Nachdem Danny die Mail mit dem Song für Nicole verschickt hatte, versuchte er, nicht mehr daran zu denken. Eigentlich wollte er sie ganz vergessen, aber das fiel ihm unheimlich schwer.
Das Einzige, was er machen konnte, war sich abzulenken.
Früher war Biathlon schauen immer eine gute Ablenkung gewesen, aber das funktionierte verständlicherweise zur Zeit überhaupt nicht. Trotzdem verfolgten sie auch dieses Jahr wieder die Saison, wenn auch nicht so euphorisch wie in den Jahren zuvor. Im Gegenteil, es herrschte irgendwie immer eine gedrückte Stimmung, wenn sie sich die Rennen ansahen. Auf manche Wettkämpfe verzichtete Danny jetzt sogar ganz. Wenn er keine Lust zum Biathlon schauen hatte, zog er sich in seinen Keller zurück und spielte Gitarre, wie immer, wenn er der Welt da draußen entfliehen wollte.
Trotz allem hatte sich die Truppe wieder vorgenommen, auch dieses Mal Anfang Januar zum Weltcup nach Oberhof zu fahren.
Aber erst einmal war Weihnachten! Das Fest verlief unspektakulär und routiniert, wie jedes Jahr. Die ganze Familie traf sich, es, wurde viel gegessen, getrunken, geredet und gelacht. Danny schaffte es sogar, sich etwas abzulenken und ab und zu einmal nicht an Nicole zu denken.
An Silvester feierte er mit seinen Kumpels und Verwandten eine große Party, auf der er auch live Gitarre spielte. Das war eine gute Abwechslung und es gelang ihm, dass er sogar einmal für mehrere Stunden nicht an sie denken musste!
Dann begann das neue Jahr. Dass sich in diesem neuen Jahr für Danny so Vieles verändern würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht...
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Nicole war zu dieser Zeit auf dem langsamen, beschwerlichen Weg in ihr neues Leben und hatte ihre Rehabilitation begonnen.
Mitte Dezember war sie in eine Salzburger Reha-Klinik verlegt worden, von da an stand täglich jede Menge Physio-, Psycho-und Ergotherapie auf dem Programm. Es ging nur langsam voran. Manchmal wollte sie alles hinschmeißen, weil sie das Gefühl hatte, dass überhaupt nichts vorwärts ging.
Aber sie machte auch kleine, aber wichtige Fortschritte. Die Ärzte und Therapeuten gaben sich große Mühe und so hatte sie mittlerweile sogar wieder etwas Gefühl in ihren Beinen. Sie hatte sogar schon einmal wieder für wenige Sekunden gestanden, aber an Laufen war noch lange nicht wieder zu denken...
An Weihnachten durfte sie sogar nach Hause.
Aber es war nicht schön gewesen, denn sie war komplett auf Hilfe angewiesen und musste von ihrer Mutter und ihrer Tante, die auf Besuch da gewesen war, gepflegt werden.
Überhaupt kümmerte sich ihre Mutter rührend um sie, jeden Tag nach der Arbeit kam sie vorbei, und an den Wochenenden verbrachte sie fast den ganzen Tag bei Nicole in der Klinik. Sie brachte ihr Essen, Magazine, Bücher, CD's und ab und zu auch mal eine Dose ihres geliebten Energy-Drinks mit. Abends saß sie an ihrem Bett und erzählte ihr die neuesten Geschichten aus aller Welt oder las ihr manchmal etwas aus einem Buch vor.
Bloß Fernsehen schauen machte Nicole kaum, vor allem wenn Biathlon kam, schaltete sie ab!
Sie konnte es nicht! Es tat zu weh!
Sie wusste nicht, wer die ersten Rennen der neuen Saison gewonnen hatte und es interessierte sie auch nicht. Sie wollte es auch von niemandem wissen...
Obwohl sich ihre Mutter so lieb um sie kümmerte, fühlte sie sich unheimlich einsam! Auch wenn sie den ganzen Tag Behandlungen und sie viele Leute um sich herum hatte, fühlte sie sich allein.
Ihr fehlten Freunde!
