Ich traf mich mit Simone zum verabredeten Termin im Rathaus-Café. Sie saß an einem Tisch in der äußersten Ecke und winkte mir aufgeregt zu.
„Caitlin, wir haben ein Problem“, eröffnete sie mir, nachdem wir uns begrüßt und bei der herbeieilenden Kellnerin unsere Getränkebestellung aufgegeben hatten.
„Wo klemmt`s denn?“, erkundigte ich mich fröhlich. „Haben sie zum Stadtfest Dauerregen angesagt?“
Simone Gesicht blieb ernst.
„Er hat sich wieder gemeldet“, eröffnete sie mir in verhaltenem Tonfall. Obwohl das Café um diese Zeit fast leer war und wir zudem weit abseits des Tresens saßen, sah sie sich mehrmals vorsichtig um, als befürchtete sie, dass uns irgendwer belauschen könnte.
„Wer hat sich gemeldet?“, fragte ich verständnislos.
„Der Kerl mit den Drohbriefen, von dem ich dir erzählt habe.“
„Woher weißt du, dass es nur einer ist?“
Sie seufzte.
„Keine Ahnung. Ich gehe einfach davon aus, dass es nur einen von diesen Idioten gibt. Damit versuche ich mich selbst zu beruhigen.“
„So schlimm?“, fragte ich mitleidig und sie nickte verbissen.
„Ich hasse so etwas. Als ob wir nicht schon genug Stress am Hals hätten! Da muss dann obendrein so ein Irrer daherkommen und alle noch verrückter machen.“
„Was steht denn in den Briefen?“
„Der übliche Quatsch. Dass er alles in seinem Leben verloren hätte, was für ihn von Bedeutung war. Dass die Stadt die Schuld daran trägt und er deshalb nichts mehr zu verlieren hat. Er droht, dass er sich nun bei der nächsten Gelegenheit öffentlich rächen wird.“
„Bei der nächsten Gelegenheit“, wiederholte ich nachdenklich. „Denkst du, was ich denke?“
Simone nickte mit ernstem Blick.
„Das Stadtfest.“
„Und was nun?“
„Der Bürgermeister hat sich mit den Mitgliedern des Stadtrates beraten. Sie wollen das Fest trotzdem wie vorgesehen durchführen.“
„Und wie genau soll der offizielle Teil aussehen?“
„Die amtierende Weinkönigin, die derzeitige Blumenfee und du als Lichterprinzessin, ihr drei Majestäten werdet in Begleitung des Bürgermeisters und des Stadtrates auf der Bühne im Stadtzentrum stehen. Der Bürgermeister hält dort seine Rede. So kurz vor der neuen Wahlperiode ist das die bestmögliche Werbung für ihn.“
„Und eine erstklassige Gelegenheit für einen tätlichen Angriff“, ergänzte ich nachdenklich.
Simone strich sich nervös über die Stirn.
„Das Risiko besteht natürlich. Aber keine Sorge, wir sind dabei, gewisse Vorkehrungen zu treffen.“
„Wie sollen die denn aussehen?“, fragte ich skeptisch. „Ihr wisst ja gar nicht, was der Erpresser vorhat.“
Sie hob nur ratlos die Schultern.
„Keine Ahnung, aber die Polizei ist über alles genau informiert und bestens vorbereitet.“
„Na dann können wir ja alle beruhigt sein“, erwiderte ich mit jenem sarkastischen Unterton, den ich nur zu gut von David kannte. „Aber falls ich eine kugelsichere Weste tragen soll, dann muss ich dich enttäuschen. Die passt nun wirklich nicht unter mein enges Kleid.“
Simone lachte gezwungen.
„Wenn du unter diesen Umständen vor einem öffentlichen Auftritt Angst hast, kann ich das gut verstehen. Ich sage den Organisatoren einfach, du bist im Urlaub oder so.“
„Nein“, erwiderte ich entschieden. „Kommt gar nicht in Frage. Man kann mir vieles nachsagen, aber feige bin ich nicht. Wenn das Fest stattfindet wie geplant, dann werde ich dabei sein.“
Als ich David später, während wir uns bei mir zu Hause meine selbstgemachte Lasagne schmecken ließen, von dem Gespräch mit Simone und den geheimen Drohungen gegen die Stadt erzählte, nickte er mit ernstem Gesicht.
„Ich darf eigentlich nicht darüber reden, aber wenn sie es dir sowieso schon brühwarm erzählt hat, dann können wir es genauso gut gleich ans schwarze Brett schreiben“, meinte er missbilligend.
Ich wusste, er hegte keine besondere Sympathie für Simone, weil sie in seinen Augen zu viele interne Dinge herausplauderte.
„Und was ist nun wirklich dran an der Sache?“, hakte ich rasch nach, um beim Thema zu bleiben. David legte sein Besteck zur Seite und lehnte sich zurück. Er wirkte irgendwie angespannt.
„Das Problem ist, dass bisher noch keiner weiß, ob es sich nur um einen Spinner handelt, der sich einen schlechten Scherz erlaubt, oder ob wirklich eine ernstzunehmende Gefahr von dem Absender der Briefe ausgeht. Da es nun schon mehrere Drohbriefe sind, wird vermutet, dass er bald etwas plant. Das kommende Stadtfest wäre eine günstige Gelegenheit dafür.“
„Warum wird es so streng geheim gehalten, dass ein Unbekannter die Stadt bedroht?“
David spielte nervös mit seiner Serviette herum.
