Kühler Wind fegte über die leere Straße, die raus aus Duskwood führte.
Jetzt, wo ich wieder hier war – an der Tankstelle, neben dem kleinen Busbahnhof – wurde mir erst bewusst, dass es genau vier Wochen her war, dass ich Hals über Kopf nach Duskwood gefahren war.
Ich hatte aus einer Welt, die ausschließlich in einem Chat existiert hatte, Realität gemacht – meine Realität… und jetzt würde ich zurückfahren. In mein zu Hause, meine Gewohnheit und meinen Alltag.
Ein bisschen schwer wurde es mir schon ums Herz, denn ich hatte diese leicht angegraute Kleinstadt echt liebgewonnen.
Mittlerweile konnte ich verstehen, warum meine Eltern hier gerne Urlaub mit uns gemacht hatten. Alles war so ruhig und langsam irgendwie… da gab es die kleinen Cafés, den Stadtkern, die kleinen verwinkelten Ecken, die immer ein bisschen so aussahen, wie aus der kitschigsten Version eines Märchenbuchs… und nun ging es für mich zurück in die Großstadt.
Lärm und Stress und viele Erwartungen.
Auch mein zu Hause würde für mich nicht mehr dasselbe sein.
Die letzten Wochen hatten bei mir Spuren hinterlassen und es gab sehr viel aufzuarbeiten. Mit Hilfe von Dr. Barret, der mich im Krankenhaus besucht hatte, war es mir möglich sofort einen ambulanten Therapieplatz in meiner Heimatstadt zu bekommen.
„Es wird ein langer Weg“, sein Lächeln hatte nicht mehr so aufgesetzt gewirkt. Wahrscheinlich war auch er erleichtert gewesen, dass alles gut ausgegangen war, „sie haben viel aufzuarbeiten. Ihr altes Trauma und nun auch die jüngsten Erlebnisse… das alles wird nicht leicht. Aber sie sind eine starke Persönlichkeit, ich bin mir sicher, dass sie das schaffen.“
Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sich die Blätter gerade in den schönsten Farben färbten, oder daran, dass es sich das erste Mal seit Wochen wieder so anfühlte, als könnte ich durchatmen – aber ich war mir selbst auch sicher, dass ich das schaffen würde.
Herr Müller machte sich freudig über ein Stückchen Wiese am Fahrbahnrand her und ich beobachtete ihn dabei. Es war unglaublich, wie viel wir in diesen Wochen erlebt hatten und wie viel überlebt.
Hansons Schuss an meiner Schulter war Gott sei Dank nur ein Streifschuss gewesen, anders hatte es allerdings mit meinem Kopf ausgesehen.
„Schädel-Hirn-Trauma“, hatte der Stationsarzt kurz und knapp erklärt. Dann musste ich zwei Wochen im Krankenhaus verbringen.
Hannah wurde im selben Haus behandelt, jedoch wurden wir in getrennten Zimmern untergebracht, einerseits, weil sie wesentlich schwerer verletzt war als ich und zum anderen, weil sie bereits die ersten Aussagen von uns aufgenommen hatten, als wir halbwegs vernehmungsfähig gewesen waren.
Als jemand anderes als Alan Bloomgate das Zimmer betrat, um mit mir zu sprechen, war ich mehr als überrascht gewesen und konnte es mir auch nicht verkneifen, den jungen, sehr freundlichen Polizisten nach ihm zu fragen.
„Mr. Bloomgate ist suspendiert worden, bis es zu seiner Anhörung kommt.“
Tatsächlich hatte seine Entscheidung den besprochenen Schutz auf dem Pineglade-Fest aufzugeben, um Jake dingfest zu machen beinahe dazu geführt, dass wir hätten sterben können.
Es war Jessy, die mit mir darüber gesprochen hatte.
