Wir befanden uns mittlerweile über dem Atlantik in Richtung Island.
Der Kinofilm, den ich mir ausgewählt hatte, um mich von meinem Herzschmerz abzulenken, war bereits ungesehen über den Bordbildschirm geflimmert, als ich aus einem unruhigen Schlaf erwachte.
Der Herr neben mir tippte geschäftig auf der Tastatur seines supermodernen Laptops, und der Hippie hing träge im Sitz und war unter seinem Headset eingenickt.
Die Stewardess ging durch die Reihen und bot Drinks und diverse Snacks an, was ich jedoch dankend ablehnte. Ich hatte bereits das Abendessen kurz nach dem Start höflich zurückgewiesen, denn mein Magen verweigerte noch immer jegliche Nahrungsaufnahme.
„Sie sollten unbedingt etwas essen“, ließ sich mein Sitznachbar plötzlich vernehmen, und es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass er mich meinte. „Oder ist Ihnen nicht gut? Sie sehen blass aus!“
„Nein… ich habe nur keinen Appetit.“
„Dagegen sollten Sie unbedingt etwas tun. Moment..." Spontan hob er die Hand und winkte die Stewardess heran. Er orderte etwas, das ich nicht verstand und nickte dankend. Kurz darauf reichte er mir ein Glas mit einer goldfarbenen Flüssigkeit.
„Was ist das?“, fragte ich misstrauisch.
„Cognac“, erwiderte er und nickte mir aufmunternd zu. „Trinken Sie, das wird Sie ein wenig beruhigen.“
„Aber ich mag normalerweise keinen Alkohol“, wandte ich skeptisch ein.
„Sie sehen nicht aus, als wäre das heute ein normaler Tag für Sie“, setzte er prompt dagegen.
Okay… Eins zu null für den Herrn auf dem Mittelsitz!
Ich biss die Zähne zusammen und nickte. Er hatte recht. Warum zum Teufel sollte ich es leugnen? Es ging mir beschissen.
„Sie haben eine gute Beobachtungsgabe.“
Nachdenklich starrte ich auf das Glas in meiner Hand und dachte plötzlich zurück an jenen lustigen Mädelsabend, mit dem eigentlich alles begonnen hatte. „Wissen Sie, als ich das letzte Mal Alkohol getrunken habe, da habe ich etwas ziemlich Dummes getan.“
„Nun, das dürfte dann aber etwas mehr als dieser winzige Schluck gewesen sein“, erwiderte mein Sitznachbar scheinbar unbeeindruckt. „Außerdem tut doch gelegentlich jeder von uns mal etwas Dummes.“
„Auch wieder wahr“, nickte ich ergeben.
Er hob sein Glas, in dem sich Orangensaft befand.
„Auf einen guten Flug!“
„Auf einen schnellen Flug!“
„Also doch Flugangst?“
„Im Gegenteil, ich fliege eigentlich sehr gern. Diesmal sind nur die Umstände etwas anders.“
Ich atmete tief durch und trank. Der ungewohnt starke Alkohol brannte einen Moment lang wie Feuer in meiner Kehle. Dann jedoch spürte ich die wohltuende Wärme, die sich sehr schnell bis hinunter zu meinem leeren Magen ausbreitete. „Vielleicht stürzen wir ja über einer unbekannten Insel ab, so wie in "LOST", und können ein neues Leben beginnen!“
„Das wünschen Sie sich?“
„Nein, nicht wirklich. Obwohl, wenn man auf diese Art alle Probleme vergessen könnte, warum nicht.“
„LOST“, wiederholte er mit einem versonnenen Lächeln, ohne auf meine vorherige Bemerkung näher einzugehen, und sah mich aufmerksam an. „Haben Sie die Serie gesehen?“
„Jede einzelne Folge. Starker Stoff.“
„Und, in wen von beiden würde sich eine hübsche junge Frau wie Sie verlieben, in Sawyer oder Jack?“
„In keinen von den Idioten. Ich habe momentan die Nase voll von den Kerlen.“
„Ah ja, da liegt der Fuchs begraben. Liebeskummer!“
„Nee, eher glatte Verarschung.“
Er lachte und wies auf das noch halbvolle Glas.
„Trinken Sie aus, Miss Jennings, dann geht es Ihnen besser.“
„Caitlin“, forderte ich ihn nach amerikanischer Art auf, mich beim Vornamen zu nennen, und er nickte lächelnd.
„Collin.“
Ich konnte es mir nicht erklären, aber plötzlich tat es richtig gut, so zwanglos mit jemandem zu plaudern. Das lenkte mich zumindest für eine Weile von meinen Problemen ab. Mein Sitznachbar erzählte mir, dass er in Los Angeles wohnte und mit seinem Sohn auf dem Weg dorthin sei.
