, dennoch gab es so viele Fragen.
So viel von dem ich nichts wusste, Dinge, die ich nicht verstand.
Aber neben all dem – den ganzen Ereignissen dieses unfassbar langen Tages wollte ich von allen Dingen nur eines: Jakes Lippen nochmal auf meinen spüren.
Seufzend stellte ich die Teetasse neben mir ab und kuschelte mich tiefer in die Sitzpolster hinein. Und während ich ihn so beobachtete – ganz vertieft in das, was er tat – schlief ich endlich, endlich ein.
*
Als ich am nächsten morgen die Augen öffnete, dauerte es eine Weile, ehe ich verstand, wo ich war. Für einen kurzen Moment hatte mein Kopf versucht mir einzureden, dass all das, was letzte Nacht passiert war, ein Traum gewesen sei, dass nichts davon wahr war. Doch als sich ein paar warme Sonnenstrahlen durch die dicken Decken an den Fenstern stahlen, wusste ich, dass nichts davon eingebildet gewesen war. Mein erster Blick fiel auf den Stuhl, auf dem Jake gestern noch gesessen hatte, doch dieser war nun leer. Noch immer konnte man deutlich das Surren der Geräte vernehmen, doch von deren Besitzer fehlte jede Spur. Gerade als ich begann mich aufzustützen, um mich nach Jake umzusehen, bemerkte ich seine Arme.
Seine Arme, mit denen er mich von hinten umarmte.
Seine langen, schlanken Finger langen entspannt auf meinem Bauch und ich konnte seinen ruhigen, entspannten Atem in meinen Haaren spüren. Mein Herz begann zu klopfen und mit einem Mal wollte ich mich überhaupt nicht mehr bewegen – geschweige denn jemals aus dieser Position heraus. Ich spürte seinen Oberkörper an meinem Rücken und wie sein Kinn auf meinem Kopf ruhte. Sein Bein lag halb über meinen und er schlief so ruhig und fest, dass ich ihn niemals hätte aufwecken wollen.
Stattdessen schloss ich für einen Moment einfach die Augen und genoss so ruhig in seinen Armen liegen zu können. Selbst im Schlaf hielt er mich fest und ich liebte das Gefühl, dass er mich bei sich haben wollte. Vorsichtig ließ ich meine Hände über seinen Arm wandern, streichelte seine Haut. Er bewegte sich ein wenig, murmelte etwas Unverständliches in meine Haare, umarmte mich fester.
Zittrig atmete ich aus und lehnte mich mehr zu ihm. Ich wollte jede Sekunde dieser unschuldigen Umarmung auskosten, alles fühlte sich so sicher und friedlich an…
Als er sich ein wenig von mir löste, merkte ich, dass Jake wach war.
„Hey“, flüsterte er leise, streichelte dabei über meinen Kopf, „Ellie? Bist du wach?“
„Mhm“, murmelte ich eine schlaftrunkene Antwort und drehte mich in seiner Umarmung zu ihm um, „schon eine Weile.“
Bei Tageslicht wirkten seine Augen noch heller und ich entdeckte kleine, feine Sommersprossen auf seinem Nasenrücken, die nur von den Augenringen unterbrochen wurden, welche von seinen schlaflosen Nächten zeugten.
„Tut mir leid, dass ich mich einfach so zu dir gelegt habe“, seine Stimme war noch rau vom Schlaf, während er die Müdigkeit wegblinzelte, „Ich hatte ehrlich gesagt nicht mal mitbekommen, dass du zurück aus dem Bad warst und dann warst du einfach eingeschlafen.“„Ich war sehr müde und du warst beschäftigt… ich wollte dich nicht stören“, abwesend zeichnete ich den leichten Schwung seiner Lippen mit der Fingerspitze nach, „Außerdem musst du dich ja wohl nicht dafür entschuldigen, dass ich deinen Schlafplatz annektiere.“
Lächelnd begann Jake mit einer meiner Haarsträhnen zu spielen.
