Als er die Nachricht abgeschickt hatte, ärgert sich Danny kurz darüber.
Ist das vielleicht zu aufdringlich? Nein! Es ist genau das, was ich fühle. Und das kann doch kein Fehler sein, oder?
Dann nahm er wieder seine Gitarre in die Hand und überlegte.
Einen Song für Nicole! Was soll ich machen?
Er wusste überhaupt nicht, ob sie sich überhaupt für Death Metal interessierte, beziehungsweise ob sie etwas damit anfangen konnte. Deswegen musste dieser Song etwas ganz Besonderes werden. Er sollte emotional sein, aber auch aufmunternd, nicht zu kitschig, aber auch nicht zu anspruchsvoll. Nicht zu hart sollte er sein, aber auch nicht zu soft, dafür sehr atmosphärisch. Und ein Instrumentaltitel müsste es sein. Denn wenn er ein Lied mit Gesang machen würde, bräuchte er eine Text. Und das konnte nur schief gehen! Nein, der Titel müsste sie auch so berühren, auch ohne Worte!
Danny wusste nicht, welche Musik Nicole überhaupt gern hörte. Sie hatte zwar einmal erwähnt, dass sie Fan der Sängerinnen CHRISTINA AGUILERA und ADELE war, aber hörte sie auch noch andere Musik gern?
Vielleicht sogar etwas Rock, vielleicht sogar Metal?
Er hatte sie nie gefragt, obwohl das sonst immer sein Lieblingsthema war. Wenn sie sich miteinander unterhalten hatten, ging es meist nur um Biathlon, das Wetter, die Gesundheit und andere allgemeine Sachen. Smalltalk halt!
Als er so überlegte, fiel ihm auf, dass er eigentlich überhaupt nichts über sie wusste! Außer wie alt sie war, wo sie wohnte, dass sie Sportsoldatin und Single war, hatte er keinerlei weitere Informationen über sie. Er hatte in ihr immer nur die Sportlerin Nicole und ihr hübsches Äußeres gesehen, vielleicht noch ihren netten Charakter, aber nie den Menschen dahinter!
Was hat sie für Hobbys? Hat sie einen richtigen Beruf gelernt? Was hat sie nach ihrer aktiven Karriere vor? Wie ist ihre Familie?
Solche und ähnliche Fragen gingen Danny jetzt durch den Kopf.
Naja, vielleicht würde sie sich ja doch irgendwann melden und dann würde er eventuell mehr über sie erfahren....
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Die Wochen vergingen. Auch Martin war sehr geschockt gewesen, als er von Nicole's Unfall erfahren hatte. Auch er wollte gerne etwas tun.
Jeden Tag schauten die Beiden im Internet, ob es irgendwelche Neuigkeiten über ihren Zustand gab. Am Anfang gab es ab und zu manchmal noch ein paar Updates, zum Beispiel dass sie sich in einem Salzburger Spital befand, dass Sie erfolgreich operiert worden war, dass sie sich auf dem "Weg der Besserung" befand, aber auch, dass es "Ein langer Weg zurück in ein normales Leben" werden würde.
Nach ungefähr einer Woche hörten die Infos auf.
Das Leben ging weiter und Danny rechnete eigentlich schon nicht mehr damit, dass Nicole sich bei ihm melden würde. Doch dann, an einem dunklen Sonntag Ende November klingelte plötzlich sein Telefon:
"Hallo Danny! Hier...hier ist Nicole."
"Hey Nicole! Schön, dass du dich mal meldest. Wie geht's dir denn?"
"Wie soll's mir schon gehen?", antwortete sie mit brüchige Stimme. "Beschissen natürlich!"
"Es tut mir so leid!"
Etwas Besseres, was er sagen könnte, fiel Danny gerade nicht ein.
Schweigen.
Dann fragte er: "Was ist denn überhaupt passiert?"
"Alles scheiße!", begann sie zu erzählen. "Ich war so gut drauf! Ich hatte an dem Tag mein erstes Schneetraining der Saison. Es hatte alles geklappt, ich hatte einen wirklich guten Tag. Und ich habe mich gefreut, als mein Trainer Heinz mir angeboten hatte, mich mit nach Hause zu nehmen. Da musste meine Mutter mich nicht abholen. Sie fährt mich nämlich meistens, ich fahre nicht gerne selbst Auto, wenn ich trainieren muss! Es war ziemlich kalt an dem Tag und es schneite stark. Ich vertraute Heinz, aber offensichtlich hat er die Kontrolle über das Auto verloren. Was oder wie es genau passiert ist, kann ich nicht sagen. Ich hatte die Augen geschlossen und etwas Musik gehört, plötzlich hörte ich ihn schreien. Doch da war es schon zu spät, als ich realisierte, was los war, sah ich schon den Baum auf mich zu kommen! Und dann weiß ich nichts mehr. Ich bin erst ein paar Tage später im Spital aufgewacht und konnte meine Beine nicht mehr spüren!"
Danny schluckte.
"Bist du gelähmt?"
"Nicht direkt, nicht dauerhaft, sagen die Ärzte. Ich habe angeblich riesiges Glück gehabt, dass ich nicht querschnittsgelähmt bin! Aber beide Beine waren mehrfach gebrochen und die Nerven und auch der Rücken haben auch etwas abbekommen. Ich bin mehrmals operiert worden und jetzt muss ich mal schauen, wie es weitergeht. Es wird ein langer Weg werden, bis ich im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine komme - wenn überhaupt!"
Danny wusste nicht, was er sagen sollte, dann fragte er:
"Was ist mit deinem anderen Verletzungen?"
