Nachdem sich alle mehr oder weniger clever Ricos teils sehr indiskreten Fragen gestellt hatten, wurden wir erneut hinter die Bühne gebeten, um der Jury Zeit für die Auswertung zu geben.
Währenddessen spielte eine Nachwuchsband.
Ob deren Musik gut oder schlecht klang, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Die Aufregung schnürte mir die Kehle zu, und ich hatte nur noch zwei sehnlichste Wünsche:
Erstens - nicht auf dem letzten Platz zu landen und zweitens - gemeinsam mit meiner Mom und Jessi nach Hause zu fahren und über die ganze Sache lachen zu können.
Aber noch war es nicht soweit. Meine Wünsche mussten warten, und ob sie erhört wurden, das lag nicht in meiner Hand.
Die Jury ließ sich Zeit.
Wer schon einmal in den zweifelhaften Genuss einer mündlichen Abschlussprüfung gekommen ist, der weiß: Zwanzig Minuten können eine Ewigkeit sein!
Die neunzehnjährige Nancy mit den roten Strähnchen und der Startnummer 9 empfand das wohl ähnlich. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum.
„Ich müsste dringend aufs Klo!“, flüsterte sie mir leise zu.
„Was hindert dich daran?“, fragte ich erstaunt.
„Mein Kleid! In dem Ding pinkeln zu gehen, ist so gut wie unmöglich!“ Sie wies auf den überbreiten, modisch abgestimmten Miedergürtel, der ihr zwar eine Traumtaille bescherte, aber bösartig unbequem aussah.
„Was ist damit? Mach ihn doch auf!“
„Meine Mutter hat ihn festgenäht, damit er nicht verrutscht!“
Heiliger Strohsack! Ich grinste teilnahmsvoll.
„Na, dann halt mal schön die Luft an!“
Irgendwann, Lichtjahre später, bat man uns wieder hinaus auf die Bühne.
Knisternde Spannung.
„Und der zehnte Platz geht an…“
Die Zähne fest zusammengebissen und innerlich gewappnet, die Schmach gegebenenfalls tapfer zu ertragen, lauschte ich dem Unvermeidlichen.
Ein stilles Stoßgebet zum Himmel (ich bete sonst nie!) – es war nicht mein Name, der genannt wurde!
Miss „Sweet Sixteen“ trat als Letztplatzierte mit hochroten Wangen vor, erhielt einen Blumenstrauß als Trostpflaster und würde nun wohl nie erfahren, wie es wäre, als Prinzessin in einer Kutsche zu fahren.
Auch von den Plätzen 9 bis 3 wurde keiner mit meinem Namen oder meine Startnummer benannt. Nervös begann ich mich zu fragen, ob ich vielleicht bei der Auswertung versehentlich vergessen worden war.
Ich muss dazu anmerken, dass ich diese Art der „Siegerehrung“ sowieso recht unpassend fand, man sollte einen letzten Platz nicht mit einem Namen belegen, es wäre absolut ausreichend gewesen, die drei Erstplatzierten zu nennen, und dem „Rest“ in aller Form für die Teilnahme zu danken.
Aber leider hatte mich damals niemand nach meiner Meinung gefragt.
Inzwischen war auch der dritte Platz vergeben, die Bewerberin mit der Startnummer 4 erhielt Blumen und einen Warengutschein aus einem ortsansässigen Handelsunternehmen.
Dann waren wir nur noch zu zweit. Nancy, die mit Sicherheit inzwischen kaum noch das Wasser halten konnte und ich.
Ich presste mit aller Kraft meine zitternden Knie aneinander und riskierte einen vorsichtigen Blick in Richtung meines Fanclubs. Meine Familie und meine Freunde saßen da wie ein Arrangement aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, alle starrten bewegungslos zu mir herüber.
„Der zweite Platz geht an die Teilnehmerin mit der Startnummer…“
Atme, Caiti, atme!
„…Neun!“
Begleitet vom Jubelgeschrei aller Anwesenden fielen Nancy und ich uns erleichtert in die Arme. Ich gratulierte ihr begeistert zu ihrem zweiten Platz und sie mir zum Sieg.
S I E G ???
Nancy war Zweitplatzierte, und mein armes, völlig überstrapaziertes Gehirn registrierte erst Sekunden später die logische Schlussfolgerung, die sich daraus ergab:
Ich hatte die Wahl gewonnen!!!
Ich war Lichterprinzessin meiner Stadt!
Den tosenden Beifall, die Glückwünsche des Moderators, meiner Mitbewerberinnen, des Vereinsvorsitzenden und der Sponsoren, den nicht unbeträchtlichen Scheck und den Riesen-Blumenstrauß nahm ich gar nicht richtig wahr, genauso wenig wie das Blitzlichtgewitter, das nun aus Richtung der Presse losbrach.
Ich fand mich schließlich völlig überwältigt von meinem ungeahnten Erfolg hinter der Bühne in den Armen meiner Mom und meiner besten Freundin wieder. Jessi hüpfte um mich herum wie ein kleines Kind.
„Caiti, ich hab`s gewusst… Hab ich`s dir nicht gesagt… Oh Mann, das ist total irre!“
Meine Mom strahlte vor Stolz und Freude.
„That`s absolutly fantastic, my dear! Come on, darling, they all want to congratulate you!”, sagte sie überglücklich und nahm mir den riesigen Blumenstrauß ab. „Die Mitglieder der Jury, sie warten und wollen ein Foto zusammen mit dir machen.“
Wenn Mom aufgeregt ist, verfällt sie manchmal, ohne es zu merken, in ihre Muttersprache zurück. Ich finde das total süß, genauso wie mein Dad. Spontan drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange.
„I love you Mom!“
Dann eilte ich durch den Seitenausgang von der Bühne.
Leider hat dieser Seitenausgang eine fiese Metalltreppe. Aufwärts noch recht gut zu bewältigen, kann sie abwärts zu einer bösen Falle werden. Vor allem, wenn man aufgeregt ist, es eilig hat und hochhackige Pumps trägt, deren Absätze sich unter Umständen gnadenlos in den Metallstreben verkanten können.
Cinderella muss sich ähnlich gefühlt haben, als sie ihren Schuh verlor.
Vergeblich kämpfte ich sekundenlang um mein Gleichgewicht, doch schließlich siegte die Schwerkraft und ich stürzte mit einem Aufschrei nach vorn über…