„Es war wirklich verrückt, Ellie“, murmelte sie mit vollem Mund, als sie meine Götterspeise gegessen hatte, „sie hatten plötzlich mir nichts, dir nichts ihren Plan geändert, sind einfach losgerannt… haben Jake festgenommen und niemand… wirklich niemand hatte dann mitbekommen, dass du verschwunden warst. Lilly war diejenige, der es als erstes aufgefallen ist, aber wir konnten es niemanden sagen, es war ja kein Polizist mehr am Platz.“
„Dein Freund Jake… er hat die ganze Zeit auf die Polizisten eingeredet, aber sie wollten nicht hören“, Phil war an einem anderen Nachmittag zu Besuch bei mir gewesen und hatte die Geschichte seiner Schwester mit weiteren Informationen vervollständigt, „Ich hatte gerade ein neues Met-Fass geholt, als ich das Ganze gesehen hatte. Sie hatten ihm überhaupt nicht zugehört und…“, er lachte anerkennend, „Dann hat er einfach ausgeholt und dem einen Typen so dermaßen eine reingehauen, dass alle völlig aus dem Konzept waren und er einfach so wegrennen konnte.“
Tatsächlich hatten wir es letztendlich Jake zu verdanken, dass er ein paar Sekunden vor der Polizei am Tatort angekommen war und zu Michael ins Auto kletterte und ihm dort die Waffe abgenommen hatte.
„Es war wirklich unfassbares Glück gewesen“, Lilly hatte meine Hand gedrückt, während sie das sagte. Hannahs Schwester war jeden Tag bei mir gewesen. Es war verrückt, dass gerade sie diejenige war, bei der ich mir sicher war, dass ich mich niemals mit ihr verstehen könnte, die ich aber jetzt mit am meisten vermissen würde.
Oft war auch Dan bei ihr gewesen und es war schön zu sehen, dass ihr die letzten Wochen, jetzt, da Hannah wieder da war, so gutgetan haben. Jegliche Form von Verbitterung war aus ihrem Gesicht verschwunden, da war nur noch Erleichterung und Liebe und ich glaubte ehrlich in dieser Zeit nochmal eine ganz neue Lilly kennenlernen zu dürfen.
„Ich habe mit meinen Eltern geredet“, sie hatte Kuchen aus dem Café Regenbogen mitgebracht, den wir gemeinsam auf meinem Bett aßen. Überrascht blieb mir beinahe der Schokoladenkuchen im Hals stecken.
„Über die Sache mit Jake? Oh Gott Lilly…“
„Meine Mutter wusste es bereits“, sie sah mich an, aber gleichzeitig an mir vorbei, „Mein Vater hatte ihr die Affäre direkt, nachdem sie beendet war, gebeichtet. Sie hatten eine Zeit lang eine schwierige Phase miteinander gehabt und in dieser ist er ihr fremdgegangen… sie meinte, dass sie in diesem Abschnitt selbst nicht ganz sie selbst gewesen war und dass sie sich schon lange ausgesprochen hatten. Allerdings…“
„Allerdings was, Lilly?“
„Sie wussten beide nichts von Jake… anscheinend hatte seine Mutter niemals wieder Kontakt zu meinem Vater aufgesucht…“
„Wow… das ist so traurig“, ich konnte mir gar nicht vorstellen für wen das schlimmer war, für das Elternteil, dass nach Jahren erfuhr, dass es ein nunmehr erwachsenes Kind hatte, oder für das Kind, das die ganze Zeit über geglaubt hat, dass sein Vater kein Interesse an ihm hat.
„Weiß Hannah schon davon?“
Lilly nickte langsam und ihr Blick zeigte, dass dieses Gespräch kein einfaches gewesen zu sein schien.
„Sie braucht Zeit… ich meine, sie hat Thomas und liebt ihn und alles… aber es ist glaube ich einfach komisch zu wissen, dass man mal in den eigenen Halbbruder verliebt war.“
Ich hatte sie am Tag meiner Entlassung besucht. Die Hämatome waren verblasst, aber es würde noch eine ganze Zeit dauern, ehe Hannah wieder nach Hause dürfte. Dadurch, dass sie über mehrere Wochen jeden Tag nur einen Müsliriegel von ihren Entführern bekommen hatte, musste sich ihr geschundener Körper nun erstmal wieder auf normale Nahrung einstellen. Außerdem musste ein Rippenbruch behandelt werden und die Schusswunde, in ihrem Oberschenkel.
„Ich soll nach der Behandlung erstmal noch in eine Reha“, ihr Muskel hatte durch die Kugel erheblichen Schaden davongetragen und dadurch, dass sie wegen der Wundheilung nicht aufstehen konnte, musste sie nun wieder nach und nach schmerzfreies Laufen lernen.