In den letzten Wochen war ihr nämlich bewusst geworden, dass sie außerhalb ihrer Familie und der Biathlon-Welt kaum noch Kontakte hatte.
Am Anfang hatte sie noch regelmäßig Besuch bekommen, vor allem ihr Trainer Heinz war fast täglich bei ihr. Er hatte sich bei dem Unfall nur einen Arm gebrochen und eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen. Aber das war längst verheilt und er arbeitete mittlerweile wieder in seinem Trainerjob.
Nicole konnte ihm keine Vorwürfe machen, die Polizei hatte eindeutig herausgefunden, dass Heinz keine Schuld an dem Unfall traf, er war nicht zu schnell gefahren und war auch nicht unaufmerksam gewesen. Es war halt einfach sehr glatt gewesen und er hatte die Kontrolle verloren.
Sie hatten einfach nur großes Pech gehabt!
Auch ihre Freundin Theresa Mayr und ein paar andere Leute aus ihrem Leistungszentrum hatten sie am Anfang manchmal besucht, aber jetzt lief die neue Saison und sie hatten keine Zeit mehr für sie. Selbst die Anrufe und Textnachrichten wurden immer weniger. Theresa hatte wie erwartet Nicole's Weltcup-Startplatz bekommen. Natürlich freute sie sich für ihre Freundin, dass sie jetzt auch ihre Chance bekam, trotzdem tat es unheimlich weh!
Seit Weihnachten hatte sich außer ihrer Mutter Andrea, ihrer Tante Sylvia und ihrer Cousinen Steffi, Franzi und Caro überhaupt niemand mehr bei ihr gemeldet. Es ging ihr, trotz Therapie, psychisch immer schlechter.
Am Abend, wenn alle Behandlungen beendet waren und ihre Mutter nach Hause gegangen war, war es am Schlimmsten. Jeden Abend weinte sie sich in den Schlaf. Nicole fühlte sich wie der letzte Mensch auf Erden...
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Ein paar Tage nach Neujahr hatte Nicole ihren Tiefpunkt erreicht. Sie wollte sich gerne einmal mit jemandem außerhalb ihrer Reha-Welt, ihrer Familie und ihres Sports unterhalten, aber sie wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte.
Es ist ja meine eigene Schuld!
Sie hatte während ihrer Biathlon-Karriere fast alle Kontakte außerhalb dieser Blase abgebrochen.
Das habe ich nun davon!
Sogar an Danny musste sie jetzt wieder öfter denken.
Was er wohl macht?
Es tat ihr sehr leid, dass sie ihm Ende November so eine Abfuhr erteilt hatte.
Das hatte er nicht verdient! Er hatte es doch nur gut gemeint!
Überhaupt hatte sie das Gefühl, dass Danny außer ihre Familie der Einzige war, der es mit den ganzen Glück- und Genesungswünschen richtig ernst gemeint hatte.
Ob ich ihn anrufen soll?
Aber nein, das traute sie sich nicht!
Wahrscheinlich ist er stinksauer auf mich und hat mich vielleicht sogar schon fast vergessen…
Dann dachte sie an früher, bevor sie auf die Sportschule gegangen war. Da hatte sie eine gute Freundin namens Julia gehabt. Sie lebte im gleichen Ort wie sie und sie hatten viel miteinander unternommen. Doch dann war Nicole entdeckt wurden und ging von da an auf die Sportschule in Salzburg. Der Kontakt zu Julia wurde immer weniger, in den letzten Jahren hatte sie sich überhaupt nicht bei ihr gemeldet.
Wie es ihr wohl geht? Was sie wohl so macht?
Nicole wusste es nicht und es tat ihr unheimlich leid, dass sie die Freundschaft so hatte schleifen lassen, bis der Kontakt schließlich ganz abgebrochen war.
Doch vor einigen Tagen hatte Andrea es geschafft, über Bekannte an Julia's Telefonnummer zukommen.
An diesem Abend Anfang Januar nahm Nicole all ihren ganzen Mut zusammen und wählte die Nummer:
"Ja?", meldete sich Julias Stimme.
"Hallo hier ist Nicole!"
