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Nach dem Prompt „Braunbrustigel“ der Gruppe „Crikey!“
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Mit leisem Summen harkte Anita das Laub. Die Striche folgten dem Rhythmus der ruhigen Melodie. Die Goldsonne stand alleine am Himmel und strahlte mit einer Kraft, die so spät im Jahr ungewöhnlich war, als wolle sie sich gebührend verabschieden und den Erdbewohnern in bester Erinnerung bleiben.
Der Wind ging schwach und trug den Duft der reifen Beeren und buntes Laub mit sich. Die Welt schien stillzustehen.
"Was machst du da?"
Anita sah auf und bemerkte einen Jungen am Gartenzaun. Neugierig spähten grüne Augen unter einem blassgrünen Schopf herüber.
"Ich harke das Laub", erklärte sie freundlich und deutete auf den großen Haufen, den sie bereits angesammelt hatte.
"Du hast doch einen Komposteimer. Warum tust du das Laub nicht dorthinein?" Hätten seine spitzen Ohren ihn nicht längst als Elf enttarnt, so hätte es seine Ausdrucksweise, die für ein Menschenkind in gleicher Größe viel zu gewählt wäre.
"Das ist für die Igel", antwortete Anita geduldig. Noch immer bewegte sie die Harke. "Sie sollen es im Winter warm haben."
Der kleine Elf runzelte die Stirn. "Aber dann wird das Laub dort direkt neben dem Haus verrotten. Und du hast im Frühjahr mehr Arbeit."
"Ich arbeite aber gerne." Langsam wurde sie etwas ungeduldig mit dem neunmalklugen Kind. Warum interessierte er sich so für ihr Laub?
"Verzeiht, ich wollte Euch nicht verärgern."
Anita zuckte zusammen. Der Kleine war erstaunlich empathisch.
"Das wird es vermutlich jetzt nicht besser machen ... aber ich finde euch Menschen sehr interessant", sagte der Elf vorsichtig. "Vor allem eure ... wie soll ich es sagen ...?"
"Sterblichkeit?", fragte Anita bitter.
Der junge Elf nickte. "Ja. Verzeiht erneut, gute Dame."
"Der Tod ist kein Tabuthema", widersprach Anita, als sich der Elf zum Gehen wenden wollte. "Ich kann verstehen, dass es euch Langlebige neugierig macht." Irgendwann kam für jeden kleinen Elfen die Zeit, da ihm seine Eltern erklärten, dass jene ohne spitze Ohren eines Tages sterben würden. Die meisten suchten dann irgendwo Antworten auf dieses beängstigende Konzept, jedenfalls in diesem Land, wo Elfen, Menschen und Zwerge Seite an Seite lebten.
"Darf ich eine Frage stellen?", bat der Elf sehr leise.
Anita lächelte freundlich. "Natürlich."
"Ich hoffe, ich verletze keine Gefühle. Aber ich stelle es mir sehr schwierig vor, zu wissen, dass man sterben wird und nichts dagegen tun kann. Wie ..." Das Kind gestikulierte zu Anitas Laubhaufen. "Wie findet ihr dennoch die Ruhe, so viel Zeit für Igel aufzuwenden?"
Anita lachte leise. "Sterblichkeit ist ein Geschenk, mein kleiner Freund. Wenn deine Zeit begrenzt ist, dann fragst du dich, wie du sie am besten nutzen kannst."
Der Elf musterte ihr Gesicht forschend. Sicherlich bemerkte er ihr graues Haar, die Falten, die steifen Finger und den krummen Rücken. Die Zeichen, dass auch sie in den Herbst eingetreten war. "Und wofür nutzt man seine Zeit am besten?"
"Es kommt natürlich immer darauf an, wen du fragst. Aber in meinen Augen ist es am besten, für andere zu sorgen. Die Schwachen zu beschützen und eben auch dem gewöhnlichen Igel ein Heim für die Winterzeit zu bieten. Jahre sind für uns sehr wertvoll, mein unsterblicher Freund, und ihr Wert bemisst sich vor allem darin, wie viel Gutes wir in einem jeden tun können."
Sie sah zum Elfen, um seine Reaktion zu sehen, doch sein verschlossenes Gesicht gab ihr keinen Hinweis. Lange Zeit schwieg er und sie setzte ihre Arbeit fort, in ruhigen Strichen, ohne jede Eile, in der warmen Sonne des Spätherbst und den verheißungsvollen Duft der Ernte in der Nase.
Schließlich atmete der Elf durch und nickte. "Ich denke, ich verstehe. Habt vielen Dank für diese Lektion, gute Frau."
"Sehr gerne." Sie sah ihm nach, während der Elf schweigend zurückkehrte.
Einige Tage später saß sie auf der Veranda, in ihrem Schaukelstuhl und eine gehäkelte Decke über den Knien. Entspannt sah sie über die Wiese, auf der sich bereits neues Laub gesammelt hatte. Es war Abend und kühl. Der Tee in ihrer Hand ließ Dampf aufsteigen. Sie blickte auf den Wald, der hinter ihrer Hütte begann, und auf den dunkler werdenden Himmel.
Mit einem Mal sah sie eine Bewegung auf dem Rasen. Neugierig, doch nicht zu rasch, hob Anita den Kopf. Ein Lächeln kroch auf ihre Lippen, als sie den kleinen, runden Igel über das Gras huschen sah. Sich sicher fühlend hatte er den schützenden Laubhaufen verlassen, um noch einmal - vielleicht das letzte Mal vor dem Winterschlaf - auf die Jagd zu gehen.
Lautlos lehnte sie sich zurück, um ihren kleinen Gast nicht zu stören. Der Igel huschte durch ihren Garten und unter dem Zaun hindurch, und war bald nicht mehr zu sehen. Anitas Blick schweifte zu dem anderen Igel, der auf der Fensterbank saß. Es war eine kleine Figur aus einer Kastanie und dünnen Stäbchen, die am Tag nach ihrem Gespräch mit dem jungen Elfen auf ihrer Türmatte gelegen hatte und seitdem einen Ehrenplatz zwischen ihren Blumen belegte.