„Es tut mir leid, dass er dir ins Bein geschossen hat“, begann ich, doch konnte den Satz kaum aussprechen, ohne dabei zu Tränen zu unterdrücken, „Ich weiß, dass das nicht passiert wäre, wenn ich nicht so stur gewesen wäre, ich…“
„Hey“, sie legte ihre Hand auf meine Schulter und lächelte, „Das war eine Ausnahmesituation… wer, wenn nicht wir sollten wissen, dass man da nicht wirklich Herr seiner Sinne ist. Außerdem… du hast mich gerettet, Ellie, ohne dich wäre ich jetzt tot… scheiss doch jetzt mal auf dieses Bein.“
Wir unterhielten uns noch eine Weile darüber, wie verrückt das alles einfach gewesen war, bis sie mich schließlich verschwörerisch angrinste.
„Du und Jake, also mhm?“
Beschämt schlug ich die Hände vors Gesicht, diesem Teil des Gesprächs wäre ich nur zu gerne ausgewichen.
„Ah… hör auf, das ist so unangenehm, du warst auch mal verliebt in ihn.“
Hannah lachte und schlug mir gespielt auf den Oberschenkel.
„Ich war vierzehn Ellie und fand es faszinierend, dass er Hacker ist… ich hatte die ganze Zeit so ein Bonnie und Clyde – Ding im Kopf, wir beide gegen den Rest der Welt, weißt du? Das war einfach eine Teenager-Romanze, nichts weiter. Außerdem war mir schon sehr schnell klar, dass er mich nicht so mochte, wie ich ihn.“
Sie zuckte mit den Schultern und zwinkerte mir zu.
„Außerdem hab ich Thomas und… nach diesen ganzen Erfahrungen weiß ich einfach, dass er der Richtige für mich ist.“
Ich dachte daran, dass Thomas der Einzige war, der immer nur daran interessiert war, Hannah zu finden… um jeden Preis.
„Das glaube ich auch, Hannah.“
Er hatte sie jeden Tag besucht, war der einzige, die die vorgegebene Zeit immer gänzlich ausnutzte und als ich ihn einmal zufällig auf dem Gang getroffen hatte, wirkte er ganz anders als der Thomas, den ich kennen gelernt hatte.
Es machte mich glücklich, dass es zu sehen, dass alles langsam zwar nicht normal, aber besser wurde.
Herr Müller, der gerade sein Geschäft verrichtet hatte, stand mit wedelndem Schwanz vor mir und verlangte nach einem Leckerli. Da ich die letzte Packung gestern aufgebraucht hatte, leinte ich ihn kurzerhand an und lief in das Ladengeschäft der Tankstelle.
Sie hatten keine riesige Auswahl, aber die üblichen Snacks und Kleinigkeiten. Schnell fand ich Müllers Lieblingsleckerlies, nahm mir noch einen Pfirsich-Eistee und lief damit zur Kasse.
Mittlerweile erschrak ich nicht mehr, wenn ich sein Bild sah, doch es fühlte sich noch immer grotesk an, Michael Hansons Bild auf einem der Titelblätter der Lokalzeitung zu sehen. Die letzten Wochen war er immer wieder zum Thema geworden. Zunächst gab es nur die Mitteilung, dass Hannah gefunden wurde, doch als die Presse gemerkt hatte, wie groß das Interesse an diesem Kriminalfall war, schlachtete sie die Thematik aus. Ob sie seiner Familie auflauerten, oder aber plötzlich bei Hannah im Zimmer standen, um sie zu interviewen, die Medien waren bissig und gaben kaum Ruhe.
Auch deshalb war es so wichtig, dass Hannah in die Reha kam und ich nach Hause fuhr.
Kurz nahm ich eines der schwarz-weiß gedruckten Exemplare aus dem Zeitungsständer und blätterte zu dem Artikel.
Es war gut, dass wir es geschafft hatten, eine einstweilige Verfügung zu erwirken, damit Richy nicht in den Fokus der Presse gerät. Sicher wurde er auch hier in einem Abschnitt erwähnt und kurz über ihn berichtet, aber die Auflagen verboten es ihnen, Richy zum Hauptthema zu machen und so seine Therapie zu behindern.
Er wurde direkt nach den ersten Vernehmungen und der Untersuchung durch die Amtsärzte in die Psychiatrie eingewiesen, um dort bis zur Verhandlung therapiert zu werden. Jessy hatte mir erzählt, dass er wohl seine Medikamente schon über ein Jahr nicht genommen hatte und Hanson seine Labilität ausgenutzt hatte.
