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Nach dem Prompt „Tokee [Tierische Stadtschreiergeschichten]“ der Gruppe „Crikey!“
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Niemand kannte ihren wahren Namen. Sie nannte sich immer nur Phi - was 'Geist' bedeutete. Vielleicht war es ein Titel, den sich mehrere Frauen teilten. Denn obwohl sie eine Menschenfrau war, eine vom Flussvolk, und über keinerlei magische Kraft verfügte, arbeitete sie schon seit dreihundert Jahren.
Man rief sie immer dann, wenn ein ehemaliges Dorf neu aufgebaut werden sollte oder im Dschungel eine mysteriöse Ruine gefunden worden war. Wenn die Ernte verdarb oder das Vieh einer Seuche zum Opfer fiel, die kein Heiler zu ergreifen vermochte.
Wenn also sich Mächte erhoben, die sich der Wissenschaft verschlossen, wenn flüsternde Stimme in morschen Wänden wohnten oder das Werkzeug über Nacht zerbrach, dann rief man sie. Phi. Die Geisterjägerin.
⁂
Palat wusste nicht, wie die Nachricht sie erreicht hatten. Vor einigen Tagen hatte der Vorsteher der kleinen Siedlung den Entschluss gefasst, dass das alte Herrenhaus von rastlosen Geistern befallen sein musste und sie Hilfe bräuchten. Am Abend hatte ein Brief auf seinem Tisch gelegen, den niemand dorthin gebracht hatte. Er hatte alle im Rathaus befragt, doch keiner hatte die Papierrolle mit dem weißen Band zuvor gesehen.
Darin hatte gestanden, dass sie jetzt eintreffen würde. 'In drei Abenden'. Es war der dritte Abend, seitdem er den Brief gefunden hatte.
Er stand am Rand zum Dschungel und betrachtete die rauschenden Wipfel. Ein Sturm erhob sich, jedoch nicht aus Wind. Aus der Nacht erschollen laute Tokee-Rufe, mehr, als er je gehört hatte. Die Geckos waren jede Nacht laut, doch diese Schreie übertrafen alles, bis er sich fragte, ob er taub werden würde.
Dann trat eine bleiche Gestalt aus dem Schatten des Weges. Je näher sie kam, desto deutlicher erkannte er die Manobahe. Ihre Haut war fast schneeweiß, ihr Haar silbergrau. Nur ihre Augen waren dunkler, von einem glühenden Blau, und in dieser Farbe hatte sie auch ihre Lippen geschminkt. Ihre Kleidung war dagegen dunkel, eine engsitzende Lederrüstung, gekreuzte Bänder vor der Brust, allerlei Gürtel und Schlaufen mit Klingen, Glasgefäßen, Metallurnen.
"Phi", sagte Palat mit einer Verbeugung. Natürlich hatte er von ihr gehört, doch nie geglaubt, dass er sie noch einmal sehen würde. Hinter ihm raunte und flüsterte die Versammlung aus Wachen und Magiern, die ihm nicht geglaubt hatte, dass ihre Probleme heute beseitig sein würden.
"Zeig mir den Ort", sagte sie ruhig. Ihre Stimme war heller, als er erwartet hatte. Sie sah stark aus, wie ein stabiles Brett, trainiert und von einigen Narben gezeichnet, blassrosa Striemen auf ihrer Haut. Und doch klang ihre Stimme jünger und sanfter, als er je erwartet hätte.
"Folgt mir", murmelte er. Die Versammlung rückte zur Seite, bildete eine Gasse, durch die er die Geisterjägerin führte. Noch immer riefen die Gekkos im Wald. Ihre Rufe wurden nur seltener, passten sich einem heimlichen Rhythmus an, der sie zum überwucherten Pfad begleitete, die geschwungenen Serpentinen hinauf zu dem alten Herrenhaus, dessen verfallene Fassade hinter jungen Bäumen erblindet war. Früher hatte das mächtige Haus über die kleine Stadt und das Tal gewacht, heute hausten hier nur noch Wurzeln und der Wind.
Die Männer waren ihnen leise gefolgt, doch in Sichtweite des Hauses hielten sie an. Palat hielt ebenfalls inne, nur Phi ging weiter.