"Nicole?"
"Ja, Nicole Stadler! Ich bin's du, weißt schon!"
"Ach Nicole, Hallo! Ich habe von deinem Unfall gehört. Es tut mir wahnsinnig leid! Wie geht's dir denn?"
"Nicht so gut wie du dir sicherlich denken kannst!"
"Und warum rufst du an?"
"Na ja...äh, ich weiß auch nicht so richtig..., ich brauchte mal wieder jemanden zum Reden! Ich fühle mich so einsam. Ich habe zwar meine Mutter, aber sonst...! Meine Biathlon-Leute sind ja alle unterwegs!"
"Aha, und da rufst du ausgerechnet mich an?"
"Ja, wir haben uns doch früher so gut verstanden! Was ist überhaupt aus dir geworden? Wie geht's dir? Was machst du so? Hast du schon Familie?"
"Also Nicole, so geht das nicht!"
"Warum denn nicht? Was denn?"
"Na ja, fast zehn Jahre lang willst du von fast nichts mehr von mir wissen, dann meldest du dich überhaupt nicht mehr, weil du nur noch deinen Sport im Kopf hast. Und jetzt, wo du ihn nicht mehr ausüben kannst, kommst du wieder angekrochen! Versteh mich nicht falsch, es tut mir wirklich sehr leid für dich und dein Schicksal ist mir nicht egal. Es hat mich sehr berührt, als ich davon gehört habe! Aber jetzt einfach hier anrufen und so tun, als wäre die ganzen Jahre nichts gewesen, nein, das geht einfach nicht Nicole! "
" Ja..., das tut mir leid! Ich wollte..., ich dachte..., ich hatte immer so viel um die Ohren! Aber ich verstehe dich... "
"Also Nicole, ich wünsche dir Alles Gute, Gute Besserung und dass du wieder auf die Beine kommst! Vielleicht melde ich mich auch mal wieder bei dir, aber im Moment..., nein..., so geht das nicht! Tut mir leid! Tschüss Nicole, Alles Gute!"
Nach dem Gespräch brach Nicole wieder in Tränen aus.
Was habe ich mir nur dabei gedacht? Natürlich ist Julia sauer auf mich! Das ist doch klar!
Sie fühlte sich so dumm und so nutzlos!
Am Abend hatte sie sich wieder etwas beruhigt und ihr fiel ein, dass sie schon seit mehreren Wochen nicht mehr nach ihren E-Mails gesehen hatte. Also öffnete Sie Ihr E-Mail-Programm und schaute es sich alles durch. Es war nichts Besonderes dabei, außer den üblichen Spam- und Werbe-Mails, sowie einigen Newslettern.
Doch dann fand sie eine Mail, die von keinen der bekannten Absendern und Firmen stammte.
Sie ist von Danny! Wann hatte er sie denn gesendet? Oh, das ist ja schon fast drei Wochen her!
In der Betreffzeile standen nur zwei Worte: Nicole's Song!
Sie öffnete die Mail und las:
Ich habe einen Song für dich geschrieben!
Als Anhang war eine FLAC-Audiodatei angehängt. Nicole's Herz begann zu klopfen.
Danny hat mich nicht vergessen! Wann hatte er die Mail geschrieben? Ein paar Wochen, nachdem ich ihm diese Abfuhr erteilt habe! Und er hat
offenbar trotz allem weiterhin an mich gedacht und mir sogar einen Song geschrieben!
Sie freute sich wahnsinnig darüber. Obwohl sie überhaupt keine Ahnung hatte, was sie jetzt erwartete, kramte sie ihre Kopfhörer hervor, schloss sie an ihr Handy an, setzte sie sich auf und startete die Wiedergabe...
Was sie jetzt fühlte, konnte man nicht mit Worten beschreiben! Danny's Song ging ihr wahnsinnig nah, ihr standen schon wieder die Tränen in den Augen, sie fand ihn einfach wunderschön! Bis jetzt hatte sie sich noch nie für diese Art von Musik interessiert.
Was ist das überhaupt?
