Kurt saß im Cafe und genoss seinen Tag. Ein freier Tag, wie man sich einen vorstellt. Schönster Sonnenschein, kaum eine Wolke am Himmel und jede Menge Zeit.
Er nippte versonnen an seinem Cappuccino, las die Zeitung und warf immer wieder mal einen Blick auf das geschäftige Treiben in der Fußgängerzone vor dem großen Fenster. Ein Schriftzug spannte sich im Bogen über die Scheibe. Cafe & Kuchen, Inhaber H. Kämmerer stand dort in goldenen Buchstaben zu lesen.
Vor einer ganzen Weile war er fast täglich hier gewesen, in eben diesem Laden. Allerdings war es damals noch kein Cafe gewesen, sondern ein Imbiss. Nichts Großartiges, aber hier hatte es die beste Currywurst weit und breit gegeben. Selbstverständlich hatte man auch Pommes Schranke bekommen können sowie eine Auswahl an Pizzen und Burgern, aber die Currywurst war mit Abstand das Beste auf der Karte.
Jetzt sah der Laden ganz anders aus. Statt der billigen Tische mit Pressspanplatten, die teilweise schon etwas aufgequollen waren, standen jetzt über den Raum verteilt etliche runde Tischchen mit edlen, runden Marmorplatten und je drei Stühlen. Die ehemals braunen Fliesen waren durch ein schwarzweiß Karomuster ersetzt worden, die Wände verkleidet mit hellen Paneelen, wahrscheinlich im Farbton Esche oder Ahorn. Der ganze Gastraum wirkte offen und freundlich. Ein Platz, um zu entspannen, ein Platz, um Freunde zu treffen oder sich an einem freien Tag der Lektüre der Wahl zu widmen, so wie er es gerade tat.
Kurt beschloss, ein Stück Apfelkuchen zu seinem Cappucino zu versuchen. Er hob die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Student, der hinter der Theke seinen Dienst tat, bemerkte ihn sofort und kam, bewaffnet mit dem Gerät zur digitalen Erfassung der Bestellung an Kurts Tisch.
"Darf es noch etwas sein?"
"Ja. Ich hätte gern ein Stück Apfelkuchen und lassen Sie ruhig noch einen Cappuccino in die Tasse, der hier ist gleich leer", sagte Kurt.
"Sehr gern." Der Student verschwand wieder hinter der Theke und begann sogleich die Bestellung zu bearbeiten.
Kurt schaute sich indes weiter um. An der Wand hinter der Theke waren schwarze Regale montiert, die allerlei Arten von Gläsern und Tassen beherbergten. Früher hatte dort der Dunstabzug aus Edelstahl gehangen. Eine viel zu laute Monstrosität, die manchmal nur so von Fett triefte. Die Arbeitsfläche darunter war ebenfalls erneuert worden. Anstelle des Grills und der Friteuse fanden sich dort nun eine gewaltige, chromglänzende Siebträgerkaffeemaschine und diverse Arten Löffel, außerdem Kuchengabeln und Servietten.
"Bitte sehr." Der Student servierte Kuchen und Cappucino. Die leere Tasse nahm er mit und Kurt bewunderte die Ladenuniform. Dunkle Hose, weißes Hemd und eine schwarze Weste mit dem Logo des Cafes in goldenen Lettern auf die linke Brustseite gestickt. Wirklich edel.
Wieder einmal wanderte sein Blick durch das Fenster nach draußen. Gerade steuerte ein älterer Herr mit runder Brille, gekleidet in die Ladenuniform auf die Tür zu. Der Mann trat ein. Ein helles Klingeln erklang. Der Student schaute vom Geschirrspüler auf und lächelte.
"Hallo Sören", sprach der Mann den Studenten an. "Wie lief der erste Tag allein bisher?"
"Hervorragend Herr Kämmerer, überhaupt kein Problem", antwortete der Student.
"Das freut mich zu hören. Dann kannst du sicher, ab nächster Woche die neue Filiale übernehmen, jedenfalls, wenn es deine Zeit erlaubt. Du hättest es nicht mehr so weit."
Sörens Lächeln wurde noch etwas breiter. "Das wäre toll", sagte er.
"Würdest du dir auch zutrauen noch einen Kollegen einzuarbeiten? Mit zwei Läden wird es sonst etwas knapp zu sechst."
"Aber klar, das sollte kein Thema sein", antwortete Sören.
"Klasse. Dann wollen wir mal." Kämmerer prüfte kurz die Bestände hinter der Theke und warf einen Blick in die Kuchenvitrine.
"Ich hole noch etwas Cheesecake aus der Kühlung." Damit verschwand er im hinteren Bereich des Cafes.
Kurt nahm seine Beobachtung des Gastraumes wieder auf und zog noch einige Vergleiche zur früheren Einrichtung. Schließlich blieb sein Blick an der kleinen Vase auf seinem Tisch hängen, in der zwei frische Margeriten in klarem Wasser standen.
Früher hatte es hier auch Blumen gegeben, vergilbte und unglaublich eingestaubte Plastikblumen. So lange, bis das Gesundheitsamt den Imbiss geschlossen hatte. Ja, es war ein Dreckloch gewesen, aber verdammt noch mal, es war sein Dreckloch gewesen, dachte Kurt und spannte unter dem Tisch die Fünfundvierziger.