„Er ist Ihr Sohn?“, fragte ich mit einem eher ungläubigen Blick an ihm vorbei auf Hippie-John, der wieder völlig abgehoben seiner Musik aus den Kopfhörern frönte.
Der Mann nickte lachend.
„Ich weiß, was Sie jetzt denken. Passt nicht in Bild, was?“, schien er meine Gedanken zu lesen.
„Na ja, der erste Eindruck kann bekanntlich täuschen“, gab ich sehr diplomatisch zu und erfuhr, dass „Sohni“ in München Germanistik studiert hatte und nun auf dem Weg zurück zu seinen Wurzeln ins heimatliche Los Angeles sei.
„Seine Mutter freut sich über alle Maßen, ihn endlich wieder in ihrer Nähe zu haben. Sie hofft inständig, ihn nach ihren Vorstellungen etwas resozialisieren zu können. Bin gespannt, ob ihr das gelingt!“
Ich lächelte. Na immerhin, einigermaßen gute Manieren schien der junge Mann jedenfalls zu haben, so wie er mir vorhin mit meinem Gepäck behilflich gewesen war.
„Und was machen Sie beruflich?“, fragte ich, um nicht näher auf das Erwachsenwerden „Sohnis“ eingehen zu müssen.
Collin zögerte einen Augenblick und lächelte dann.
„Ich bin freischaffend und versuche mich gelegentlich ein wenig als Schriftsteller.“
„Sind Sie erfolgreich?“
„Geht so.“
„Und was schreiben Sie?“
„Alles Mögliche, am liebsten aber spannende Lebens- und Liebesgeschichten, bevorzugt mit Happy End.“
„Oh, dann fragen Sie mich bloß nicht nach meiner, die hat nämlich keins.“
„Wieso nicht? Sie scheinen mir nun doch noch ein wenig zu jung, als dass Ihre Lebensgeschichte schon zu Ende wäre!“
„Das nicht, aber ein entscheidender Abschnitt davon.“
War es die Wirkung des für mich ungewohnten Cognacs, war es meine ungeheure innere Anspannung, die nach Erlösung schrie, oder war es einfach nur die nette Art, mit der sich mein Sitznachbar, den ich nach der Landung in LA mit großer Wahrscheinlichkeit nie im Leben wiedersehen würde, mit mir unterhielt - ich vermag bis heute nicht mehr nachzuvollziehen, woran es lag, aber ich begann zu erzählen: von der Bewerbung, meiner überraschenden Wahl zur Lichterprinzessin, von der ersten Begegnung mit David…
Die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus, und es tat mir unsagbar gut, mir alles von der Seele zu reden.
Collin hörte aufmerksam zu und unterbrach mich nicht ein einziges Mal.
Irgendwann war alles gesagt. Ich schwieg und sah ihn fast erschrocken an.
„Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie total zugetextet.“
Er lächelte.
„Und ich danke Ihnen dafür, Caitlin. Für Ihre Story und für Ihre Offenheit. Es gibt keinen Grund sich zu entschuldigen, denn das war eine sehr interessante Geschichte.“ Er nickte mir aufmunternd zu. „Und sie ist bestimmt noch nicht zu Ende.“
„Für mich schon“, widersprach ich entschieden. „Zumindest der romantische Teil.“
Mit diesen Worten lehnte ich mich zurück und starrte erneut apathisch aus meinem Fenster. Müde von der Wirkung des Alkohols und vom vielen Erzählen schloss ich die Augen.
Als ich erwachte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich mehrere Stunden geschlafen hatte. Ein Blick auf die an den Bordbildschirmen angezeigte Reiseroute bestätigte mir, dass wir uns bereits über der kanadischen Westküste befanden. In gut einer Stunde würden wir in Los Angeles landen.
Ich gähnte hinter vorgehaltener Hand und versuchte, soweit es der auf ein Mindestmaß beschränkte Platz zuließ, meine Beine auszustrecken, die sich vom langen Sitzen ein wenig taub anfühlten.
Wie würde David mit seinen langen Beinen wohl zehn Stunden Flug überstehen?
Mit dem Gedanken an ihn verpasste ich mir sofort wieder einen innerlichen Fausthieb, der meinen so mühsam aufgebauten, scheinbaren Seelenfrieden erneut bis in die Grundmauern erschütterte.
Denk nicht an ihn!, befahl ich mir selbst grimmig. Für ihn bist du schon Vergangenheit! Außerdem würde er nie freiwillig so eine weite Reise auf sich nehmen, denn er hatte mir einmal gestanden, dass er unter Flugangst litt und nur im äußersten Notfall bereit war zu fliegen.