Klar, sie kannte ein paar Rock- und auch einige Metalbands, aber so etwas hatte sie noch nie gehört! Irgendwie klang es nach PINK FLOYD, die kannte sie, aber es war irgendwie viel härter und viel verrückter, aber auch total atmosphärisch und einfach nur...wunderschön! Ein anderes Wort dafür fiel ihr im Moment nicht ein. Im dem Song gab es keinen Gesang, aber das machte überhaupt nichts, denn er berührte sie auch so im tiefsten Herzen. Als er zu Ende war, startete sie ihn gleich noch einmal und dann noch einmal! Nein, das war etwas ganz Besonderes! So etwas Schönes hatte noch nie jemand für sie gemacht!
Jetzt tat es ihr noch mehr leid, dass sie Danny damals so abserviert und sich aus seinem Leben verabschiedet hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie überhaupt nichts über ihn wusste. Anscheinend war er nicht nur Biathlon-Fan, sondern auch ein begnadeter Musiker und Komponist! Sie hatte großen Respekt vor ihm. Auch wenn sie nicht wusste, wie aufwändig es ist, einen Song zu schreiben, aufzunehmen und ihn abzumischen, konnte sie sich gut vorstellen, dass eine Menge Arbeit war. Es tat ihr unendlich leid, dass sie im letzten dreiviertel Jahr, als sie regelmäßig miteinander telefoniert und geschrieben hatten, so gar nichts über Danny erfahren hatte. Es war immer nur um ihren Sport und belanglose Sachen gegangen. Sie wusste nicht einmal genau, wie alt er war!
Und jetzt hatte er ihr so etwas Schönes gemacht und geschickt! Er war so ein lieber Kerl, das hatte sie schon damals in Oslo bemerkt, als sie von Rocco bedrängt wurde und er dazwischen gegangen war. Damals hatte er sogar ein blaues Auge und eine Platzwunde am Hinterkopf davongetragen. Trotzdem hatte sie sich auch danach nicht wirklich für ihn interessiert, zumindest nicht für seine Hobbys und Leidenschaften.
Was ist er überhaupt von Beruf? Musiker? Oder hat er noch etwas anderes gelernt?
Sie seufzte. Ihr war bewusst geworden, dass sie wegen ihres Fokus auf den Sport völlig vergessen hatte, dass es auch noch andere Menschen mit anderen Interessen um sie herum gab. Sie fühlte sich schlecht.
Und da war noch etwas! Tief im Innersten ihres Herzens und ihres Bauches fühlte sie etwas, was sie schon sehr lange nicht mehr gefühlt hatte. Sie konnte es nur noch nicht richtig zuordnen...
Nicole konnte nicht mehr anders, sie nahm wieder ihr Handy in die Hand und wählte Danny's Nummer…
"Äh..., Hallo Danny!", meldete sie sich, als er ran ging. "Hier ist Nicole!"
"Nicole! Das ist aber eine Überraschung! Wie geht es dir denn?"
"Naja, es wird langsam. Ich wollte mich einfach mal wieder melden und dir Alles Gute im neuen Jahr wünschen!"
"Oh ja, das wünsche ich dir auch! Und vor allem viel Gesundheit, weiterhin gute Besserung, und ganz viel Kraft auf deinem Weg!"
"Danke, das ist so lieb von dir..."
Eine kurze Pause entstand.
Dann fragte Danny: "Ist das der einzige Grund, warum du mich anrufst?"
"Nein, ehrlich gesagt nicht.", erwiderte Nicole. "Ich... ich habe deinen Song erhalten!"
"Und?"
"Es tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Und dass ich ihn mir nicht eher angehört habe. Aber ich hatte seit Wochen nicht mehr nach meinen E-Mails geschaut, es ist mir erst vorhin aufgefallen...aber ich habe ihn mir sofort angehört..., und ich bin..., ich bin total... "
"Ist schon gut Nicole! Ich kann dich gut verstehen, du hattest in letzter Zeit bestimmt andere Sachen im Kopf, als nach deinen E-Mails zu schauen. Aber ich freue mich, dass du ihn dir jetzt angehört hast! Gefällt er dir?"
