Rating: P12 [CN: Tod]
Nach dem Prompt „Galapagos-Riesenschildkröte“ der Gruppe „Crikey!“
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Mit langsamen Schritten ging die gebeugte Alte aus dem Dschungel, dem Rauschen des Ozeans entgegen. Mühsam schleppte sie sich voran, gebeugt unter einer Last, die für die Augen nicht zu erkennen war. Doch sah man in ihr Gesicht, konnte man es fühlen. Die Weisheit unendlicher Jahre verbarg wie ein Schleier das junge Mädchen im Inneren.
Der Name des Mädchens war 'Pagadala', was 'langes Leben' bedeutete, und das war der Segenswunsch ihrer Eltern gewesen.
Pagadala war in einer Vollmondnacht geboren. Sie war schwach und krank gewesen und ihre Eltern fürchteten um sie. Also hatten sie den Heiler um Rat gebeten, einen weisen Mann, der längst verstorben war, sodass Pagadala heute die Rolle als weise Druidin angenommen hatte.
Dieser alte Mann nun hatte das sterbende Kind gesehen und erkannt, dass nur Magie Pagadala noch retten konnte. Und so brachte er sie ans Meer, an ebenjenen Strand, den sie nun als alte Frau ebenfalls aufsuchte.
Die Vollmonde leuchteten über den Wellen, genau wie damals, und die Luft war warm und angereichert mit dem Duft des Salzwassers und der Restwärme des Tages.
Die Menschenfrau ließ sich in den Sand sinken und vergrub die Finger im weichen Boden, an jener Stelle, an der damals der Heiler neben den weinenden Eltern gekniet und die Götter um Beistand angerufen hatte.
Die Götter hatten geantwortet. Denn in jener Nacht waren tausende kleine Schildkröten aus ihren Eiern im Sand geschlüpft.
Auch heute regte sich der Sand, doch anders als damals trat auch eine der großen Erwachsenen aus dem dichten Dschungel, in dem die Frischgeschlüpften Schutz suchten.
Gemächlich bahnte sich der Riese seinen Weg an die Seite der knienden Pagadala.
Fast ohne hinzusehen streckte die alte Frau die Hand. Es war, als blitze kurz das Mädchen auf, das sie einst gewesen war, wie es am Strand neben der gleichen Schildkröte saß. Diese war damals freilich noch etwas kleiner gewesen, ihr Panzer noch farbenfroh und unzerkratzt, nicht matt wie jetzt. Auch Pagadala war jung und voller Freude gewesen, noch unbekümmert von dem Schicksal, das ihr geschenkt worden war. Und noch andere Schildkröten saßen in der Vision mit ihnen, doch heute war keine Spur von ihnen zu sehen.
"Na, meine alte Freundin?", fragte Pagadala leise, als die Schildkröte sich neben sie setzte.
Sie waren in der gleichen Nacht geboren, die Schildkröte und das Mädchen. Vor vielen hundert Jahren. Und seitdem waren ihre Seelen verbunden. Aus jener Nacht waren nur noch sie beide übrig. Selbst für eine Riesenschildkröte war das eine lange Zeitspanne, doch für einen Menschen, der Sterblichkeit erfahren sollte, war es eine noch viel längere Zeit.
Unzählige Generationen an Schildkröten waren dem Sand entkrochen. Unzählige Generationen an Menschen dahingegangen.
Die Schildkröte zog die Beine ein und bettete den Kopf auf den Schoß des Mädchens, das nun eine alte Frau war. Pagadala umarmte ihre treue Freundin und lehnte sich auf ihren Panzer.
Die Monde zogen über den Himmel. Ihr silbriger Schein wich dem Gold eines neuen Morgens. Pagadala und die Schildkröte rührten sich nicht.
Es gab keine Pflichten, die auf sie warteten. Die Schildkröte hatte alle Salatblätter gegessen, die sie essen sollte. Pagadala hatte die Menschen lange Zeit geführt, doch nun überließ sie ihr Amt einer jüngeren Druidin. Die Kinder der beiden Freundinnen hatten ein langes Leben geführt.
Die letzten der kleinen Schildkröten waren fort. Es würde noch einige Stunden dauern, bis Pagadalas Fehlen auffallen und die Menschen kommen würden.
Es war Zeit, hier, am Ort ihrer Seelen, in diesem friedlichen Moment. Einträchtig schlossen die beiden Freundinnen die Augen.