Henriks Kindheit verlief nicht, wie die der meisten anderen Kinder. Solange er noch in der Obhut seiner Eltern war, blieb er unauffällig, vielleicht war er ein bisschen ruhig, für ein so kleines Kind, aber es musste eben auch ruhige Kinder geben. Darüber machte sich niemand Gedanken. Sobald er aber eingeschult war und somit regelmäßig in Kontakt mit Gleichaltrigen kam, begannen die Schwierigkeiten. Des Öfteren mussten seine Eltern in der Schule erscheinen, um sein Verhalten mit den Lehrern zu besprechen. Es begann noch ganz harmlos.
"Henrik passt im Unterricht nicht auf", hieß es da. "Er ist immer mit den Gedanken woanders. Jedesmal, wenn man ihm eine Frage stellt, kann er nicht antworten." Wenn seine Eltern ihn dann zu Hause zur Rede stellten, wurde er zunächst ermahnt, dass es so nicht weitergehe. Er müsse sich in der Schule konzentrieren, schließlich lerne er für sein eigenes Leben und nicht für irgendjemanden sonst. Henrik nahm diese Litaneien meist wortlos hin.
Doch schon bald fiel auch den anderen Kindern auf, dass er ein Sonderling war. Der wortkarge Junge hatte keinen leichten Stand bei seinen Klassenkameraden. Sie triezten ihn regelmäßig, verpassten ihm den Spitznamen "Fisch", weil er eben so stumm wie ein Fisch war und begannen auch körperlich übergriffig zu werden. Henrik war aber nicht wehrlos. Zwar sagte er selten mal ein Wort zu den Schlägen und den an seinen Rücken geklebten Zetteln, aber wenn es ihm zu bunt wurde, griff er sich auch mal einen der Jungen und schlug ihn grün und blau. Er war groß für sein Alter und schnell genug, es mit jedem von ihnen aufzunehmen.
Das wiederum sorgte für weitere Elterngespräche, auf die dann weniger erbauliche Austausche, vor allem mit seinem Vater Konrad, in den heimischen vier Wänden folgten. Oft kam dabei Konrads Gürtel zum Einsatz. Die Erfolge dieser erzieherischen Maßnahmen, konnten die anderen Kinder dann am nächsten Tag in Henriks Gesicht, an seinen Armen und wenn sie Sport hatten auch auf dem Rest seines Körpers bestaunen.
Henrik versuchte immer mehr, andere Mensch zu meiden. War er zu Hause, zog er sich in sein Zimmer zurück und verließ es nur, wenn es unbedingt erwünscht war, zur Einnahme von Mahlzeiten im Kreise der Familie zum Beispiel. Seine Mutter Sara versuchte wohl so etwas wie Familienfrieden herzustellen, indem sie mindestens einmal am Tag alle an dem großen Esstisch zusammenrief. Henrik trug nur selten etwas zu den Unterhaltungen bei. Auch das von Sara zubereitete Essen nahm er mit der Zeit immer widerwilliger zu sich. Es verlangte ihn einfach nicht nach Nahrung. Größtenteils widerten ihn die aufgefahrenen Speisen sogar an.
In der Schule wurde er in die letzte Bankreihe gesetzt. Binnen der ersten drei Schuljahre stellten alle Lehrer die Versuche ein, ihn nach dem aktuellen Unterrichtsstoff zu befragen. Es machte einfach keinen Sinn. Er antwortete nicht. Dabei waren seine schulischen Leistungen nicht schlecht. In den schriftlichen Tests schnitt er oft gut ab. Ein weiterer Grund für seine Mitschüler ihn aufs Korn zu nehmen.
Als ihn wieder einmal eine Gruppe zu ihrem Pausenopfer auserkoren hatte und auch das Ausweichen in die hinterste Ecke des Schulhofs die Jungen nicht dazu veranlasste, von Henrik abzulassen, schnappte er sich den Größten unter ihnen. Fauchend, wie eine tollwütige Katze, rang er den Jungen nieder. Er brach ihm die Nase, den Kiefer und einen Arm. Keiner der Umstehenden wagte es, auch nur einen Schritt in Richtung der Kämpfenden zu tun. Stattdessen rannten sie davon und riefen Lehrer zu Hilfe, die Henrik gerade noch rechtzeitig von dem bewusstlossen Jungen entfernten, um zu verhindern, dass dieser ihn erwürgte.
