Rating: P12 [CN: Tod, Sterben, Krankheit]
Nach dem Prompt „Gewürzbusch-Schwalbenschwanz / Taschenmonster“ der Gruppe „Crikey!“
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"Sieh mal, was ich gefunden habe!"
Der alte Mann beugte sich im Schaukelstuhl vor, als das Mädchen auf die Terrasse gelaufen kam.
"Marie! Du sollst doch nicht einfach weglaufen."
"Ich war nur bis zum Fluss." Sie griff in die Tasche und zog etwas hervor. "Guck mal!"
Es handelte sich um ein etwa fingerlanges, hellgrünes Tier. Auf den ersten Blick schien es eine gehörnte, kurze Schlange mit großen Augen zu sein, doch das lag nur an der auffälligen Zeichnung.
"Eine Raupe", erkannte der Großvater.
Marie nickte ernst und hustete. "Sie schwamm im Wasser. Glaubst du, sie ist verletzt?"
"Bist du gerannt?", fragte ihr Großvater sie besorgt. "Komm her." Er fühlte ihre Stirn. "Du musst sofort ins Bett!"
"Aber die Raupe braucht Hilfe!", protestierte sie sofort.
"Du gehst ins Bett. Und dann gucken wir, was wir für die Raupe tun können."
Er steckte das blasse Mädchen unter mehrere dicke Decken. Während die Flammen im Kamin Holz verschlangen und den kleinen Raum mit Wärme füllten, suchte er ein Glas heraus und setzte die Raupe gemeinsam mit einem grünen Zweig hinein.
"Sie wird sich jetzt auch aufwärmen", erklärte er Marie, während er das Tier neben ihr auf das Nachttischschränkchen stellte. "Und jetzt schlaf ein bisschen, ja?"
Ihre Lider sanken bereits herab und sie nickte. Während sie sich in die Kissen kuschelte, sah sie zu dem kleinen Glas auf dem Tischchen und lächelte.
Marie hatte schon viel zu lange nicht mehr gelächelt. Ihr Großvater seufzte leise, während er hinaustrat. Weil sie ihm heute entwischt war, machte er sich große Vorwürfe. Es war Nachmittag und es gab noch viel zu tun. Aber eigentlich musste er auch auf das junge Mädchen achtgeben und bei ihr sein.
Er hoffte, dass dieser Ausflug ihre Gesundheit nicht noch mehr angegriffen hatte. Vielleicht würde es ja etwas Gutes bezwecken, weil sie nun dieses kleine Tier gefunden hatte und glücklich wirkte.
"Was macht sie?"
"Das nennt sich Verpuppung. Sie hat diesen Kokon gesponnen und schläft jetzt."
"Dann geht es ihr gut?"
"Sie schläft nur. Und wenn sie aufwacht ..."
Marie setzte sich auf. "Sie wird also wieder aufwachen?"
"Wieso denn nicht?", fragte er sie verwundert.
"Na ja, das sieht aus wie ... wie Mama und Papa unter dem weißen Tuch. Und sie sind auch nicht mehr aufgewacht." Marie sah zu ihm auf.
Ihr Großvater seufzte und setzte sich auf das schmale Bett, das unter seinem Gewicht knarzte. Er strich über den weichen Blondschopf seiner Enkelin. "Raupen machen das immer irgendwann. Sie puppen sich ein und schlafen eine Weile. Dann, irgendwann, werden sie wieder wach und schlüpfen, aber als Schmetterling."
Marie machte große Augen. "Da kommt ein Schmetterling heraus?"
Er musste einen Hustenanfall abwarten, bevor sie ihm wieder zuhören konnte. Besorgt fühlte er ihre Stirn. Heute war das Fieber nicht ganz so schlimm. Aber sie sah immer noch so furchtbar blass und dünn aus. "Genau. Ein wunderschöner Schmetterling."
"Weiß sie das?" Marie sah auf das Glas.
"Die Raupe? Das können wir nicht sagen."
"Und dann kann sie plötzlich fliegen?"
Er sah sie lange an. "Weißt du, viele sagen, dass der Tod genauso ist. Man streift seine alte Hülle ab, so, wie die Raupe ihren Kokon, und die Seele fliegt als Schmetterling davon."
"Das klingt schön." Marie lächelte. Ihre Lider sanken herab. "Ich glaube, ich bin jetzt müde. Aber weck mich, wenn sie losfliegt."
"Das dauert noch, mein Schatz. Es ist noch Zeit."
Aber jede Zeit ist irgendwann um. Und schließlich schlüpfte ein hübsches Tier mit dunkelblauen, am unteren Rand blau gefärbten Flügeln aus dem Kokon. Eine Reihe weißer Perlen zog sich über den Flügelrand. Marie saß die ganze Zeit am Fenster, in Decken gehüllt, und wartete, bis die Flügel des Schmetterlings getrocknet waren.
"Sie will nach draußen", sagte sie leise. "Sie kann nicht bei uns bleiben, oder?"
"Sie ist ein wildes Tier." Ihr Großvater nickte. "Bist du traurig, dass du sie gehen lassen musst?" In den letzten Wochen war die Raupe in ihrem Kokon Maries einzige Freundin gewesen. Weil sie so geschwächt war, durften ihre anderen Freunde sie nicht besuchen.
"Nein." Maries Husten war kaum mehr als ein Krächzen. Selbst das Sitzen strengte sie an, aber trotzdem klang sie kein bisschen betrübt. "Ein Schmetterling soll ja fliegen."
Als ihr kleiner Gast bereit war, öffneten sie das Fenster und fröstelten in der kalten Luft, die hereinkam. Marie hustete. Erst dann konnte sie den Schmetterling auf die Hand nehmen und hinaus halten. Das Tier drehte sic einmal, dann schlug es mit den Flügeln und hob ab.
"Auf Wiedersehen, meine Freundin." Marie winkte ihr. "Ich komme bald nach."