„Sie hatten sich wohl kennengelernt, als Michael in der Garage vorbeigeschaut hatte. Richies Vater hatte wohl ebenso dazu beigetragen, dass der Fall von Jennifer nie wirklich aufgeklärt wurde… er hatte Akten vernichtet und Berichte verschwinden lassen, die nachweisen konnten, dass seine Mutter nachweislich an der Tragödie teilhatte. Er hatte Richy schnell eingelullt und so immer weiterbearbeitet.“
Jessy war erschüttert gewesen, als sie davon erfahren hatte.
„Wie kann man einen Menschen, der so schon genug Probleme hat, so sehr für seine Machenschaften missbrauchen?“
Richies Schicksal war etwas, was mich letzten Wochen immer wieder beschäftigt hatte. Er war seit dem schrecklichen Vorfall mit Jennifer wegen einer bipolaren Störung in Behandlung gewesen. Eine schwere psychische Erkrankung, die aber mit einer anständigen Therapie und der Gabe von entsprechenden Medikamenten einigermaßen in den Griff zu bekommen war. Da Richy seine Medikamente nicht genommen hatte, war er in ein komplettes Ungleichgewicht geraten, was dazu führte, dass es für jemanden wie Hanson leicht war, ihm seine Meinung als Richies Realität einzuflößen.
Es tat mir leid, dass das mit ihm geschehen war, aber ich war noch nicht bereit, mit ihm zu sprechen.
Noch immer verfolgte mich sein leerer Blick, als er uns auf der Straße platzierte, damit Michael uns überfahren konnte. Ich verstand ihn, so gut es mir möglich war, aber wie lange es dauern würde, bis ich ihm tatsächlich verzeihen konnte, wusste ich nicht.
„Wollen sie die Zeitung kaufen?“
Ich klappte des Bild, welches Richy lächelnd in seinem Blaumann zeigte zu und schob die Zeitung zurück in den Ständer.
Nachdem ich gezahlt hatte, überquerte ich mit Herrn Müller die Straße und lief zu der kleinen Bank, wo ich auf den Bus warten würde, der mich nach Hause brachte. Ich war eine halbe Stunde zu früh dran, aber das war nicht schlimm, denn ein bisschen Ruhe – nur mit mir und meinem Haustier tat mir nach dem ganzen Aufruhr der letzten Wochen gut.
Ich hatte immer Stille bevorzugt und zu viele Menschen um mich herum, waren sehr anstrengend für mich – daher tat es gut einfach nur die frische Luft zu atmen und für einen Moment die Augen zu schließen.
Gerade, als ich einigermaßen entspannt war, fühlte ich, wie mein Smartphone in meiner Hosentasche vibrierte.
Schnell zog ich es heraus und sah, dass jemand etwas in die Nachrichten-App geschrieben hatte.
Jessy: Und? Bist du schon am Busbahnhof?
Jessy war auch heute wieder Richy besuchen. Es war gut zu wissen, dass es jemanden gab, der für ihn da war.
Ellie: Ja und natürlich viel zu früh.
Dan: Dann komm doch einfach zurück, trink ein Bier mit uns…
Lilly: Schatz, du weißt, dass das nicht möglich ist.
Dan: Einen Versuch war’s wert.
Ich lächelte in mich hinein und versuchte nicht vor Freude zu quietschen, als ich merkte, dass Lilly und Dan es anscheinend offiziell gemacht hatten.
Cleo: SO lange ist sie ja gar nicht weg…
Ellie: Richtig, sobald ich das Datum für die Verhandlung habe, habt ihr mich eh wieder auf dem Hals.
Jessy: Ach sag das nicht so ☹
Phil: Ja, sag das nicht so… du schuldest mir noch immer einen Drink 😉
Ellie: Der wievielte soll das denn sein? 😊
Ellie: Ich werde euch alle sehr vermissen, wisst ihr das?
Jessy: Das glaube ich dir! Uns geht es genauso, wenn du wieder da bist, müssen wir unbedingt mehr Zeit miteinander verbringen <3
Lächelnd nickte ich, als sich plötzlich mein Handy nochmals meldete.
Playlist wurde aktualisiert.
Mein Herz machte einen Sprung.
Ich hatte nicht viel von ihm gehört, seitdem er durch die Polizisten abgeführt wurde. Ich durfte mich nicht verabschieden, durfte ihn nicht mal umarmen. Jake wurde sofort in Untersuchungshaft gebracht.
Ich hatte nicht lange darüber nachdenken müssen, wen ich in diesem Fall anrufen würde. Es hatte kaum ein paar Sekunden gedauert, ehe mein Vater an sein Handy gegangen war.