Diese Episode bildete den unrühmlichen Abschluss von Henriks kurzer Schulzeit. Er hatte in den nächsten Wochen arge Mühe nachts zu schlafen. Die Schmerzen, die Konrads Schläge ihm verursachten, waren einfach zu arg. So verließ ein ums andere Mal das Elternhaus, um nachts durch die Gegend zu ziehen. Etwas trieb ihn förmlich hinaus, zog an ihm und führte ihn durch die Straßen. Er genoss die kühle Nachtluft auf seinem erhitzten, geschwollenen Körper. Immer wieder endeten seine Ausflüge an der Bibliothek.
Einmal stellte sich ein Mann zu ihm, als er gerade wieder zu den hohen Fenster der Bibliothek aufschaute. Er war vielleicht Mitte vierzig, höchstens Anfang fünfzig, wirkte sehr gepflegt und schien Henrik zu kennen.
"Hallo Junge, wie geht es dir? Besser inzwischen? Heilen die Wunden?"
Henrik schaute ihn nur an, sagte aber kein Wort. Da beugte sich der Mann zu ihm hinunter. Seine wilde Mähne umwogte im Wind das hagere Gesicht. Er lächelte und zeigte dabei enorm große Zähne, doch Henrik wich nicht zurück. Dann streckte er Henrik die Hand entgegen. Lange dunkle Fingernägel verunzierten die ansonsten vornehme Erscheinung. Henrik nahm die Hand dennoch und schüttelte sie leicht.
"Mein Name ist Czernobog, ich entbiete dir meinen Gruß. Und egal was du sagst, wenn du denn etwas sagst, dein Name ist nicht Henrik, auch wenn du glaubst das wäre so. Ich habe deinen Namen noch nicht gewählt." Wie so oft sagte Henrik auch dazu nichts.
"Weißt du, was dich hierher zieht, mein Kind?" Der Czernobog zog ein wenig die Augenbrauen in die Höhe als erwarte er tatsächlich eine Antwort, doch Henrik starrte nur in die seltsam gelblichen Augen.
"Es ist das Wissen. Das Wissen zieht dich an. Altes Wissen, Wissen dass du brauchen wirst."
Der Czernobog beschrieb mit einer ausladenden Geste in Richtung des Bibliotheksgebäudes die Größe dessen, was dort zu finden war. "Widme dein Leben nun dem Studium dieses Wissens, denn du musst noch so viel lernen, bevor ich dich zu mir holen kann." Eine kräftige Hand legte sich auf Henriks Schulter. Die langen Nägel drückten leicht in den Stoff seines Shirts, durchdrangen es und gruben sich ein wenig in seine Haut.
"Die erste Lektion, die du lernen musst, ist diese: Du gehörst nicht zu diesen ... Menschen", Czernobog spuckte das Wort voller Verachtung auf die Straße. "Du hast nie zu Ihnen gehört. Du bist mein Spross, mein Keim, eine Brücke zwischen den Welten. Wir gehören zusammen und nicht Schläge, noch Verachtung können diese Verbindung zerschlagen, denn was zusammengehört, wie wir es tun, lässt sich nicht trennen."
Die Hand wurde von seiner Schulter genommen. Henrik warf einen Blick auf die Halbmondschlitze, welche die Nägel hinterlassen hatten. Als er wieder aufsah, war der Mann verschwunden.
Von nun an verließ Henrik das Haus so oft es ihm möglich war, um sich in der Bibliothek Wissen anzueignen. Niemand hinderte ihn daran. Alle waren froh, wenn er aus dem Haus war.
Mehrere Jahre verbrachte er beim Studium der verschiedensten Wissensgebiete, lernte alles, was ihn interessierte, bis ihm eines Tages ein kleines, schwarzes, ledergebundenes Buch in die Hände fiel. Er konnte fühlen, dass dies das Letzte sein würde, das er jemals las, stahl es aus der Bibliothek und zog sich damit endgültig und letztmalig in sein Zimmer zurück.
Wenn dich interessiert, wie es mit Henrik weitergeht, kannst du gern einen Blick in ein paar thematisch zugehörige Drabbleepisoden werfen:
https://belletristica.com/de/books/40787-knapp-dran-drabbles/chapter/223344-kampf-25-02-2022