Hippie -„Sohni“ strebte soeben gemächlich den Gang entlang seinem Platz zu und grinste freundlich zu mir herüber, während er sich wieder setzte.
„Na, gut geschlafen?“
„Ging so.“
Durch unseren kurzen Wortwechsel bemerkte Collin, dass ich munter war und ließ für einen Moment die Tasten ruhen.
„Geht es Ihnen besser?“
Ich lächelte gequält.
„Wenn ich amerikanischen Boden unter den Füßen habe und mein Großvater mich am Flughafen umarmt, dann geht es mir wieder gut. Dann bin ich zu Hause.“
Er nickte.
„Es ist immer ein schönes Gefühl, nach Hause zu kommen.“ Er wandte sich an seinen Sohn. „Stimmt’s, Junior?“
„Aber klar doch“, grinste der und langte nach seinem Headset, während er mir verschwörerisch zuzwinkerte. „Ich kenne da eine gewisse Dame, die wird mich zuerst stürmisch umarmen und danach sofort zum nächsten Friseurladen schleifen!“
Ich musste lachen.
„Kurz und widerspenstig ist die Frisur der Saison.“
So wie David sie trägt…
Verdammte innerliche Stimme! Halt endlich die Klappe!
Ich bemerkte, dass Collin wieder etwas eintippte. Plötzlich überkam mich eine seltsame Unruhe.
Laut seiner eigenen Aussage war er Schriftsteller… Ich hatte ihm meine Liebes – oder vielleicht sollte ich besser Leidensgeschichte sagen, erzählt… Er schrieb die ganze Zeit emsig…
Waaas schrieb er?
Misstrauisch wies ich auf seinen Laptop.
„Was schreiben Sie eigentlich die ganze Zeit über?“
Lächelnd hielt er inne.
„Was glauben Sie denn, Caitlin?“
Ungläubig starrte ich ihn an und hob dann abwehrend die Hände.
„Oh nein, auf gar keinen Fall! Das werden Sie nicht tun!“
„Was werde ich nicht tun?“
„Sie werden meine Story nicht aufschreiben und an irgendein Schmierblatt verhökern! Auf gar keinen Fall!“
Hippie- „Sohni“, der noch mit der Wiederaufnahme seines Headsets kämpfte, hielt interessiert inne und musterte uns erstaunt.
„Was hast du ihr denn erzählt, wer du bist?“, fragte er seinen Vater.
„Das ich hin und wieder kleine Storys schreibe, um unseren Lebensunterhalt damit zu finanzieren.“
Sohni verzog das Gesicht und nickte irgendwie amüsiert.
„Na, das ist zumindest nicht gelogen.“
„Ich will aber nicht, dass Sie aus mir eine Story machen“, beharrte ich ärgerlich. „Außerdem haben Sie mir gesagt, Sie schreiben nur welche mit Happy End!“
„Hören Sie, Caitlin…“ Begütigend legte Collin wieder seine Hand auf meinen Arm, eine Geste, die mir bei Fremden normalerweise recht unangenehm war, bei ihm jedoch eigenartigerweise nichts auszumachen schien. „…Ihre Geschichte hat mich sofort gefesselt, vom ersten Satz an. Sie sind etwas Besonderes.“
„Blödsinn“, widersprach ich aufgebracht. „Wie würde denn der Titel Ihrer Meinung nach lauten? Die verarschte Prinzessin?“
Sohni lachte verhalten, doch Collin schüttelte mit ernster Miene den Kopf.
„Nein, Caitlin, so läuft das nicht. Ich würde nie etwas veröffentlichen oder verkaufen, mit dem Sie als Hauptperson der Story nicht einverstanden sind. Ich schreibe Ihre Geschichte für mich selbst auf und warte ab, wie sie endet.“
„Sie ist zu Ende.“
„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.“ Er klappte den Laptop zu und tippte mit dem Finger darauf. „Auf jeden Fall bleibt alles, was ich schreibe, hier drin, bis ich Ihr Einverständnis habe, es veröffentlichen zu dürfen. Und selbst dann ist es noch nicht sicher, dass ich das wirklich tue.“
Misstrauisch sah ich ihn an.
„Ehrlich?“
Er streckte mir seine Hand hin.
„Mein Wort darauf.“
Dann langte er in seine Tasche und reichte mir eine Visitenkarte. Darauf standen sein Name, der Name einer Agentur und eine Telefonnummer.
„Sie rufen mich an, falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, oder falls die Story doch noch weitergeht.“
Einigermaßen erleichtert nickte ich und steckte die Karte ein.
„Okay, ich hoffe, ich kann Ihnen vertrauen.“
„Das können Sie. Sie haben mein Wort. Und das pflege ich zu halten."