"Gefallen? Gefallen ist total untertrieben! Ich bin hin und weg! Auch wenn ich eigentlich überhaupt nicht weiß, was das überhaupt für eine Musik sein soll!"
"Falls es dich interessiert, es soll eine Mischung Death Metal, Progressive Rock und Ambient sein. Falls dir das irgendwas sagt."
"Nicht wirklich, aber ist doch auch egal! Er hat mich berührt! Ich finde ihn einfach nur schön! So etwas Schönes hat wirklich noch nie jemand für mich gemacht!!!"
"Das freut mich, dass du das so siehst. Da habe ich ja alles richtig gemacht!"
Danny musste grinsen.
"Ja, sieht so aus!", sagte Nicole nachdenklich. "Ich muss mich bei dir entschuldigen Danny! Ich habe damals, vor ein paar Wochen, ein paar Sachen gesagt, die ich jetzt im Nachhinein sehr bereue."
"Du musst dich nicht entschuldigen Nicole, ich kann dich gut verstehen! Du warst in einer absoluten emotionalen Ausnahmesituation. Alles, wofür du vorher gearbeitet und gekämpft hattest, war plötzlich nichts mehr wert. Du musst jetzt um völlig andere Sachen kämpfen als vorher! Sachen, die vorher selbstverständlich waren, wie auf die Toilette gehen oder sich selbst anzuziehen, sind im Moment nicht mehr möglich. Wenn einem das bewusst wird, können einem schon was Sachen rausrutschen, die man nicht so meint!"
"Du bist mir also nicht böse?"
"Nein, überhaupt nicht!"
"Da bin ich aber erleichtert! Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum ich anrufe."
"So? Was denn für einen?"
"Und zwar brauche ich einfach mal jemanden zum Reden, ich fühle mich nämlich wahnsinnig einsam! Versteh mich nicht falsch, die Ärzte, die Therapeuten, die Pflegekräfte und das Reinigungspersonal, alle, die hier arbeiten, sind alle wahnsinnig nett und kümmern sich gut um mich.
Und ich habe meine Mutter, sie ist fast jeden Tag da, sie besorgt mir alles, was ich möchte, und kümmert sich immer um mich. Trotzdem fühle ich mich allein, weil ich das Gefühl habe, dass ich überhaupt keine Freunde mehr habe! In den letzten Jahren hat sich mein ganzes Leben nur innerhalb der Biathlon-Blase abgespielt. Ich habe alle Kontakte außerhalb abgebrochen! Erst vorhin habe ich eine Abfuhr von meiner damals besten Freundin bekommen, weil ich mich schon einige Jahre nicht mehr bei mir gemeldet hatte. Und das Schlimmste ist, sie hat ja recht! Das ist meine eigene Schuld. Deswegen habe ich dich angerufen, ich brauchte einfach mal jemanden, mit dem ich reden kann und der mir zuhört! Und als ich vorhin deinen Song gehört habe, dachte ich..., also dass du....Ich konnte einfach nicht anders, verstehst du?"
"Ja, ja, ich verstehe. Mir kannst du alles erzählen!"
Danny ließ sie einfach reden. Er wollte keine Wertung und keine Meinung abgeben. Er ließ sie einfach sprechen. Nur ab und zu stellte er mal eine Zwischenfrage:
"Und was ist mit deiner Familie? Hast du sonst noch irgendwelche Verwandten?"
"Viele nicht, natürlich meine Großeltern, aber die wohnen in Wien und ich sehe sie nicht so oft. Dann habe ich noch eine Tante und drei Cousinen, die wohnen aber auch nicht gerade in der Nähe. Zu ihnen habe ich, neben meiner Mutter, noch den meisten Kontakt."
"Und was ist mit deinem Vater?"
"Der hat uns schon verlassen, als ich noch ganz klein war! Meine Mutter hat mich alleine großgezogen. Er ist irgendwann nach Italien ausgewandert und wir haben nur sehr wenig miteinander zu tun. Nach meinem Unfall hat er mich nur einmal kurz angerufen, das war's dann... "
"Das ist ja nicht so schön! Was ist mit deinen Teamkameraden, deinen Trainern und so?"
