Eine Woche später erhielt ich einen Anruf von Herrn Schmidt. Mein Prinzessinnenkleid sei fertig, und ich möge bitte so bald wie möglich vorbeikommen, um das gute Stück abzuholen. Wir vereinbarten am folgenden Tag einen Termin.
Als ich - dieses Mal pünktlich - zur Abholung meines Kleides erschien, hoffte ich insgeheim, David dort wieder zu treffen, aber ich wurde enttäuscht. Er war nicht da, und ich sah mich in meiner Vermutung bestätigt, dass er bei der vorangegangenen Anprobe gar nicht wirklich im Dienst gewesen war. Wieso auch? Schließlich war er nur während meiner offiziellen Auftritte für meine Sicherheit verantwortlich.
Also war er wegen mir hier gewesen!
Diese Erkenntnis allein reichte aus, damit das Glücksgefühl in meinem Inneren augenblicklich über die Enttäuschung siegte, die seine Abwesenheit mir bereitet hatte.
Das Kleid saß perfekt, vor allem um die Taille herum lag es an wie eine zweite Haut. Somit war ich nun dazu verdonnert, ein Jahr lang genau meine Figur zu halten, ansonsten würde es in den kostbaren Nähten mächtig zu krachen beginnen.
Ich brachte das gut verpackte, maßgeschneiderte Stück nach Hause und hing es vorsorglich in den Kleiderschrank.
Anschließend traf ich mich mit meiner Schirmherrin vom Förderverein in der Rathauskantine. Simone Richter wirkte auf den ersten Blick eher unscheinbar. Sie war relativ klein, ziemlich moppelig und schätzungsweise mindestens doppelt so alt wie ich. Aber sie hatte sich trotz des vielen Stresses, den die Arbeit im Förderverein zwangsläufig mit sich brachte, eine erfrischende Jugendlichkeit bewahrt und entpuppte sich als wahres Energiebündel. Ihre offene und mitunter sehr direkte Art, auf ihre Mitmenschen zuzugehen, brachte ihr mit Sicherheit nicht nur Freunde ein.
Ich hatte sie bereits kurz nach der Wahl kennengelernt und mochte sie auf Anhieb.
Bei einer Tasse Cappuccino besprachen wir die Einzelheiten rund um das „Fest der Tausend Lichter“.
Simone gab mir einen Zettel, auf dem mein Begrüßungstext stand. Wenige Zeilen, die ich eigentlich mühelos hinbekommen sollte, ließ man die Aufregung außer Acht, die mich höchstwahrscheinlich auf der Bühne beim Anblick der vielen Zuschauer packen würde.
Dann reichte sie mir noch eine pinkfarbene Schärpe mit der Aufschrift meines Titels und meines Regierungsjahres. Nicht ohne Stolz betrachtete ich die aufgedruckten Buchstaben.
„Super. Dann weiß wenigstens jeder, der mich sieht, dass ich in meinem weißen Hochzeitskleid keine sitzengelassene Braut bin.“
Simone lachte.
„Hat der Schmidt dir bei der Wahl des Kleides freie Hand gelassen?“
Ich nickte eifrig.
„Er war wirklich sehr nett. Ich musste nur ein wenig mit ihm feilschen, damit er mich bei der Änderung nicht drin einschweißt.“
„Ist es das Kleid, in dem du in der Zeitung abgebildet warst?“
„Ja genau, das ist es.“
Sie nickte zufrieden.
„Sieht echt gut aus.“
Während sie damit begann, hektisch nach irgendetwas in ihrer überdimensionalen Tasche herumzuwühlen, fragte sie mich beiläufig, wie mir denn mein Personenschutz gefallen würde, den sie für mich ausgesucht hätte.
„Sieht echt gut aus“, wiederholte ich spontan ihre Worte.
Sie hielt mit ihrer Suche inne und sah mich perplex an, worauf wir beide in bestem Einvernehmen schallend lachen.
„Na prima“, meinte sie und fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes, dunkles Haar. „Sag das bitte bei Gelegenheit meinem Chef, damit er sieht, dass ich einmal etwas richtig gemacht habe!“
Endlich war ihre Suche erfolgreich. Notizblock und Stift kamen zum Vorschein.
„Du wirst vor deiner Haustür von der Pferdekutsche abgeholt“, erklärte sie mir. „Ich brauche deine genaue Adresse.“
Ich gab sie ihr.