„Eigentlich hätte ich auch auf dem Boden schlafen können, aber als ich dich da schlafen gesehen habe… in meinen Sachen“, grinsend zuckte er mit den Schultern, „Da war mir die Wahl ehrlich nicht schwergefallen.“
Ich kicherte leise und albern, während ich näher an ihn heranrückte, Jakes Hand zeichnete kleine Kreise auf meinem Rücken.
„Du glaubst nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, Ellie.“
Seine Augen wanderten über mein Gesicht und blieben an meinen Lippen hängen.
„Auf was“, flüsterte ich rau bevor er mich begann zu küssen.
Dieser Kuss war zart, fast vorsichtig. Seine Lippen wanderten wie Schmetterlingsflügel über meine, während er mich näher an sich drückte. Ich seufzte leise, als ich schließlich seine Zunge spürte und meine Hände neugierig über seinen Körper wandern ließ. Meine Finger wanderten über seine leicht definierten Oberarme, streichelten die empfindliche Stelle im Nacken.
Jakes Zunge spielte mit meiner, während er über die Seite meiner Beine strich und schließlich meinen Po umfasste. Er stöhnte leise in meinen Mund, als ich es ihm gleichtat und in mich hinein lächelte. Ich spürte seine Berührung zunächst am Rand meines Pullovers, dann schließlich auf der nackten Haut meines Bauchs, was dazu führte, dass Hitze in mir aufstieg. Jede seiner Berührungen hinterließ kribbelnde Spuren und Sehnsucht nach mehr. Ich küsste ihn an der Stelle hinter seinem Ohr, hinunter zu seinem Hals, er keuchte leise, flüsterte meinen Namen.
Seine Hände wanderten vorsichtig über meinen Rippenbogen, hinterließen brennende Haut, kribbelnd zog sich mein Unterleib zusammen.
„Ist das okay?“, flüsterte er keuchend, als ich meine Hand auch über seinen Bauch wandern ließ, „Ich will dich nicht bedrängen…“
An seinen Lippen lächelnd zog ich mir seinen Pullover über den Kopf und warf ihn quer durch den Raum. Für einen Moment starrte er mich an, das Hellblau seiner Augen wirkte dunkler, hungriger, als er seinen Blick über meine nackten Brüste schweifen ließ. Ein bisschen peinlich berührt widerstand ich dem Drang mich wieder zu bedecken, als er schließlich seine Hände genüsslich über meine Rundungen wandern ließ. Ich zog Jake zurück zu mir und begann ihn erneut zu küssen, schlang meine Beine um seine Hüften und spürte deutlich, dass ihm das, was wir taten genauso gefiel wie mir.
Seine Zunge wanderte über meinen Oberkörper, während ich meine Hände in seine Haare vergrub.
„Oh Gott, Jake…“
Und dann plingte plötzlich lautstark eine Meldung an seinem PC auf und noch bevor ich überhaupt versuchen konnte, diese zu ignorieren, kam bereits eine weitere dazu.
Jake hielt inne und seufzte dann genervt.
„Mist…“, entschuldigend setzte er sich auf, und lächelte mit errötetem Gesicht auf mich herab, „das ist leider wichtig, Ellie.“
Schwer atmend nickte ich, bedeckte mein Gesicht mit dem Arm und versuchte aus dem Rausch, die Jakes Küsse in mir auslösten, zurückzukehren.
„Schon gut, Jake“, keuchte ich ein wenig fassungslos über mich selbst.
Hätte ich gerade beinahe mit Jake geschlafen?
Wow, Ellie…
Grinsend ließ er seine Hände noch einmal über meinen Oberkörper wandern, bevor er aufstand.
„Ich kann es nicht fassen, dass du hier bist“, flüsterte er und klang dabei genauso verwirrt, wie ich mich fühlte, „und ich kann nicht fassen, wie wenig ich mich in deiner Anwesenheit unter Kontrolle habe.“
Mit hochrotem Kopf suchte ich nach dem Pullover, während Jake die Meldungen, die er bekommen hatte, abarbeitete.