"Der Arm und das Schleudertrauma? Das ist halb so schlimm, das wird wieder, auch wenn der kaputte Arm mich noch zusätzlich einschränkt. Denn ich kann gar nichts mehr, ich kann nicht mal mehr alleine auf die Toilette gehen! Das...das macht mich so fertig! Mir geht es echt beschissen!"
"Das glaube ich dir. Das kann ich mir gut vorstellen!"
"Nein, das glaube ich nicht, dass du dir das vorstellen kannst! Oder hast du selber schon einmal so etwas erlebt?"
"Nein, aber..."
"Ständig melden sich irgendwelche Leute und behaupten, dass sie wüssten, wie es mir geht oder wie ich mich fühle! Aber das stimmt nicht, niemand weiß das!"
"Naja, das sagt man halt so..."
"Genau! Man sagt das so, aber in Wirklichkeit weiß es niemand, der es nicht selber erlebt hat! Mich kotzt das nur noch an!"
"Aber ich...", Danny wusste jetzt überhaupt nicht mehr, was er sagen sollte.
"Und euren Nicole Stadler-Fanclub könnt ihr ja nun auch vergessen!"
"Äh,...ja,...wieso...?"
"Na, weil es die Sportlerin Nicole nicht mehr gibt!"
Sie schrie jetzt fast.
"Meine Karriere ist zu Ende! Ich kann froh sein, wenn ich irgendwann mal überhaupt wieder laufen kann! Jetzt gibt es nur noch das Krüppel Nicole!"
Sie begann zu weinen.
"Aber Nicole, das ist doch scheißegal! Hier geht es dich nicht um den Sport, hier geht es nur um dich! Um den Menschen! Um deine Gesundheit! Ich mag dich doch auch so,...also auch ohne Biathlon...! Ich..."
"Ach komm Danny, lass gut sein! Ich will das nicht hören! Ich will im Moment gar nichts mehr hören! Und ich würde dich bitten, dass du dich nicht mehr bei mir meldest!"
"Wa-warum denn?"
"Ich komme grad selber nicht mit mir klar! Ich muss mich erstmal selbst finden und auf meine Reha konzentrieren! Da kann ich keine...äh....Ablenkung gebrauchen!"
"Ablenkung? Die würde dir aber glaub ich ganz gut tun!"
"Mag sein. Aber im Moment..., es ist alles so scheiße...., ich weiß nicht...! Tut mir leid Danny, aber ich will das gerade nicht mehr! Es erinnert mich auch viel zu sehr an meine Biathlon-Zeit! Also, mach's gut, lass es dir gut gehen!"
"Äh..., ja..., Tschüss. Tschüss Nicole, und Gute Besserung! "
Als Nicole aufgelegt hatte, fühlte Danny sich unheimlich leer. Eigentlich konnte er sie ja sogar verstehen. Sie war psychisch am Ende. Alles, wofür sie in ihrem Leben bis jetzt gearbeitet und gekämpft hatte, war von einem Moment auf den anderen zerstört. Ihre Karriere war am Ende, ihre Beine waren kaputt. Aus der vor kurzen noch so topfitten Sportlerin war ein Pflegefall geworden! Das musste man erst einmal verkraften, vor allem, wenn man noch so jung war.
Was Danny aber auf jeden Fall machen wollte, war Nicole's Song fertig stellen, diesen Arbeitstitel hatte er ihm nämlich in der Zwischenzeit gegeben. Er war sich zwar noch nicht so richtig sicher, was er letztendlich damit anfangen würde. Ob er ihn ihr wirklich zukommen lassen, oder ob er ihn später für irgendetwas anderes verwenden oder alles wieder verwerfen würde, wusste er noch nicht genau. Auf jeden Fall wollte er ihn erst einmal fertig stellen. Fertig geschrieben war er schon fast, er musste nur noch aufgenommen, produziert, und abgemischt werden...
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Im Dezember war es dann soweit: Nicole's Song war fertig!
Am zweiten Adventswochenende hatte Danny alles eingespielt, insgesamt drei Gitarren- und zwei Bassspuren, dazu Synthies und auch ein paar Streicher. Am nächsten Tag hatte sein Kumpel Andy die Drums eingespielt und Danny hatte in den Tagen danach alles zu einem fertigen Song zusammen gefügt.
Er war wirklich zufrieden mit dem Ergebnis. Der Song war ungefähr so geworden, wie er ihn sich vorgestellt hatte! Er klang wie eine Mischung aus einer hypnotischen Epik-Hymne von PINK FLOYD, einem unglaublichen Verzerrer-Wahn-Instrumental von DEATH und einem Slow-Tempo-Stampfer von HYPOCRISY, gepaart mit breiten Synthesizer-Passagen von JEAN-MICHEL JARRE! Der absolute Wahnsinn!
Er fand, Nicole sollte der Song nicht vorenthalten werden. Er wollte ihn ihr auf jeden Fall zu schicken, ob sie wollte oder nicht! Was sie letztlich damit anfangen würde, war ihm in diesem Moment egal. Er er hatte einfach das Gefühl, dass er es tun musste!
Also suchte er seine E-Mail-Kontakte durch. Irgendwann vor ein paar Monaten hatte Nicole ihm ein paar Fotos und Dokumente zugeschickt, also hatte er ihre E-Mail-Adresse!
Dann endlich hatte er sie gefunden!
In die Betreffzeile schrieb er Nicole's Song und als Text in der Nachricht nur einige wenige Worte:
Ich habe dir einen Song geschrieben!
Dann lud er er die Audiodatei hoch, fügte sie als Anhang der Mail hinzu und drückte dann, ohne noch einmal darüber nachzudenken, auf "Senden"...