"Am Anfang haben sie sich noch regelmäßig bei mir gemeldet, aber jetzt so gut wie gar nicht mehr. Aber ist ja auch verständlich, die neue Saison hat angefangen und sie haben andere Sachen zu tun! Sie sind doch nur unterwegs!"
"Trotzdem könnte man doch am Abend mal kurz anrufen oder ab und zu mal eine Nachricht schicken!"
"Na klar könnte man das. Aber ich war doch selber nicht anders! Wenn ich mit meinem Sport unterwegs war, habe ich an fast nichts Anderes gedacht, gleich gar nicht an irgendwelche Leute, die krank zu Hause sitzen!"
"Okay... ! Magst du mir noch irgendwas erzählen? Wie bist du denn überhaupt zum Biathlon gekommen?"
"Also, ich war ja damals als Kind immer schon recht sportlich. Ich habe geturnt und bin Ski gefahren. Ist ja logisch, wenn man in den Alpen aufwächst, da fährt fast jeder Ski. Natürlich bin ich auch viel Ski Alpin gefahren, habe mich aber auch schon relativ früh für den Langlaufsport interessiert. Als ich zwölf war, habe ich mal an einem Biathlon-Probetraining teilgenommen und da haben die Trainer ein gewisses Talent in mir gesehen. Von da an bin ich dann auf die Sportschule nach Salzburg gewechselt, das war dann der Beginn meiner Biathlon-Karriere. Mit 18 bin ich dann in das Sportförderprogramm des Bundesheeres gekommen, dort habe ich meine Grundausbildung zur Sportsoldatin gemacht, und wurde seitdem von ihnen unterstützt. So konnte ich in Ruhe meinen Sport ausüben. Das Einzige, was ich machen musste, war ab und zu mal an einem Lehrgang und an den internen Meisterschaften teilnehmen! Ich habe nichts gelernt außer dem Sport. Ich kann nichts anderes außer Biathlon!"
"Das glaube ich nicht! Jeder kann noch irgendwas anderes!"
"Nein, ich habe mich die letzten Jahre wirklich mit nichts Anderem beschäftigt. Und jetzt fliege ich aus dem Sportförderprogramm! Was wollen die denn beim Bundesheer mit einer Sportlerin, die Keine mehr ist? Eine, die nicht mal mehr laufen kann?"
Wieder begann sie zu schluchzen.
Danny hörte einfach nur zu. Dann fragte er:
"Hast du auch einen anderen Beruf gelernt?"
"Nein, noch nicht! Ich sag ja, ich kann nichts Anderes! Ich hatte mich die letzten Jahre nur auf den Sport konzentriert. Für mich gab's nichts Anderes als Biathlon"
"Was hast du denn ursprünglich nach deiner aktiven Karriere vorgehabt?"
"Keine Ahnung, wahrscheinlich eine Ausbildung zur Bürokauffrau oder so was! Vielleicht hole ich auch das Abitur nach und studiere irgendwas! Das hatte ich vor, aber jetzt ist ja alles anders! Jetzt...jetzt muss ich erstmal gesund werden,"
"Ja, das stimmt, das ist das Wichtigste! Aber das Andere sind doch auch schöne Ziele! Das kannst du doch machen, bloß halt jetzt ein paar Jahre eher. Du bist doch nicht dumm! Im Gegenteil, ich halte dich sogar für sehr intelligent!"
"Danke!"
"Hast du noch irgendwelche anderen Interessen? Was hast du denn früher gerne gemacht? Außer Sport?"
"Als Kind habe ich immer gerne gemalt! Und Musik gehört!"
"Na siehst du, das ist doch was! Wenn dein Arm wieder richtig gesund ist, kannst du doch mal wieder etwas malen! Dazu brauchst du deine Beine nicht unbedingt!"
"Vielleicht..., mal sehen, vielleicht mach ich das ja sogar."
"Klar, mach das! Und über Musik können wir uns gerne andermal auch ausführlich unterhalten, das ist nämlich meine große Leidenschaft!"