„Das war Bloomgate“, murmelte er geschäftig, „er probiert wieder und wieder dein Handy zu knacken… der Typ ist wirklich hartnäckig, das muss man ihm lassen.“
Nickend durchsuchte ich die kleine Kochnische nach etwas, was wie Kaffee aussah – vergebens.
„Wir sollten über gestern Abend sprechen, Jake. Über das was wir gesehen haben und schlimmer noch, was wir gehört haben.“„Das stimmt“, er drehte sich auf dem Stuhl um und beobachtete mich und meine Suche, „Wir müssen alle Informationen ordnen und dann schauen, wie das alles zusammenpasst. Aber zuerst…“, schnell schwang er sich auf die Beine und griff nach dem Portemonnaie, das auf dem Wohnzimmertisch lag, „Besorge ich uns etwas zum Frühstücken und Kaffee.“
Erfreut klatschte ich in die Hände und begann, die Kissen und Decken, welche wir in unserer Hitzköpfigkeit überall verteilt hatten, aufzusammeln und zu ordnen. „Versprichst du mir noch da zu sein, wenn ich wieder zurück bin?“
Er zog sich ein frisches, graues Shirt über den Kopf, ohne den Blick von mir abzuwenden – ich konnte noch immer seine Lippen auf meinen fühlen.
„Natürlich“ flüsterte ich fast etwas benommen und sah dann leicht verlegen auf den Boden, „Ich werde hier sein.“„Gut“, murmelte er und mit einem letzten Lächeln verschwand er aus der Tür.
Da er ein paar Minuten brauchen würde, beschloss ich die Zeit, die ich hatte, damit zu verbringen, den Tisch zu decken. Nach einer kleinen Suche fand ich einen sauberen Teller, zwei Tassen und zwei Messer – schließlich entdeckte ich einen weiteren Teller auf Jakes Schreibtisch. Mit dem Teller in der Hand wanderte mein Blick ganz automatisch über die Bildschirme.
Viele Sachen darauf waren für mich böhmische Dörfer. Auf einem Bildschirm lief fortwährend ein Programm und schien irgendetwas zu entschlüsseln. Auf einem anderen schien eine Funktion weiterführend nach Suchanfragen in Bibliotheken in näherer Umgebung zu recherchieren.
Doch neben all den Dingen fiel mir vor allem ein was ins Auge: der Laptop.
Offensichtlich benutzte Jake genau dieselben Programme zum Entschlüsseln von Hannahs Cloud, die er auch mir zur Verfügung gestellt hatte. Es war schnell zu sehen, dass er sie tatsächlich komplett dechiffriert hatte, doch das war nicht das, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Auf dem Bildschirm des Laptops war eine Bilddatei geöffnet.
Eine Bilddatei, die offensichtlich aus Hannahs Cloud kam.
Es handelte sich dabei um ein Kinderbild, was eindeutig am Schwarzwassersee aufgenommen worden war, denn ich kannte die Stelle, die dort auf dem Foto zu sehen war.
Es war genau dieselbe Stelle, bei der Lilly und ich letztens waren, um zu sprechen.
Auf dem Bild waren vier Kinder zu sehen. Drei Mädchen und ein Junge.
Hannah war nicht schwer zu erkennen, denn das aufgeschlossene, freundliche Gesicht stach einfach heraus. Neben ihr: Amy, das hellblonde Haar in zwei Zöpfe gebunden, den Mund zu einem breiten Lachen verzogen, während der Junge neben ihr wie ein Superheld posierte. Den kindlichen Bizeps gespielt gespannt stand da Richie mit Zahnspange und einer viel zu großen Baseballcap. Doch all das war nicht das, was mich am meisten schockierte, denn neben Richie auf dem Boden saß ein weiteres breit lächelndes Mädchen.
Die Latzhosen mit den Marienkäfern kamen mir bekannt vor, ebenso wie das grüne Halstuch, was mir eine Mutter mal geschenkt hatte.
Ich hielt den Atem an, denn das Mädchen was mir da entgegenlächelte kannte ich.
Das Mädchen neben Hannah, Amy und Richy war ich.