„Hast du eine eigene Wohnung?“, fragte sie, während sie sich Straße und Hausnummer notierte.
„Ja, ich bin zwar momentan wieder solo, aber glücklich in meinen eigenen vier Wänden“, erklärte ich nicht ohne Stolz.
Nach der wenig erfreulichen Trennung von meinem Ex-Freund vor einem halben Jahr hätte ich zwar sofort wieder bei meinen Eltern einziehen können, doch das wollte ich nicht. Ich fand, dass ich in einem Alter war, in dem man beginnen sollte, selbst für sich zu sorgen, ganz egal ob mit oder ohne Partner. Gegen eine gelegentliche, liebevoll - elterliche Unterstützung, welcher Art auch immer, war natürlich nichts einzuwenden, aber mit meiner eigenen Wohnung ich hatte die Rückzugsmöglichkeit, die ich brauchte, um mich erwachsen zu fühlen.
„Und was sagen deine Eltern zu deinem Wahlsieg?“
„Mein Dad ist stolz wie Oskar, und Mom ist total aus dem Häuschen. Am liebsten hätte sie zum Fest die Verwandtschaft aus den USA einfliegen lassen. Sie unterstützen mich beide, wo immer sie können.“
Simone lächelte gerührt.
„Es ist toll, wenn die Familie hinter einem steht.“
Als nächstes erhielt ich ein Bestell-Kärtchen von einem unserer offiziellen Sponsoren, dem größten und dementsprechend auch teuersten Friseur- und Kosmetiksalon der Stadt.
„Du wirst kurz vor dem Fest frisiert und bekommst ein professionelles Makeup. Natürlich kostenlos“, erklärte Simone und zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Nimm, was du kriegen kannst, aber lass dir nichts aufschwatzen. Du bestimmst, was sie mit dir machen!“
Ich überlegte einen Augenblick lang, ob ich Simone vielleicht sagen sollte, dass ich eine eigene, überaus talentierte Stylistin in der Familie hatte, aber dann entschied ich mich dagegen. Jeder sollte seine kleinen Geheimnisse wahren. Außerdem war ich sicher, dass es für meine Mom während meiner Amtszeit noch gute Gelegenheiten geben würde, mir in Bezug auf mein Styling zur Seite zu stehen.
„Klingt gut“, sagte ich daher nur und lies die Karte ohne weiteren Kommentar in meiner Jackentasche verschwinden.
„Nach dem Fest fährt dich dann jemand vom Verein nach Hause.“
„Klingt noch besser.“
Simone lehnte sich entspannt zurück.
„Ich freue mich auf das Fest“, verriet sie mir voller Begeisterung. „Überall im Park werden Kerzen leuchten, ein richtiges Lichtermeer. Wir schmücken die Bäume und Sträucher mit Laternen. Du eröffnest das Fest und wir machen einen Umzug durch den Park, den du gemeinsam mit dem Bürgermeister anführen wirst. Anschließend läuft auf der Bühne ein buntes Showprogramm bis in die Nacht hinein. Wir haben sehr prominente Gäste dabei.“
„Ja, ich habe die Werbeplakate gelesen. Twenty One Century sind eine tolle Band!“
Simone nickte.
„Hat uns einiges gekostet, die zu verpflichten.”
Ich nippte nachdenklich an meinem Cappuccino. Die Gelegenheit schien günstig, also…
„Simone, darf ich dich etwas fragen?“
„Na klar.“
„Was genau hat es mit diesen Drohungen auf sich? Weshalb der Personenschutz? Muss ich mir Sorgen machen?“
Ihr Lächeln verkrampfte sich geringfügig.
„Nein, musst du nicht. Wir haben hier alles unter Kontrolle. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme auf… gewisse Vorkommnisse.“
„Könntest du gewisse Vorkommnisse bitte etwas genauer definieren?“, hakte ich nach.
Sie überlegte kurz, als müsse sie die folgenden Worte sorgsam abwägen. Dann beugte sie sich etwas vor, um unerwünschte Zuhörer auszuschließen.