„Ellie, Liebes wir…“
„Darüber reden wir später“, ich erschrak vor der Kälte in meiner Stimme, doch ich war noch immer wütend und es war mein gutes Recht das auch zu zeigen, „erstmal brauche ich deine Hilfe, Dad.“
Ich musste ihn nicht mal dazu überreden, sich Jakes Fall anzunehmen und ich wusste, dass er das als Chance sah, den Fehler meiner Eltern zu begleichen, doch das war mir egal, solange es Jake half.
Meine eigenen Kriege würde ich früh genug führen können.
Mein Vater war direkt nach Colville gefahren, zu dem Gefängnis wo Jake einsaß und unterstützte ihn in seinem Fall.
Egal wie oft ich ihn fragte, Dad wollte mir nicht sagen, was sie Jake vorwarfen.
„Das willst du gar nicht wissen“, er lachte dieses Lachen, welches ich von Fällen kannte, die ihn besonders beanspruchten, „aber mach dir keine Sorgen, du kennst deinen alten Herrn.“
Und auch, wenn das offensichtlich nicht mehr bei jedem Thema stimmte, war es in diesem Fall wahr.
Einige Tage nach dem Pineglade-Fest hatte man mir mein Handy gebracht, welches man irgendwo im Wald gefunden hatte. Ich war überglücklich gewesen, denn daran hingen so viele Erinnerungen der letzten Wochen, dass ich wirklich traurig gewesen wäre, wenn diese für immer verloren wären.
Als ich es öffnete, sah ich, dass eine neue Media-Player-App installiert worden war. Zuerst dachte ich, dass sie automatisch durch ein Update installiert worden war, doch als ich sie öffnete, sah ich eine Playlist mit dem Titel :) und wusste dann, von wem sie war.
Damals war ein Lied auf der Playlist und ich wusste noch heute wie es war, dieses Lied zu hören.
Es fühlte sich an, als hätte mir Jake Zugang zu seinen Gefühlen gegeben, die er sonst so schwer ausdrücken konnte.
Immer wenn er ein Lied für mich sendete, machte mein Herz einen Hüpfer, die Gefühle, die er durch die verschiedenen Melodien in mir auslöste, half mir durch die unendlich durchgeweinten Nächte, die schlimmen Träume und die Sehnsucht, endlich wieder in seinen Armen liegen zu können.
Ich überlebte nur wegen dieser Playlist.
Ich öffnete die App und scrollte zu dem neuen Song, den er hochgeladen hatte.
Lied 15 – Can we kiss forever? (feat. Adriana Proenza)
Eilig suchte ich nach meinen Kopfhörern und steckte diese an mein Smartphone. Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich schließlich auf Play drückte.
Die Musik begann leise, ich schloss die Augen und vergaß sofort, wo ich war. Leichte Regengeräusche umrahmten die Melodie, die sich sanft aber einnehmend hin zur Stimme der Sängerin bewegte.
Dieses Lied fühlte sich wie Verlieben an – wie das langsame Erkennen der Gefühle, die man für jemanden hegte, das zögerliche Herantasten… und dann kam der Refrain und ich fiel, verlor mich in der Verliebtheit, welche ich für Jake empfand – und auch wenn er Kilometer von mir entfernt war, fühlte es sich an, als wäre er hier bei mir.
Der Wind wirbelte Blätter und meine Haare auf und der Wald – der in den letzten Wochen so bedrohlich auf mich gewirkt hatte, wirkte nun friedlich und still.
Nicht alles war gut, aber ich war sicher, dass es das sein würde.
Die letzten Klänge des Songs verhallten und ich zog seufzend die Kopfhörer aus den Ohren. In meinem Magen kribbelte es immer noch und ich wünschte mir nichts mehr, als Jake jetzt in die Augen sehen zu können…
„Hat dir der Song gefallen?“
Ich zuckte zusammen und blinzelte.
Die Hände in den schwarzen Jeans und einem großen Rucksack auf dem Rücken, stand er plötzlich grinsend vor mir. Leicht verlegen winkte Jake zu mir herunter.
„Was machst du hier?“
„Wow, die Begrüßung habe ich mir irgendwie anders vorgestellt…“
Ich räusperte mich und kratzte mich verwirrt am Kopf, war er etwa…
„Bist du ausgebrochen?!“
Er lachte schallend und erst jetzt bemerkte ich, dass er sich dieses Mal nicht unter einer Kapuze versteckte. Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn.