Grandpa erwartete mich wie gewohnt gleich hinter der Zollkontrolle. Ich sah ihn schon von weitem, hätte diesen, mit seinen mittlerweile weit über sechzig Jahren noch immer attraktiven, stattlichen Mann mit dem vollen, weißen Haar und den unzähligen Lachfältchen, die sich tief um seine gütigen Augen gegraben hatten, unter tausend anderen sofort erkannt.
Erleichtert und mit dem obligatorischen Freudenschrei fielen wir einander in die Arme. Noch immer schien es ihm überhaupt keine Mühe zu machen, mich hochzuheben und herumzuschwenken, so wie er das bereits getan hatte, als ich noch ganz klein war.
Seit meiner überstürzten Abreise hatte ich meine Tränen immer wieder erfolgreich unterdrückt, doch jetzt, da mir der gewohnte Duft seines Aftershaves in die Nase stieg, und ich den Klang der mir so vertrauten Stimme hörte, konnte ich sie nicht länger zurückhalten. Schniefend suchte ich nach einem Taschentuch. Er lachte und reichte mir seins, groß wie ein Geschirrtuch.
„Hey, da hat aber jemand mächtig Sehnsucht nach der großen Freiheit!“, unkte er und betrachtete mich lachend. „Wirst von Mal zu Mal schöner, mein Mädchen! Ein bisschen blass um die Nase, aber das bekommen wir mit Hilfe der kalifornischen Sonne und dem guten Essen deiner Großmutter schnell wieder hin.“ Er nahm meinen Koffer auf, als sei dieser ein Federgewicht. „Na komm, sie kann kaum erwarten, dich in die Arme zu schließen und springt schon ganz aufgeregt durchs Haus!“
Ich sah mich kurz um und erblickte Collin Morrell und „Sohni“ nur ein paar Schritte von uns entfernt. Beide hatten soeben den Zoll passiert und strebten ebenfalls Richtung Ausgang.
„Grandpa, bitte warte einen Augenblick, ich möchte mich nur schnell von jemandem verabschieden!“
Collin lächelte erfreut, als er mich erblickte.
„Caitlin, schön Sie noch einmal zu sehen.“
„Ich wollte mich verabschieden und Ihnen beiden alles Gute wünschen. Dank Ihnen war es doch noch ein recht angenehmer Flug!“
„Ganz meinerseits, meine Liebe!“, strahlte Collin und schüttelte meine Hand. „Ich bin sicher, alles wird sich früher oder später für Sie zum Guten wenden.“
„Diese Sicherheit kann ich leider nicht teilen“, seufzte ich mit einem traurigen Lächeln.
Collin zwinkerte mir verschwörerisch zu.
„Wenn er eine Frau wie Sie einfach aufgibt, dann ist er ein Idiot und hat Sie gar nicht verdient. Aber falls er doch um Sie kämpft und den Kampf gewinnt, dann lassen Sie es mich unbedingt wissen! Meine Telefonnummer haben Sie ja.“
Meine Kehle fühlte sich schon wieder beängstigend eng an, als ich mühsam ein „Okay“ hervorbrachte.
Wenn das so weiterging, würde ich am Ende noch zur Heulsuse der Nation mutieren!
Ich verabschiedete mich schnell von „Sohni“, der mir ebenfalls alles Gute wünschte, und eilte zu meinem Großvater zurück.
„So, wir können los!“
Grandpa hatte die kleine Abschiedsszene mit Interesse beobachtet und kniff erstaunt die Augen zusammen.
„War das eben nicht… Collin Morrell?“
„Ja genau“, nickte ich, überrascht darüber, dass er den Namen meiner Flugzeug-Bekanntschaft kannte. „Wir saßen zufällig im Flugzeug nebeneinander und haben uns ein wenig unterhalten. Aber… woher weißt du…?“
„Na, du machst mir Spaß!“, rief Grandpa amüsiert. „Den kennt doch hier in den Staaten jeder! Collin Morrell ist einer der berühmtesten Bestsellerautoren der USA! Sozusagen eine lebende Legende. Frag deine Großmutter, sie hat jeden einzelnen seiner Romane gelesen!“
Oh – mein – Gott …
Mein Kopf flog herum in Richtung Ausgang, doch Collin und „Sohni“ waren bereits verschwunden.
Grandpa lachte.
„Hast du ein Glück! Reist zusammen mit einer wahren Berühmtheit durch die Gegend! Ich wüsste zu gern, was sein neustes Projekt ist. Hast du vielleicht zufällig mitbekommen, woran er gerade arbeitet?“
Ich seufzte innerlich und lächelte gequält.
„Ich fürchte, ja…“