„Was glaubst du wohl? Überleg mal…“
„Na ja, ich könnte mir gut vorstellen, dass einige Leute etwas unruhig schlafen würden.“
„Nicht nur das. Die Öffentlichkeit wäre in höchstem Maße beunruhigt. Und wenn die Stadt in Zukunft etwas zu feiern hat, würden die Leute vorsichtshalber lieber zu Hause bleiben.“
„Ah ja, es geht wieder einmal schlichtweg ums Geld.“
„Du hast es erfasst.“
„Dann können wir also nur abwarten“, seufzte ich und sah ihn fragend an. „Wirst du in meiner Nähe sein?“
„Baby, ich bin immer in deiner Nähe“, erwiderte er und zwinkerte mir zu. „Aber dieses Mal wird das nicht nötig sein.“
„Und wieso?“
„Weil du nicht hingehen wirst.“
Er sagte das in einem Ton, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.
Ich glaubte mich verhört zu haben.
„Wie bitte?“
„Du wirst an dem Stadtfest nicht teilnehmen.“
„Und warum nicht?“
„Viel zu gefährlich.“
„So ein Unsinn“, protestierte ich ungehalten. „Was soll mir denn schon passieren?“
„Alles kann passieren“, warnte er eindringlich. „Denk mal an das "Fest der tausend Lichter", als dieser Betrunkene aufgetaucht ist. Warst du etwa nicht erschrocken, als er auf dich losging?“
„Okay, ein wenig schon. Aber du warst ja da und hast mich beschützt.“
„Vielleicht kann ich das dieses Mal nicht.“
Ich atmete tief durch. Diese Diskussion gefiel mir gar nicht.
„Ich werde den Termin nicht absagen, nur weil vermutet wird, dass sich jemand für was auch immer am Stadtrat oder am Bürgermeister rächen will. Das ist doch alles reine Spekulation!“
David sah das anders.
„Du stehst bei deinem Auftritt genauso in der Öffentlichkeit wie die Obrigkeit der Stadt. Wenn jemand aus Frust und Wut handelt und Aufmerksamkeit erregen will, dann ist es ihm egal, wen er trifft.“
„Wenn es danach ginge, dann dürften wir gar kein Fest mehr feiern, solange der Briefeschreiber noch frei herumläuft. Und wenn wir jetzt damit anfangen, uns einschüchtern zu lassen, dann hat er genau das erreicht, was er will.“
Als David daraufhin schwieg, versuchte ich an seine Berufsehre zu appellieren.
„Du bist Polizist, du müsstest am besten wissen, dass man solchen Leuten nicht nachgeben darf!“
„Ja klar, aber genauso gut weiß ich, dass man aus Gründen der Sicherheit manchmal bereit sein muss, Kompromisse einzugehen.“
Ich schüttelte entschieden den Kopf.
„Vergiss es, David. Du weißt doch, entweder mache ich eine Sache ganz oder gar nicht. Ich bin Lichterprinzessin meiner Stadt, und ich werde mich ganz sicher nicht vor der Verantwortung drücken und mir von irgendeinem Spinner meinen Auftritt verderben lassen.“
Ungehalten zerknüllte er die Serviette und warf sie neben seinem Teller auf den Tisch. Seine dunklen Augen funkelten mich wütend an.
„Und ich werde nicht riskieren, dass der Frau, die ich liebe, etwas passiert!“
Ich hatte bereits die nächste Antwort auf den Lippen, doch im selben Augenblick registrierte mein Gehirn, was er da eben gesagt hatte. Wie erstarrt hielt ich inne und blickte ihn fassungslos an.
In der sekundenlangen Stille, die auf seine letzten Worte folgte, konnte man die knisternde Spannung zwischen uns geradezu fühlen. Ich wagte kaum zu atmen, und mein Herz schien sich in meiner Brust selbstständig zu machen, während seine letzten Worte in meinem Kopf nachhallten.
Hatte ich mich verhört?
Nein, hatte ich nicht.
Aber nur nochmal zur Sicherheit…
„Was hast du eben gesagt?“, fragte ich ganz leise und vorsichtig.
Die Situation entspannte sich schlagartig, als sein altbekanntes Grinsen erschien.
„Ich werde jetzt ganz sicher nichts mehr sagen, was du später gegen mich verwenden kannst“, erklärte er lässig. Dann stand er auf, kam zu mir herüber, hob mit zwei Fingern mein Kinn leicht an und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen.
„Ich muss zum Dienst. Danke für das leckere Essen. Bis später, Prinzessin!“
Ich saß noch eine Weile, nachdem er gegangen war, wie versteinert: seine mehr oder weniger unfreiwillig herausgerutschten Worte im Ohr, seinen Kuss auf den Lippen und ein verklärtes, geradezu idiotisches Lächeln im Gesicht, das den Rest des Abends nicht wieder verschwinden wollte.
„Und ich werde nicht riskieren, dass der Frau, die ich liebe, etwas passiert!“
Konnte es eine schönere Liebeserklärung geben, als diese?
Über das bevorstehende Stadtfest fiel nach dieser Diskussion kein Wort mehr zwischen uns.
Ich war fest entschlossen, an dem Event teilzunehmen, und David schien meine Entscheidung stillschweigend zu akzeptieren. Vielleicht war er insgeheim auch nur froh, dass ich ihn nicht noch einmal auf sein mehr oder weniger freiwilliges Geständnis ansprach, das er mir an diesem Abend gemacht hatte. Also ignorierten wir das Thema und harrten der Dinge, die da kommen würden.