„Nein, Ellie… ob du’s glaubst, oder nicht, ich bin draußen.“
Mein Mund muss offen gestanden haben, so verblüfft war ich.
„Wie meinst du das, du bist draußen?“
Er deutete auf den Platz neben mir und sah mich fragend an. Als ich bestätigend nickte, setzte er sich schließlich.
„Sagen wir mal, dein Vater ist ein sehr talentierter Anwalt“, Jake lächelte, während er seinen Blick durch die Ferne schweifen ließ, „er hat mich da raus geboxt, Ellie… ich kann’s kaum glauben. Ich bin frei… ich muss mich nicht mehr verstecken.“
Ich starrte ihn an und sah, wie glücklich er war.
„Das ist…“, ich fand keine Worte für das Gefühl, was sich in meinem Herzen ausbreitete, „das ist einfach unglaublich. Du bist ein freier Mann? Einfach so?“
Jake verzog das Gesicht etwas und wog den Kopf hin und her. Ich wusste es, irgendwo musste es ja einen Haken geben.
„Nicht ganz, tatsächlich besteht meine Strafe darin, dass ich vom Bundesministerium für Inneres jederzeit herangefordert werden kann.“
„Das bedeutet…?“
„Dass ich dabei helfen soll, die Sicherheitslücken, die ich“, er zögerte einen Moment, unsicher, ober mit mir darüber sprechen wollte, „die ich aufgedeckt und missbraucht habe, zu schließen und sicherer zu machen.“
Ich war sprachlos.
„Wow… das ist…“
„Krass, ich weiß“, Jake lachte und schüttelte den Kopf, „Das ist aber nur eine Stelle auf Abruf, ich musste mich, um meinen guten Willen zu zeigen, aber noch um eine andere Stelle bemühen…“
Ich nickte, sowas hatte ich mir schon gedacht.
Mein Vater hatte oft junge Straftäter, die er aufgrund ihrer Talente rausboxen konnte.
„Und was musst du machen?“
Jake drehte sich zu mir und seine blauen Augen sahen mich an. Meine Knie begannen zu zittern, als er meine Hand nahm. Jake lächelte das schönste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte.
„Es könnte sein“, sein Lächeln verzog sich etwas, als würde er über einen Witz lachen müssen, „dass ich im nächsten Semester dein Dozent bin.“
Das war ein schlechter Scherz.
„Bitte was?!“
Er lachte und seine Hände berührten mein Gesicht.
„Sei nicht sauer, ich glaube dein Vater hat es nur gut gemeint…“
Wenn ich mir vorstellte, dass Jake bald vor mir stehen und Seminare halten sollte… niemals würde ich mich dann konzentrieren können.
Jake küsste mich vorsichtig und ich fühlte mich wieder wie gefangen in diesem Gefühl, ganz wie in dem Lied, wollte ich ihn für immer küssen.
„Du hast mir nicht erzählt, dass du Informatik studierst…“, flüsterte er an meinem Lippen und küsste mich erneut – fordernder diesmal.
„Du hast nie gefragt, außerdem ist es nur mein Drittfach“, er lächelte, „Ich stell mir das komisch vor, dass du mein Dozent sein sollst.“
Jakes Lächeln intensivierte sich, als er mich fester umarmte.
„Ich finde den Gedanken eigentlich ganz… nett.“
Ich kicherte albern und schob ihn ein Stück weg. Seine Wangen waren rot und er rang genau wie ich ein wenig nach Luft.
„Nein, im Ernst, Jake… wir kennen uns kaum, daran sind wir schon beim ersten Mal gescheitert. Wie soll das gehen?“
Er lächelte schüchtern und mein Herz schlug wie wild.
Jake nahm meine Hand in seine und begann jeden Fingerknöchel vorsichtig zu küssen.
„Wir lernen uns einfach kennen“, flüsterte er, „wir fangen einfach ganz von vorne an.“
Und als er aufstand und mir die Hand entgegenstreckte, seine blauen Augen mir versprachen, dass jetzt alles gut werden würde, glaubte ich ihm.
„Hey, ich bin Jake. Du bist mir sofort aufgefallen, willst du mir deinen Namen verraten?“
Ich kicherte albern und legte meine Hand in seine.
„Elisabeth, aber du kannst mich Ellie nennen.“