"Wartet."
Sie hielt an.
"Benötigt Ihr noch etwas? Was ist mit der Bezahlung? Informationen?"
Ein Lächeln huschte über ihre dunklen Lippen. Dann drehte sie sich um und ging weiter.
Hilflos sah Palat zu seinen Leuten zurück. Die meisten würden sich selbst in Begleitung eines Priesters kaum weiter vor wagen. Als er sich zurück nach vorne drehte, tauchte Phi soeben unter dem halb eingestürzten Türrahmen hindurch.
Das Konzert der Gekkos verklang schlagartig.
Zitternd wich Palat zurück. Es war still, tödlich still. Nur hinter sich hörte er die ängstlichen Atemzüge einiger junger Wächter. Dann blitzte blaues Licht im Haus aus. Die Siedler schrien erschrocken auf, denn kein Ton begleitete das zuckende Leuchten, das aufflackerte und verlosch, sich an anderer Stelle bildete. Es bewegte sich schnell, erzitterte wie ein Schild unter einem Aufprall.
Verständnislos wichen sie vor diesem unverständlichen Monster zurück.
⁂
Als der Himmel sich grau färbte, erklang zum ersten Mal wieder ein Tokee-Ruf. Palat sprang auf. Mehrere Wächter, die mit ihm auf dem Marktplatz gesessen hatten, schreckten aus dem Schlaf auf, doch nicht alle wurden wach. Die wenigen, die zu sich gekommen waren, kamen am Fuß des hohen Pfades zusammen.
Phi kam herunter. Sie bewegte sich ruhig, der Wind spielte in ihrem langen Haar. Auf ihrer Schulter bemerkte Palat eine graue Echse mit orangen Punkten. War das Tokeh-Männchen schon am Abend zuvor dort gewesen?
"Das Haus ist wieder sicher", erklärte Phi. "Dort lebten tatsächlich zornige Geister. Sie ruhen nun."
"Was erhaltet Ihr für Eure Hilfe?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ich gehe dorthin, wo ich gebraucht werde."
"Dann ... lasst mich Euch wenigstens ein Bett im Gasthaus anbieten. Ein Frühstück!" Palat beharrte darauf. "Wir wollten das Haus in eine Schule umbauen. Die Geister hätten das verhindert. Euer Dienst bedeutet unserer Gemeinschaft sehr viel. Wir wollen, dass unsere Kinder ein besseres Leben haben und nicht von Plantagen und Jagd leben müssen. Bildung ist der Schlüssel dazu." Er musterte die Menschenfrau wachsam. "Ihr müsst erschöpft sein. Das Gasthaus ist dort drüben. Weder die Unterkunft noch Speisen sollen Euch etwas kosten!"
Phi neigte mit einem Lächeln den Kopf. Dann wurde Palat abgelenkt, da nun mehr und mehr Männer erwachten und fragten, was geschehen sei. Danach fragten es ihre Familien, die kamen, um die über Nacht ferngebliebenen Wächter heimzuholen. Dann fragten es die Kämpfer, die zum Wachtwechsel kamen.
Am Abend verkündeten es Marktschreier auf den Handelsplätzen der kleinen Stadt, damit jeder von den guten Neuigkeiten hörte. Das Geisterhaus war gereinigt - nun konnte der Neubau beginnen.
Zu dieser Gelegenheit hörte Palat vom Besitzer des Gasthauses. Das Zimmer, das für Phi bestimmt war, war verlassen, das Bett wies nicht eine Falte auf. Auch ein Frühstück oder Mittagessen hatte sie nicht bestellt. Palat fragte sich, ob er überhaupt gesehen hatte, dass sie zum Gasthaus gegangen war. Doch nach ihrem Gespräch hatte er keine Erinnerung mehr an die Geisterjägerin.
Verwirrt berichtete er dem Gastwirt von dem Wenigen, was er wusste.
"Vielleicht stimmt es, was man über die Gekkos sagt."
"Hm?", fragte Palat.
"Dass sie Glücksbringer sind, Schutz bieten."
"Vielleicht." Palat seufzte. Darüber grübelte er nicht, sondern darüber, wie die Geisterjägerin gekommen und wieder verschwunden war.
Wie ein Geist.