Jetzt herrschte eine Weile Stille, dann sagte Nicole leise:
"Ach Danny, es tut mir so gut mit dir zu reden. Es geht mir schon viel besser als vorhin! Du weißt genau, wie du mich aufmuntern kannst, auch wenn du gar nicht viel sagst! Ich danke dir..."
"Ist schon gut! Das macht man doch so unter Freunden, oder?"
"Heißt das, du siehst mich als... Freundin?"
"Na klar! Ich mag dich, Nicole! Ich bin Fan von dir, auch ohne den Sport, ohne Biathlon!"
Wieder war sie in Tränen ausgebrochen.
"Und ich dachte immer, dass du dich nur für mich nur als Biathletin interessiert hättest! Bis ich heute deinen Song gehört habe..."
Wieder Schweigen. Dann fragte Danny:
"Und was machen wir jetzt? Möchtest du mir noch was erzählen?"
"Äh..., ja..., nein..., ich weiß nicht! Eigentlich nicht! Ich weiß nur, dass ich wieder wahnsinnig traurig sein werde, wenn wir aufgelegt haben. Zum Glück habe ich ja deinen Song!"
Plötzlich hatte Danny eine spontane Idee:
"Weißt du was? Ich komme zu dir!"
"Wie jetzt? Zu mir? Wie meinst du das?"
"Na so, wie ich es sage! Ich steige in mein Auto und komme zu dir gefahren. Gleich morgen früh!"
"Warum?"
"Weil ich das Gefühl habe, dass du einen Freund brauchst, der sich ein bisschen um dich kümmert und aufmuntert!"
"Das würdest du für mich tun?", fragte Nicole ungläubig.
"Na klar! Ist mir gerade spontan eingefallen. Und da ich nichts weiter vorhabe..."
"Du hast nichts weiter vor? Ist nicht am Wochenende der Weltcup in Oberhof? Da wollt ihr doch bestimmt wieder hin!?"
"Ja, das hatte ich eigentlich vor. Aber das ist jetzt überhaupt nicht wichtig! Du bist im Moment wichtiger! Die Anderen müssen dieses Jahr mal ohne mich klar kommen!"
"Aber wie kriegst du das denn hin?"
"Das ist überhaupt kein Problem. Ich wäre ja wie gesagt dieses Wochenende eh in Oberhof gewesen, da habe ich sowieso nichts Anderes vor. Nächste Woche habe ich noch Urlaub und alle anderen Sachen die noch anliegen, darum kann sich auch Ralf alleine kümmern. Das ist mein Großcousin, wir haben zusammen eine Firma. Es gibt nicht viele Aufträge im Moment, es ist ja Winter! Ich werde ihn dann gleich mal anrufen, aber ich denke, das müsste alles so gehen."
"Und was sagen deine Freunde und deine Eltern dazu?"
"Was sollen sie denn schon sagen? Es ist doch meine Sache! Ich werde auf jeden Fall mit Martin und den Eltern dann nochmal reden, aber ich denke nicht, dass es da irgendwelche Probleme geben wird."
"Also..., du würdest das wirklich für mich tun?", fragte Nicole noch einmal. "Wir kennen uns doch kaum!"
"Na, dann lernen wir uns eben besser kennen! Und wenn es nicht passt, kann ich doch auch jederzeit wieder nach Hause fahren, oder?"
"Ja, da hast du Recht. Aber aber ich kann es einfach nicht glauben, dass du das für mich tust! Nachdem ich dir so eine Abfuhr erteilt habe und den Kontakt zu dir abgebrochen hatte! Und was machst du? Du schreibst mir einen Song, schickst ihn mir und jetzt willst du mich auch noch besuchen kommen?"
"Ja, so bin ich..."
"Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll!"
"Mach dir darüber mal keine Gedanken! Hier, ich muss jetzt erstmal noch paar Sachen organisieren und mit meinen Leuten reden! Wir sehen wir uns dann morgen, okay? Schick mir mal bitte noch die Adresse von deiner Klinik und dann mache ich mich gleich morgen früh auf den Weg. Gute Nacht Nicole!"
"Gute Nacht Danny! Und danke für alles..."
Nach dem Gespräch mit Nicole dachte Danny kurz nach. Es war wirklich eine verrückte Idee, so spontan nach Salzburg zu fahren, ohne genau zu wissen, was ihn überhaupt erwartete. Aber es fühlte sich wie das einzige Richtige an, was er jetzt tun konnte.
Ich muss es einfach tun!
Dann fiel ihm ein, dass er überhaupt nicht wusste, wo er dort übernachten sollte! Schnell suchte er sich im Internet noch eine Liste mit Pensionen in der Nähe von Salzburg heraus und rief dort an. Tatsächlich hatte er Glück und fand ganz in der Nähe der Rehaklinik, dessen Adresse ihm Nicole in der Zwischenzeit geschickt hatte, eine günstige Unterkunft, wo er mindestens zehn Tage, vielleicht sogar noch länger, übernachten konnte.
Dann rief er seinen Großcousin Ralf an und ging mit ihnen die Aufträge für die nächsten zwei Wochen durch. Viel war wirklich nicht los, Ralf versicherte ihm, dass er auch alleine zurecht kommen würde und dass Danny ruhig weg fahren könnte. Auf die Frage, was er denn vorhatte, antwortete Danny nur, er müsse einer guten Freundin beistehen. Dass es sich dabei um Nicole handelte, sagte er nicht.
Als nächstes war sein Kumpel Martin an der Reihe. Der war zwar etwas traurig, dass Danny nicht mit nach Oberhof kam, aber er hatte vollstes Verständnis dafür. Er hatte ja von Anfang an gehofft, dass zwischen den Beiden etwas mehr entstehen könnte, als nur so eine Fan-Sportler-Beziehung. Vielleicht war das jetzt die Möglichkeit! Aber solche Gedanken machte Danny sich nicht (noch) nicht. Er wollte Nicole einfach nur beistehen.
Dann ging er zu seinen Eltern und erklärte ihnen, was er vorhatte. Die waren erst nicht so begeistert, als er erzählte, dass er bereits am nächsten Morgen nach Salzburg zu Nicole fahren wollte.
"Was hast du dir denn da in den Kopf gesetzt?", fragte seine Mutter Bärbel. "Hattest du mit der kleinen Österreicherin nicht schon abgeschlossen?"
"Nein, ich hatte nie mit ihr abgeschlossen, ich hatte ihr nur etwas Zeit gegeben! Und jetzt fühle ich, dass es das einzig Richtige ist, dass ich zu ihr hin fahre! Ihr braucht auch gar nicht erst versuchen, mich davon abzubringen! Ich habe mich entschieden, und ich werde morgen fahren!"
"Das finde ich gut mein Sohn!", sagte jetzt Vater Dietmar und klopfte Danny auf die Schulter. "Man muss seinen Standpunkt vertreten! Ich hoffe nur, dass du dich da nicht in irgendetwas hinein steigerst!"
"Wie meinst du das?"
"Naja, offensichtlich willst du ja etwas von ihr und ich möchte einfach nicht, dass du enttäuscht wirst, wenn sie deine Gefühle nicht erwidert!"
"Ich habe keine Gefühle für sie! Jedenfalls nicht solche, wie du denkst!", sagte Danny. "Ich möchte ihr einfach nur beistehen! Ich möchte ihr helfen, damit es ihr etwas besser geht! Warum versteht das hier keiner? Und außerdem, vielleicht können meine Fähigkeiten als Physiotherapeut ihr auch etwas helfen!"
"Ist schon gut mein Junge! Mach das einfach, ich kann dich ja eh nicht davon abhalten!"
"Genauso ist es! Nur eine Bitte hätte ich noch: Könntet ihr irgendwie versuchen, meine Karten für Oberhof noch loszuwerden? Das schaffe ich heute nicht mehr!"
"Das ist kein Problem!", meinte Dietmar. "Entweder, ich finde noch jemanden, der spontan mitkommt oder wir verkaufen sie da dort vor Ort. Das dürfte kein Problem sein!"
"Alles Gute mein Junge!", sagte nun seine Mutter. "Und sag einen schönen Gruß von uns!"
"Danke Mama, danke Papa. Ihr seid die Besten!"