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Nach dem Prompt „Bombay-Ente/Lahme Ente“ der Gruppe „Crikey!“
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"Miya?" Vorsichtig klopfte Aritya gegen die Bambus-Tür. Dahinter erklang hysterisches Schluchzen. Das Vorrecht der Jugend war es, so dachte sie, sich mit Leib und Seele diesem Drama zu verschreiben. "Kann ich reinkommen?"
Aritya erhielt keine Antwort von ihrer Enkelin.
"Möchtest du nicht darüber reden? Ist etwas passiert, als du mit deinen Freunden gespielt hast?"
"Sie sind nicht mehr meine Freunde!", antwortete Miya zornig. "Sie sind doof! Und gemein! Ich mag sie nicht mehr!"
Aritya öffnete die Tür und trat in das kühle Innere der Hütte. Einzelne Lichtflecken fielen durch das Dach aus Palmblättern. Aus Palmblättern bestand auch Miyas Bett. Als die alte Frau sich setzte, kroch das Mädchen sofort auf ihren Schoß und schluchzte weiter.
"Was ist denn passiert?" Sie strich über das kupferne Haar des Mädchens.
"Wir haben gespielt", sprudelte es aus Miya heraus. "Wir haben Rennen gespielt, am Strand, aber ich war immer die Langsamste. Da haben sie gesagt, dass ich eine dreibeinige Echse bin und gelacht!" Sie schluchzte nur noch lauter und klammerte sich an Arityas Kleid.
Die alte Frau atmete tief durch. Miya war empfindlich, was Wettbewerbe anging. Sie wollte immer gewinnen, nur war das natürlich nicht möglich. Es wunderte sie auch nicht, dass Miyas Freunde ein Spiel gefunden hatten, bei dem das Mädchen nicht gewann. Das konnte sie aber natürlich nicht sagen.
"Aber es ist doch nicht schlimm, langsam zu sein. Du bist doch die Stärkste von deinen Freunden, oder nicht?"
"Aber die Langsamste!", heulte Miya in ihr Kleid.
Aritya strich über den Rücken des Kindes und lächelte, als ihr plötzlich eine Idee kam. "Aber die Langsamen kriegen manchmal den besten Preis."
Miya hob das gerötete Gesicht. "Häh?"
"Kennst du die Geschichte, wie die Menschen lernten, zu fischen?"
Miya schüttelte den Kopf. Vor Staunen hatte sie das Weinen vergessen.
"Also, das war so ...
Früher gab es drei Stämme. Sie lebten auf einer großen, großen Insel im Einklang miteinander und konnten alles teilen. Ihr Land war groß und weit und fruchtbar.
Dann kam aber eine Zeit des Regens. Es regnete und regnete ohne Unterlass. Das Wasser stieg und es riss alle Häuser mit sich.
Daraufhin zogen die drei Stämme weiter. Sie suchten Land, wo sie leben konnten, ohne dass es dort regnete. Dabei zogen sie aber jeder für sich. Sie teilten nicht mehr, denn sie hatten alles verloren, auch alle Vorräte, und hatten Angst, dass zu teilen ihnen noch mehr nehmen würde.
Nun zog der erste Stamm los und sie pflückten alle Früchte entlang des Weges. Sie waren die Ersten, die loszogen, und sie waren so schnell, dass kein Stamm sie überholen konnte. Die anderen versuchten es, um noch Früchte zu erhalten, doch sie hatten keine Chance und der erste Stamm ließ keine essbaren Pflanzen zurück. Aber Früchte sind süß und laufen nicht weg. Und nachdem sie so lange Zeit nur Früchte gegessen hatten, wurden die Menschen des ersten Stammes weinerlich und weich.
Der zweite Stamm, die zweitschnellsten, mussten sich anpassen. Es gab keine Pflanzen mehr, aber viele Tiere, die durch die Wälder streiften. Und so jagten sie alle Tiere, die sie sahen, und ließen nichts zurück. Doch die Jagd ließ sie hart und grausam werden.
Der dritte Stamm nun war am langsamsten. Er kam nicht schnell voran. Es gab weder Früchte noch Fleisch für sie. In ihrer Verzweiflung wandten sie sich dem Wasser zu. Sie blieben lange Zeit an der Mündung eines Flusses und fanden dort Fische zuhauf. Weil sie so langsam und geduldig waren, konnten sie die Fische in Fallen locken. Und sie fanden, dass die Fische wunderbar köstlich waren - es handelt sich nämlich um unsere geliebten Bombili-Fische! Weil sie geduldig genug waren, um sie zu fangen, konnte der dritte Stamm so viel Fisch essen, wie er nur wollte. Und die Fische machten die, die sie aßen, klug. Von den Fischen lernten die Menschen des dritten Stammes, wie man Angeln herstellt und Netze webt, und sie lernten, Kanus zu bauen. Während die anderen beiden Stämme auf jeder Insel ohne Früchte und ohne Tiere zurückblieben, fuhr der dritte Stamm auf den Ozean hinaus und fand dort unendliche Inseln voller Wunder, die kein anderer Stamm je erblicken würde."
Aritya hatte ihre Geschichte beendet und sah Miya an. Das Mädchen saß inzwischen neben ihr und sah nachdenklich auf die Wand der Hütte. Sie war jetzt ganz ruhig, die Tränen auf ihren Wangen getrocknet.
"Deshalb sagt Mama also immer, dass Fisch essen schlau macht?"
Aritya wuschelte dem Kind durch das Haar. "Ja. Aber das Gemüse darf man auch nicht vergessen."
"Ich werde meinen Freunden sagen, dass sie sich getäuscht haben." Entschlossen stand Miya auf. "Ich bin immer noch die Beste, gerade weil ich langsam bin."
Kopfschüttelnd lauschte Aritya den Schritten, die sich entfernten. So schnell war das Drama vergessen. Und eines Tages würde Miya auch die Lektion darin begreifen. Heute war sie noch zu jung dafür.