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Nach dem Prompt „Schwarzer Kaiman“ der Gruppe „Crikey!“
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Das Feuer flackerte. Funken tanzten aus dem orangenen Licht zu den herabhängenden Lianen der Bäume, die sich wie lauschend über die kleine, moosige Erhebung beugten. Es war ein kleiner Hügel, kaum länger als ein Speer, durchzogen vom schlangengleichen Wurzelwerk, hoch und schmal, an dessen Fuß die Wellen leise gurgelnd leckten.
Die Kinder hielten den Atem an, als Jyoti sich vorbeugte und die Flammen Schatten auf seine Wangen malten, die Runzeln im zerfurchten Gesicht hervorhoben und die Augen des alten Schamanen glühend leuchteten.
"Heute, im Neumond des Winters, ist der Tag der Kohleechse", begann Jyoti. "Wisst ihr, was das bedeutet?"
Die Kinder schwiegen einen Moment. Der sonst so aufgeweckte Haufen gab kaum einen Ton von sich, nur ihre Kleidung aus Pflanzenfasern raschelte hin und wieder, wenn sie sich bewegten. Dann ergriff einer das Wort: "Wir müssen die ganze Nacht wach bleiben, und morgen gibt es Süßes!"
Auf die kleinen Pastetchen freuten sich alle Kinder, mehrere murmelten aufgeregt. Es war das erste Jahr für diese Knirpse, dass sie die Nachtwache mithalten mussten - jüngere Kinder durften durchschlafen, da es ihnen meistens ohnehin noch nicht gelang, wach zu bleiben.
Jyoti schüttelte ernst den Kopf. "Das Festessen ist nicht der Grund für die Mahnwache. Kennt niemand von euch die alten Geschichten?"
Zögerlich hob ein Mädchen die Hand. "Geht es um Barundis Abenteuer?"
Jyoti nickte und vergewisserte sich, dass alle Blicke auf ihm ruhten. "Die zwölf Abenteuer von Barundi, dem großen Helden. Das erste davon fand im kältesten Monat statt, als das Gesicht des Mondes von Schwärze verhüllt war, in einer Nacht wie dieser ..."
Barundi war noch kein Held. Er war ein einfacher Junge seines Dorfes, nicht einmal ein Krieger, nur ein Kind, so jung wie jene, die Jahrhunderte später seine Geschichte hörten.
In dieser Nacht jedoch war er vor allem allein. Er hatte sich verlaufen, getäuscht von den heimtückischen Irrlichtern. Wer diesen blauen Lichtern folgte, die hin und wieder in den Mangrovensümpfen erschienen, kalt wie Eis, und leise flüsternd riefen, der ward nie mehr gesehen.
Barundi kannte die Gefahr. Er war vielleicht jung, aber er war auch klug genug, um den Lichtern nicht zu folgen. Andere Kinder jedoch beachteten die Warnungen nicht so sehr. Vor drei Tagen war ein Kind verschwunden, in den Wald gelaufen, den Feen der Dämmerung nach, wie man die Irrlichter auch nannte. Das Wehklagen der Mutter hatte Barundis Entschluss reifen lassen. In der finstersten Nacht, wenn alle Lichter erloschen, ruhten auch die Irrlichter. Dann würde er den kleinen Jungen befreien und zurück zum Dorf bringen!
Nun jedoch stand Barundi alleine in der Dunkelheit des Waldes. Das Dorf war nicht mehr zu sehen, doch auch kein anderes Licht. Die Sterne am Himmel waren hinter Wolken verborgen, ganz wie jene Wolken, die von Norden her über den Wald und das kleine Lagerfeuer krochen. Er hörte nur das Wasser murmeln, leise, träge und traurig. Ein flüsternder Gesang von Tod und Verlust, während die dunklen Wellen gegen das Ufer rollten.
Selbst ein so tapferes Herz wie das des jungen Barundi erzitterte in dieser Stunde. Er hatte das geheime Land der Feen noch nicht gefunden, und die Zeit der Finsternis rückte nah heran. Würde ihm nicht bald gelingen, sein Ziel zu finden, wäre die Chance verstrichen und der kleine Junge verloren.
Da! Ein Licht im Wald. Es flackerte zwischen den Stämmen her, der letzte blaue Funke vielleicht, ehe jedes Licht erstarb.
