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Nach dem Prompt „Wiesenwühlmaus“ der Gruppe „Crikey!“
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Hastig huschte die Maus über den Tisch. Sie umrundete einen Becher, schnupperte mit bebenden Tasthaaren und huschte dann an einem dicken Brettchen vorbei zu einem Krümel Brot, der herabgefallen war. Die Maus futterte den Brocken und wuselte weiter, über das Brotmesser hinauf auf das Brettchen. Dann, erschreckt von einem Geräusch oder einer Bewegung, sprang sie wieder herunter, floh zwischen einer Flasche und einem Krug hindurch auf die andere Seite des Tisches und suchte unter dem Rand eines Tellers nach Nahrung, bevor sie sich neben einen Becher setzte und die Pfötchen hob, um sich zu putzen.
In diesem Moment kamen krumme Finger mit langen, spitz zulaufenden Nägeln herab und packten die Maus, welche nur Zeit für einen quiekenden Schreckensschrei hatte, bevor sie sich auf der von Falten durchzogenen Hand einer großen Menschenfrau wiederfand. Das Mäuschen zappelte, doch der sanfte Druck des Daumens auf ihrem Rücken hielt es fest.
"Verehrte Omde?" Das junge Mädchen sah zweifelnd auf die Maus im Griff ihres Gegenübers. "Was ... hat die Maus mit meiner Frage zu tun?"
"Entschuldige, Kind." Die Frau strich dicke Haarstränge aus ihrer Stirn, in die Zähne und kleine Knochen eingeflochten waren. "Was war noch gleich deine Frage?"
Die junge Zwergin verzog unwillig den Mund unter dem Bartflaum. "Die Feier", erinnerte sie die Omde ungeduldig. "Werde ich jemanden treffen?" Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stöhnte. "Oder verschwende ich hier meine Zeit?"
"Natürlich nicht, mein Kind." Die Omde lächelte und hob die Maus neben ihr Gesicht. "Unser kleiner Freund hier wird mir helfen, deine Frage zu beantworten."
"Eine Maus kann ja wohl nicht sprechen", brummte die junge Zwergin, aber sie setzte sich wieder auf den Hocker, auf dem sie nun schon so lange ausgeharrt hatte. "Also?"
Nachdenklich betrachtete die Omde die Maus und strich durch das Fell des Tieres. "Du wirst auf jeden Fall jemanden treffen."
Die Zwergin sprang auf. "Wen? Wird er gut aussehen?"
"Keine Zecken, also wird er nicht schlecht aussehen", sprach die Seherin. "Aber vielleicht anders, als du es dir vorstellst." Sie drehte die Maus. "Ein Mann ist wahrscheinlich, aber auch eine Frau nicht ausgeschlossen."
"Eine ... Was auch immer! Und sonst?"
"Nun, die Maus hat noch immer nicht versucht, mich zu beißen. Es wird also wohl nicht direkt etwas Festes daraus werden." Die Omde lächelte. "Ich kann dir nur zu Geduld raten, mein Kind. Wenn die Götter nicht sehr auf deiner Seite sind, wirst du nach dem morgigen Fest immer noch Fragen haben, aber es wird ein Same gesät, aus dem vielleicht eine Freundschaft, bei richtiger Pflege gar Liebe werden kann."
"Liebe", wiederholte das Kind beeindruckt.
"Ja, Liebe." Die Omde beugte sich mit einem Ächzen herab und ließ die Maus auf dem Boden frei. Das dunkelbraune Tier flitzte sofort auf sein Loch zu, das in der Wand lag. "Doch nur, wenn du dich darum bemühst."
"Natürlich!" Das Zwergenkind sprang auf. Erst in der Tür der Hütte erinnerte sie sich an die Bezahlung, kehrte um und legte drei Knollen auf den Tisch. "Danke! Bis dann!" Damit sprang das Kind aufgeregt davon - zweifellos, um seinen Freundinnen von der Weissagung zu erzählen.
Die Omde lehnte sich zurück und schüttelte lächelnd den Kopf, während sie ein paar weitere Krümel auf die Erde rieseln ließ. Sie musste sicherstellen, dass auch für den nächsten Bittsteller wieder eine Maus auf dem Tisch auftauchen würde, um das Orakel 'lesen' zu lassen.