Haarmann mit dem Hackebeil
Wieder zuhause informierte ich die Nachbarn. Diese waren nicht sehr erfreut über die Neuigkeiten -schließlich wollten sie ja den Abraum wegtransportieren lassen und ihren Garten anlegen. Aber hier ging es möglicherweise um ein sehr viel wichtigeres Ereignis! Ich begann nun die Knochen, die die Polizei nicht behalten hatte, akribisch weiter zu untersuchen. Das Ergebnis war erschreckend. Ich konnte fast alle Knochen identifizieren, es musste sich um mindestens fünf Individuen handeln. Drei davon waren Kinder – wahrscheinlich im Grundschulalter, eines wohl jünger. Die Altersabschätzungen machte ich mit Hilfe von Fotos von Kinderskeletten mit Größenangaben, die Zahl der Individuen ergab sich daraus, dass einige Beckenknochen doppelt vorhanden waren. Nun begann meine Fantasien zu rotieren. Was musste geschehen sein? Welches Drama hatte sich dort wohl abgespielt? Mindestens fünf Tote – und ich hatte nur einen kleinen Teil des Schutts untersucht. Hatte sich dort ein Familiendrama abgespielt – etwa in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, waren es getötete Häftlinge aus der Außenstelle des Konzentrationslagers, welches sich in der Nähe befand? Waren es Hungeropfer aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren? War der alte Bauer ein Kannibale? Der „Haarmann mit dem Hackebeilchen“ – auf einem bayerischen Dorf? Mir kam die Geschichte von Fritz Haarmann, jenem legendären Massenmörder, der in den zwanziger Jahren dutzende junger Männer in sexueller Exstase getötet hat - ins Gedächtins. Er hatte ihre Leichen säuberlich in kleine Stückchen zerteilt, diese entsorgt und ihr Fleisch dann verkauft. Und das Dorf – wusste man um etwa diese Taten? Lag ein dunkles Geheimnis über der Gemeinschaft des friedlichen Dorfes?
Es half nichts, die Polizei kam, sperrte den Tatort ab, untersuchte ihn, alles während ich in der Arbeit war. Danach hörte ich über Wochen nichts. Klar, laufende Ermittlungen – da wird nichts hinausposaunt.
Es vergingen mehrere Wochen, der Schutt auf dem Terrain des Schuppens wurde abgetragen, Gartenerde wurde geliefert, ohne dass ich irgendetwas erfuhr. Ich wurde schier verrückt – hier waren Menschen zu Tode gekommen und das Ganze schien keinen zu rühren. Nach einigen Wochen ergab sich wieder ein Gespräch mit dem Nachbarn: „Ach die Erde mit den Toten? Das war die Baufirma!“ „Wieso die Baufirma?“ „Naja, die Baufirma hatte in einem anderen Dorf einen Bauauftrag auf der Fläche eines alten, aufgelassenen Friedhofs.“ sagte er. Ich entgegnete entsetzt: „Ja, aber man kann doch nicht einfach die Erde mit den menschlichen Knochen irgendwo auf einer Baustelle entsorgen?!“ „Nein, das darf man natürlich nicht, da gibt es genaue Vorschriften, wie mit solcher Erde zu verfahren ist – aber das kostet natürlich einen Haufen Geld.“ Ich war frustriert und erleichtert gleichermaßen. Erleichtert deswegen, weil sich meine „Mordfantasien“ als Fantasien erwiesen hatten – frustriert, weil sich mein „großer Fall“ als recht harmlos erwies. Frustriert aber auch, weil ich an die Menschen dachte, deren Knochen ich gefunden hatte. Wer mochten sie gewesen sein? Wann hatten sie wohl gelebt? Einige davon waren ja noch Kinder – und ich dachte daran, dass es früheren Zeiten sehr viele Menschen gab, die als Kinder, als Säuglinge starben und dass dies eher die Regel als die Ausnahme war. Frustriert auch darüber, dass die Überreste dieser Menschen so respektlos behandelt wurden. Mein Nachbar meinte noch: „Die Baufirma haben wir natürlich sofort gewechselt. Die haben jetzt ein großes Strafverfahren zu erwarten!“ Wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit!