Ich kann mich beim besten Willen heute nicht mehr an alles erinnern, was in den endlos scheinenden Minuten auf der Bühne geschah. Das meiste davon rauschte an mir vorbei, als befände ich mich in einem fahrenden Zug.
Im gleißenden Licht der Scheinwerfer standen wir in einer Reihe, vor uns der riesige Saal, voll mit Tischen, an denen unzählige Menschen saßen, Freunde, Bekannte, Familienangehörige, Neugierige.
Vorn, wie in einem Präsidium, thronte die Jury, bestehend aus eben diesen Ehrengästen, von denen uns Rico vorab hinter der Bühne berichtet hatte.
Ab und zu hüpfte ein hochmotivierter Pressefotograf geschäftig vor, zwischen und neben uns auf der Bühne umher, um uns von allen Seiten und aus jeder nur möglichen Perspektive abzulichten.
Der Vorsitzende jenes Fördervereins, der das bevorstehende Fest der Lichter und damit auch diese Aktion ins Leben gerufen hatte, wurde auf die Bühne gebeten und für das Engagement seines Vereins gewürdigt.
Der schlanke, graumelierte Herr hatte schätzungsweise das erste halbe Jahrhundert seines Lebens bereits weit hinter sich gelassen, wirkte jedoch sehr sympathisch und kompetent. Er übernahm das Mikrofon und erklärte dem gespannt lauschenden Publikum die Hintergründe des bevorstehenden Festes und das Anliegen der Stadt, dieses Event nach schwedischem Vorbild in unserer Region übernehmen zu wollen. Er wünschte uns allen viel Glück für die Wahl und nahm, begleitet von wohlwollendem Beifall, wieder unten im Präsidium Platz.
Mechanisch folgte ich ihm mit meinem Blick und ertappte mich bei dem absonderlichen Gedanken, dass ich jetzt zu gern an seiner Stelle gewesen wäre, nur um so schnell wie möglich die peinliche Bühne verlassen zu können.
In diesem Augenblick sah ich ihn zum ersten Mal.
Er lehnte lässig an der Wand, unweit des Präsidiums und beobachtete scheinbar gleichgültig das Geschehen auf der Bühne.
Nein, nicht das Geschehen, er beobachtete – mich!
Die Erkenntnis traf mich wie ein Stromschlag. Ich konnte seinen Blick förmlich spüren, er ging mir durch und durch. Ich war ohnehin schon nervös, seitdem ich hier im Rampenlicht stand, aber nun dröhnten die Schläge meines armen Herzens plötzlich wie ein Vorschlaghammer bis hinauf in meine Ohren.
Vorsichtig wagte ich einen zweiten Blick.
Er war ein absoluter Hingucker - durchschnittlich groß, schlank, dunkles Haar, Lederjacke, Jeans, ausgesprochen attraktiv… Das alles registrierte mein Gehirn in Bruchteilen von Sekunden.
Wer war er?
Der Freund einer Bewerberin? – Neid!!!
So wie der aussah, war er mit Sicherheit wegen einem der Mädels hier.
Auf jeden Fall nicht wegen mir!
Aber warum zum Teufel sah er mich dann die ganze Zeit so an?
Oder hatte mir meine übersteigerte Nervosität nur einen Streich gespielt? Schließlich hatte man hier oben nicht ohne Grund das sichere Gefühl, von jedem Einzelnen angestarrt zu werden.
Irritiert schaute ich weg.
Der Pressefotograf versperrte mir Sekunden später die Sicht. Danach vermied ich erst einmal strikt den Blick in Richtung des Präsidiums.
„Nun wollen wir Sie, liebe Zuschauer, nicht unnötig lange auf die Folter spannen!“, rief Rico übertrieben euphorisch und wies mit theatralischer Geste auf uns: „Hier sind sie, unsere Bewerberinnen für das wunderschöne Amt der Lichterprinzessin unserer Stadt!“
Erneut erklang Beifall.
Dann wurden wir dem Publikum namentlich vorgestellt und mussten, jede einzeln, vortreten und in einem kurzen Interview mit Rico Rede und Antwort stehen.
Die Bewerberin mit der Nummer 1 hatte es am schwersten und das merkte man auch.
Sie war süße sechzehn, stammelte etwas von „B-bin noch Schülerin auf dem G-Gymmi u-und will unbedingt mal M-Model werden.“
Auf die Frage des Moderators, warum sie denn heute hier sei, erklärte sie dann plötzlich betont selbstbewusst: „Weil ich schon immer mal als Prinzessin in einer Kutsche fahren wollte!“
Im Saal ertönte ein verhaltenes Lachen, während Rico versuchte, seine Gesichtszüge und die Situation wieder unter Kontrolle zu kriegen. Das arme Mädchen! Sie musste wohl vorhin hinter der Bühne etwas falsch verstanden haben.
Jede Bewerberin wurde für ihre Worte mit Beifall belohnt, der gekrönt von den begeisterten Zurufen ihrer jeweiligen Anhängerschaft, mal stärker und mal schwächer ausfiel.
Dann war ich an der Reihe.
„Mein Name ist Caitlin Jennings, ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und absolviere zurzeit eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten.“
„Mit zweiundzwanzig noch in der Ausbildung? Hast du Abitur gemacht?“, unterbrach mich Rico „Wichtigtuer“.
„Ja, habe ich.“
„Und da möchtest du doch bestimmt später studieren?“
Was wird das denn? Ein Quiz?
„Mal sehen, vielleicht.“
„Medizin?“
Geht’s noch? Das werde ich dir bestimmt nicht auf die Nase binden…
„Ich habe mich noch nicht entschieden.“
„Jennings – Das ist ein englischer Name. Hast du Verwandte in England oder den USA?“
Na klar doch, werte Gemeinde! Mein deutscher Dad hat meine amerikanische Mom auf seiner ersten USA-Rundreise kennengelernt, auf der sie die Reiseleiterin war. Er hat sich sofort unsterblich in sie verliebt und sie vom Fleck weg geheiratet! Genau genommen bin ich sogar Amerikanerin, denn ich wurde in den USA gezeugt!
So oder ähnlich hätte er sich die Antwort auf seine Frage wohl gewünscht, aber da konnte er lange warten.
„Rico... Du hast doch auch einen spanisch klingenden Namen. Macht dich das automatisch zum Spanier?“
Ich hatte die Lacher auf meiner Seite.
Rico räusperte sich, diesmal etwas diskreter als vorhin hinter der Bühne und setzte sein einstudiertes Bühnenlächeln auf. Ich bin sicher, er hasst Gesprächspartner wie mich. Selber schuld.
Plötzlich grinste er hinterhältig wie eine Schlange.
„Darf man fragen, ob ein hübsches Mädchen wie du bereits einen Freund hat?“
Hat der sie noch alle?
Ich lächelte zuckersüß und wies in Richtung des Saals.
„Nicht nur einen. Meine Freunde sind allesamt hier!“
Glücklicherweise ließen meine Leute mich nicht im Stich. Sie sprangen auf, jubelten, grölten, pfiffen und klatschten in einer Lautstärke los, als hinge ihr Leben davon ab. Ich war stolz auf sie!
Rico bemühte sich weiterhin tapfer um ein einigermaßen glaubwürdiges Lächeln.
„Alle Achtung, da hat aber jemand einen gewaltigen Fanclub hinter sich!“
Ja klar, was hast du denn gedacht! Und nun hör endlich auf mich auszuquetschen!
„Na dann, Caitlin...“, säuselte er und unterließ endlich seine peinlichen Zwischenfragen. „Erzähl uns doch mal, weshalb du dich um das Amt der Lichterprinzessin beworben hast!“
„Ich bin hier geboren und liebe diese Stadt.“ Ich holte tief Luft und spürte die knisternde Spannung um mich herum. „Wir haben viele schöne und einmalige historische Sehenswürdigkeiten. Als Lichterprinzessin hoffe ich die Gelegenheit zu haben, meine Heimatstadt auf sehr vielfältige Art präsentieren zu können, und durch das "Fest der tausend Lichter" bekannt zu machen.“
Reden konnte ich schon immer ganz gut, sagt zumindest meine Mom, und der Beifall, der auf meine Worte folgte, schien das zu bestätigen. Auch Rico gab sich mit meiner Aussage zufrieden und ließ mich endlich in Ruhe.
Zurück in der Reihe schielte ich vorsichtig in Richtung Präsidium.
Der geheimnisvolle Typ war verschwunden.