Barundi rannte los, geradewegs auf die Stelle zu, wo das Irrlicht gewesen war, und erreichte im letzten Schimmer des Lebens eine finstere Lichtung am Rande des Todes. Während das Licht stirbt, öffnet sich nämlich die Welt der Toten, um die Seelen des vergangenen Jahres durchzulassen. Wenn ihr nur recht still seid, könnt ihr sie vielleicht hören, wie sie leise klagend ihren Abschied nehmen. Barundi jedenfalls hörte ihre traurigen Rufe, wie er da auf der runden Lichtung stand, vor einem schwarzen Tor, das sich nur an diesem Abend öffnete.
Den kleinen Jungen sah er ebenfalls, jenen, den die Irrlichter in die Wildnis gelockt hatten. Barundi ergriff ihn, ohne zu Zögern, und riss das Kind vom Tor zurück. Der kleine Junge reagierte kaum. Seine Augen, blind und milchig, blieben auf das Tor gerichtet, bis Barundi ihn ein ganzes Stück in die Nacht hinausgeführt hatte.
Da regte sich das Kind. "Warum ist es so dunkel? Wo ist das Licht hin?"
"Es ist der finsterste Tag", erklärte Barundi ihm.
"Eben war doch noch alles weiß und hell ... Barundi, bist du das?"
"Du bist jetzt in Sicherheit."
"Sicherheit? Aber da ist eine Schlange!"
Die Warnung kam zu spät. Tatsächlich hatte sich eine hungrige Anakonda in der Dunkelheit verborgen gehalten. Wie der kleine Junge Barundi warnte, griff die große Schlange auch bereits an und wickelte sich um unseren tapferen Held. Der junge Barundi besaß weder Waffe noch Stärke, nicht in diesem jungen Alter, und so konnte er sich nicht gegen die mächtige Schlange wehren, deren Windungen ihm immer drängender ergriffen und zu töten drohten.
"Zu Hilfe!", rief der kleine Junge, aber in der Dunkelheit war keine Hilfe zu sehen. Sie waren allein, zwei Kinder zur Zeit der Finsternis, dem Tode näher als dem Leben. Kein Licht leuchtete ihnen zur Rettung, und so öffnete sich das schwarze Tor weit und sein grausiger Sog zog an ihnen. Barundi rang um Atem, doch er konnte nichts tun.
Da ring ein Ruck durch die Schlange, und plötzlich fauchte Feuer in dieser finsteren Stunde. Barundi rappelte sich auf und floh zum Ufer, während hinter ihm Hitze explodierte, und er riss den kleinen Jungen an sich, ehe das Tor ihn wieder an sich reißen konnte.
Dann erst sah er, was die Schlange angegriffen hatte: Ein schwarzer Kaiman, aus dessen Maul Flammen schlugen. Seine Augen glühten wie ein Feuer in der Dunkelheit der Nacht.
Die Kohleechse war es! Ein mächtiges Wesen mit dem Atem eines der uralten Drachen. Seine Zähne vermochten, selbst die Schlange der Finsternis zu töten, und der glühende Blick seiner Augen vertrieb die Schatten des tödlichen Tores.
Doch wenngleich dieses Tier sie gerettet hatte, war Barundi nicht so töricht, die Kohleechse für einen Verbündeten zu halten. Diese mächtige Bestie war gewaltig, groß wie ein Fluss, und ihr Hunger war unersättlich. Noch bevor die Bewegungen der Anakonda erstarben, packte Barundi den kleinen Jungen und rannte los.
Die Kohleechse jedoch ist noch dort draußen. Uralt ist sie, und unsterblich, ebenso wie ihr Hunger, denn sie war das einzige Monster, das Barundi zeit seines Lebens nie bekämpfte, die einzige Bedrohung der Perro, die er nie erschlug.
"Sie ist noch da draußen", wiederholte Jyoti, den Blick fest auf die erbleichten Gesichter der Kinder gerichtet. "Dort draußen in der Nacht lauern allerlei Gefahren, aber die größte von ihnen kommt in dieser dunkelsten Nacht heraus und geht auf die Jagd. Und das muss sie, denn ihr Blick allein kann die Finsternis dieser tiefsten Nacht durchdringen."
Nun sahen die Kinder zweifelnd in die Schatten, die von außen auf das Lagerfeuer zukrochen, und lauschten auf jeden Laut, der einen nahenden Kaiman oder eine kriechende Schlange verraten könnte, und nicht wenige hielten vor Furcht den Atem an.
Es würde eine lange Nacht für sie werden, doch an ihrem Ende erwartete sie ein Festmahl, um den Beginn eines neuen Jahres zu feiern.