"Hallo Mein Name ist Kai, genannt die Mumie. Ich bin 23 Jahre alt und eigentlich bin ich nicht wirklich süchtig. Damit meine ich nicht, dass ich meine Sucht im Griff habe, sondern dass ich nicht im eigentlichen Sinne süchtig bin. Als ich 14 Jahre alt war, bekam ich nach einem wunderschönen Urlaubstag, den ich mit meinen Eltern am Strand verbrachte abends plötzlich heftigen Sonnenbrand. Meine Eltern meinten, dass es wohl zu viel Sonne gewesen wäre, besorgten Panthenolspray und rieben mich damit ein. Ich kann mich noch genau erinnern wie herrlich kühl es auf der Haut war. Am nächsten Tag waren die Rötungen schon etwas abgeklungen und ich durfte wieder mit zum Strand, erhielt aber die Order mich im Schatten zu halten. Das tat ich. Fast den ganzen Tag vergnügte ich mich mit meinem Gameboy im Schatten des Sonnenschirms, nur zwei oder drei Mal war ich für ein paar Minuten im Wasser und genoss wieder dieses kühle Gefühl auf der Haut. Aber am späten Nachmittag begannen meine Hände und Arme, mein Gesicht und meine Beine zu brennen wie Feuer. Die Rötungen waren wieder stärker geworden und teilweise zeigten sich kleine Bläschen. Jammernd zeigte ich meinen Eltern die Bescherung. Wir gingen sofort zurück ins Hotel, wo ich vollständig mit Panthenolspray zugekleistert wurde. Dieses Mal spürte ich zwar die Kühlung, aber das Brennen unter meiner Haut blieb. Es muss eine unruhige Nacht gewesen sein, denn meine Eltern sahen am nächsten Morgen ziemlich fertig aus. Sie meinten ich hätte in der Nacht Fieber bekommen, geschwitzt und im Schlaf gesprochen, ich würde verbrennen. Die Rötungen waren kaum zurückgeggangen, im Gegenteil. An den Stellen, an denen ich bereits zuvor den Sonnenbrand gehabt hatte, warf meine Haut nun große Blasen. Sie waren heiß und prall und schmerzten bei jeder kleinen Berührung. Meine Mutter bestand darauf, dass wir sofort einen Arzt aufsuchten. Mein Vater war sauer, weil ich mich seiner Meinung nach nicht ausreichend im Schatten aufgehalten hatte und nun auch noch die restlichen fünf Urlaubstage im Eimer wären.
Der Arzt schaute sich das Ganze an, diagnostizierte einen schweren Sonnenbrand, gab meinen Eltern eine grotesk große Tube einer unangenehm riechenden Salbe und empfahl 'den Jungen aus der Sonne rauszuhalten'. Nachdem ich an jeder zugänglichen Stelle mit der stinkenden Salbe eingerieben war, packten wir zusammen und reisten vorzeitig ab.
Keine Woche später sahen meine Eltern ein, dass es wohl nicht reichen würde mich aus der Sonne rauszuhalten und von Kopf bis Fuß einzucremen. Die Blasen hatten sich ausgebreitet, waren zum Teil aufgeplatzt und hinterließen schorfige, juckende Stellen auf meiner Haut. Der Urlaub war inzwischen beendet, wie auch meine Ferien, aber ich musste bisher nicht wieder in die Schule, denn ich war krankgeschrieben. So fristete ich mein Dasein in meinem Zimmer im Keller und zockte Videospiele. Alle paar Tage kam ein Kumpel vorbei, um den verpassten Schulstoff zu bringen und mein alienhaftes Aussehen zu bestaunen. Ich ließ sie gewähren.
Inzwischen waren meine Eltern in einen etwas panischen Zustand verfallen. Sie schleiften mich immer wieder zu unserem Hausarzt, um sich immer noch andere Mittelchen für meine Genesung aufschreiben zu lassen. Nichts davon half.
Als der Sommer vorüber war wurde es tatsächlich wieder besser. Irgendwann gegen Ende des Herbstes durfte ich schließlich wieder in die Schule gehen. Inzwischen waren die Blasen verschwunden und die schorfigen Stellen waren zum größten Teil einer Haut gewichen, die in der Farbe zwischen rötlich und bräunlich schwankte und rauh war, wie die Zunge einer Kuh. Auch meine Eltern beruhigten sich wieder. Ich musste nicht mehr ständig zum Arzt und konnte ein mehr oder minder normales Leben führen.
Im nächsten Frühjahr, als die Sonne wieder an Kraft gewann, wurde es sofort wieder schlimmer, aber ich weigerte mich wieder ein Einsiedlerdasein zu fristen und bestand darauf, in die Schule zu gehen, um meine Kumpel zu treffen. Leider ging das nicht lange gut. Mit der wachsenden Stärke der Sonne, nahmen auch die Verbände an meinen Händen, Armen Hals und Gesicht zu. Das war die Zeit, als ich den Spitznamen Die Mumie bekam, den ich seitdem nicht wieder losgeworden bin.
Irgendwann im Sommer gelang es meiner Mutter schließlich einen Termin beim Hautarzt zu machen. Der schaute mich von allen Seiten an, lauschte der exquisiten Krankengeschichte und diagnostizierte dann: CAD, chronisch aktinische Dermatitis. Eines der Krankheitsbilder, die gemeinhin als Sonnenallergie oder Lichtallergie bezeichnet werden. Damit sprach er quasi mein Todesurteil.
Nach dieser Diagnose durfte ich das Haus nur noch nachts verlassen. Normal zur Schule gehen oder einfach nachmittags mal mit meinen Leuten abhängen war nicht mehr drin. Nach einiger Zeit fing ich an, mich zu fragen, ob ich wohl ohne es zu wissen ein Wesen der Nacht war, ein Vampir vielleicht oder ein Werwolf, denn ich begann den Mond immer mehr zu lieben. Er war nun meine Sonne. Man kann wohl sagen, ich war mondsüchtig. Es war mir kaum noch möglich soziale Kontakte zu pflegen, da sich alle von mir zurückzogen. Kein Wunder. Mit einem esoterischen Spinner, der nur nachts rausgeht und aussieht wie eine Mumie, will eben keiner etwas zu tun haben. Das alles hat mich wohl in eine ziemliche Depression getrieben, die letztes Jahr in einem ersten Suizidversuch gipfelte. Hat nicht geklappt. Und jetzt bin ich hier."
Die Gruppe schaute den bandagierten Mann sprachlos an. Einige Sekunden später fand der Leiter dieser Selbsthilfegruppe stockend seine Sprache wieder.
"Ähm, äh, ja, danke, dass du dich uns schon in deiner ersten Sitzung so sehr geöffnet hast. Was glaubst du, wie wir dir helfen könnten?"
"Keine Ahnung, vielleicht könnte einer von euch ja bei seinem nächsten Einkauf im Baumarkt ein kräftiges Seil mitbringen. Auf Verbrennen hab ich nämlich keine Lust."