„Hör zu, Caitlin, was ich dir jetzt sage, ist streng vertraulich. Du solltest es unbedingt für dich behalten.“
„Ja, klar. Kannst dich auf mich verlassen.“
„Es hat einige anonyme Drohungen gegeben. Gegen den Bürgermeister, gegen Abgeordnete des Stadtrates, auch gegen Leute, die einfach nur in öffentliche Ämtern tätig sind. Wir nehmen diese Drohungen sehr ernst, obwohl man inzwischen in unseren Reihen der Meinung ist, dass es sich um irgendeinen psychisch gestörten Spinner handelt, der sich damit nur wichtigmachen will. Die Polizei ermittelt bereits in der Sache.“
„Und welcher Art sind die Drohungen?“
„Anonyme Briefe und Anrufe.“
„Was stellt er für Forderungen?“
„Er wirft uns vor, staatliche Gelder zu verschleudern, Feste und Feiern auf dem Rücken derer auszutragen, die ohnehin bereits finanziell am Ende sind. Außerdem fühlt er sich persönlich von der Stadt betrogen und hat gedroht, er würde ein deutliches Zeichen setzen, wenn sich in unserer Politik nichts ändere.“
„Und seid ihr bereit, etwas zu ändern?“
Simone zog die Stirn in Falten.
„Kannst du ändern, dass sich die Erde um die Sonne dreht?“
Ich lehnte mich zurück und atmete tief durch.
„Ganz schön krass.“
Simone schüttelte beruhigend den Kopf.
„Es hört sich mit Sicherheit schlimmer an als es in Wirklichkeit ist. Wir haben wirklich alle möglichen diskreten Vorsichtsmaßnahmen getroffen.“
„Haben die anderen auch Personenschutz?“
„Jeder, der ein bekanntes Gesicht hat. Wir haben derzeit eine sehr hohe Polizeipräsenz. Sehr tüchtige Leute.“
„Und einer davon ist David Brandt“, stellte ich nüchtern fest.
Über den Rand ihrer Tasse hinweg sah sie mich an und ihre Augen blitzten schelmisch.
„Ein Kerl wie aus dem Bilderbuch, stimmt’s? Ich mag ihn wirklich gern. Er hat zwar eine raue Schale, aber er scheint mir doch sehr verlässlich zu sein. Und man muss ja nicht immer alles glauben, was man hört.“
„Was… hört man denn?“, fragte ich vorsichtig.
Simone grinste schief.
„Vertraulich.“
Ich grinste schief zurück.
„Zu spät, du hast ja bereits angefangen, mir Vertraulichkeiten zu erzählen, also kommt es auf diese hier auch nicht mehr an. Außerdem willst du doch sicher nicht, dass eure neu gewählte Hoheit noch vor der Amtseinführung vor Neugier aus dem Kleid platzt?“
Lachend lehnte sie sich zurück.
„Du hast ein ziemlich loses Mundwerk!“
Ich zog abwartend die Augenbrauen hoch und sie beugte sich wieder vertraulich vor.
„Er ist hierher strafversetzt, gezielt in den Personenschutz, so quasi als Reha-Maßnahme.“
„David? Strafversetzt? Was hat er getan?“
„Das weiß ich nicht.“ Sie belächelte mein fassungsloses Gesicht. „Nun guck nicht so, Caitlin. Was auch immer es ist, so schlimm kann es nicht sein. Es gibt für alles Gründe.“
An diesem Abend lag ich lange wach und dachte über das Gespräch mit Simone nach.
David Brandt, der gutaussehende, lässige Typ mit dem smarten Grübchenlächeln und dem manchmal etwas sarkastischen Humor – strafversetzt?
Was konnte der Anlass dafür gewesen sein?
Ich dachte an den dunklen, unergründlichen Blick aus seinen faszinierenden Augen, sanft und herausfordernd zugleich.
Vielleicht hatte sich Simone ganz einfach verhört, und David war, wie er mir erzählt hatte, auf eigenen Wunsch versetzt worden?
Es wurde so viel getratscht.
Ich hatte noch nie ein Problem darin gesehen, jemanden offen auf etwas anzusprechen, und ich würde bei David bestimmt nicht damit anfangen, mich davor zu drücken.
So beschloss ich, das Gerede zu ignorieren und ihn bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit selbst zu fragen.
In dieser Nacht träumte ich von ihm. Den Traum werde ich hier nicht erzählen, der ist zu privat. Allerdings kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass es darin nicht um Strafversetzungen ging.
Ganz im Gegenteil.