Du bist Elred Aramys Nuvian.
„Eine Aufführung ist so verrückt, das könnte glatt funktionieren“, gibst du zögerlich zu. Die beiden Frauen dir gegenüber nicken bekräftigend.
„Außerdem seid ihr so noch nie vorgegangen“, fügt Karja hinzu. „Die Zwerge sind ja nicht dumm. Sie rechnen damit, dass ihr auftauchen werdet. Die Geschichten über eure Taten haben sich mittlerweile sicherlich verbreitet, erst recht hier.“ Sie rückt grinsend die falsche Augenklappe zurecht. „Aber damit rechnen sie nicht.“
„Wo würden wir denn überhaupt anfangen?“, fragst du, noch immer nicht völlig überzeugt.
„Aufführungen gibt es hier häufiger“, erklärt Karja. „Wir müssen uns allerdings beim Anführer der Wache anmelden. Dafür sollten wir wissen, was wir aufführen wollen.“
„Doch nicht etwa tanzen?“, fragst du.
„Singen kann ich schon mal nicht“, sagt Brenna.
Karja lacht. „Ich dachte eher an eine Geschichte. Die Zwerge stehen auf alte Geschichten und so. Legenden über ihre Volkshelden. Ich kenne ein paar, ich brauche nur etwas Zeit, um die zu sortieren. Ihr beide solltet euch so lange überlegen, wie wir den Schöpferstein verstecken, wenn es so weit ist!“
Du nickst. Somit trennt ihr euch, um eure jeweiligen Aufgaben zu erfüllen und euch vorzubereiten.
°°°
Karja vollführt ein wahres Wunder. Sie schreibt ein ganzes Theaterstück und prügelt euch den Text innerhalb weniger Stunden ein, sodass ihr schon in kürzester Zeit auf die Bühne treten könnt. Das ist offenbar wirklich keine Seltenheit. Viele reisende Schausteller scheinen die Bühne vor dem Thron als einzigartigen Schauplatz zu schätzen. Die Wachen wirken kein bisschen verwundert, als ihr die Stufen hinaufsteigt. Doch ihr habt euch auch angemeldet.
Rasch strömen einige Zwerge und Händler herbei, um euch zuzusehen. Du schluckst. Normalerweise arbeitest du nicht vor Publikum. Dass du in einem Reich bist, wo hohes Kopfgeld auf dich ausgeschrieben ist, vor dem dich nur eine kratzige Pelzmütze bewahrt, hilft da auch nicht.
„Wir beginnen in einem finsteren Wald“, verkündet Karja dem wachsenden Publikum. „Zwei tapfere Königskinder befinden sich auf der Flucht vor ihren Häschern.“
Das sind du und Brenna. Ihr spielt die Erben eines Königreichs der Zwerge, das von einem konkurrierenden Clan niedergebrannt wurde. Als Bruder und Schwester seid ihr die einzigen Überlebenden, während der Anführer des bösen Clans – gespielt von Karja – sich auf den Thron schwingt.
Eine Geschichte, wie du sie oft gehört hast. Die meisten sind Märchen der Sterblichen, aber solche Fälle gab es auch im echten Leben. Diese Legende unterscheidet sich etwas von den Märchen. Zum ersten ist es die Schwester, welche den bösen König am Ende konfrontiert. Du als Bruder bist ins Gefängnis geworfen worden und stehst nur im Hintergrund dabei. Ab und zu musst du um das Leben deiner geliebten Schwester flehen. Dabei krebst du Schritt für Schritt auf den Obsidianspiegel zu. Niemand hat diese Schätze irgendwie gesichert. Mit einem so dreisten Diebstahl, wie ihr ihn plant, rechnet niemand.
Als Brenna und Karja ihre Waffen ziehen und mit funkenstiebenden Klingen aufeinander losgehen, ist dein Moment gekommen. Du streckst die Hand aus, schnappst dir den Obsidianspiegel und steckst ihn unter dein Hemd. Der Schöpferstein ist schwarz und eine flache, polierte Scheibe, etwa so groß wie deine Handfläche, an einer goldenen Kette befestigt. Für seine Größe ist er ziemlich schwer.
Nichts passiert, als du den Stein berührt. Das war etwas, wovor du Sorge hattest. Doch der Stein ist wohl nicht bereit, dir seine Macht zu gewähren. Was aktuell sicherlich besser so ist.
Brenna sieht zu dir und du nickst unauffällig. Also beendet sie den Kampf rasch. Karja wird besiegt und schlüpft zurück in die Rolle des Erzählers. Sie berichtet, wie die Königskinder ein neues Reich auf den Ascheruinen ihrer Heimat errichteten. Ein Reich, das Barkan’dor genannt ward.
Ihr verbeugt euch vor dem eher gemäßigten Applaus des Publikums und steigt von der Bühne. Als ihr euch wieder in das Gedränge mischen wollt, erklingt jedoch ein lauter Ruf.
„Halt! Stehenbleiben!“
Du drehst dich um. Eine der Wachen kommt auf euch zu. Zwei weitere stehen auf der Bühne und betrachten die Auslage. Sie haben den fehlenden Stein bemerkt!
„Lauft!“ Brenna springt los und wühlt sich in das Gewirr aus Zwergen und anderen Wesen, die eben noch eure Zuschauer gebildet haben. Hände haschen nach euch, während ihr durch das Gedränge sprintet. Jemand hält deinen Arm fest. Als du dich losreißt, spürst du den Stein unter deinem Hemd rutschen. Du hattest keine Zeit, diesen irgendwie zu befestigen. Verzweifelt versuchst du, ihn festzuhalten, doch ein Zwerg sieht deine Geste. Ehe du reagieren kannst, packen stahlharte Finger dein Hemd und zerren den Schöpferstein hervor.
„Ha!“
Du windest dich aus dem Griff deines Gegners und rennst weiter. Während der Zwerg den schwarzen, flachen Stein in die Luft reckt, folgst du deinen Gefährten weiter, die auf eine der breiten Treppen zuhalten, die ohne jedes Geländer in die Tiefe führen. Die Zwerge springen euch aus dem Weg, denn sie wollen nicht in den Abgrund gestoßen werden. Das verschafft euch den nötigen Freiraum, um die flachen, breiten Stufen hinabzurennen. Armbrustbolzen prallen viel zu dicht an euch von den Stufen ab.
Die Treppen führen in geraden Linien nach unten, auf großen, gewölbten Säulen. Rufe und Hörner hallen von den Wänden wider, während ihr lauft. Unter euch verzweigt sich der Weg in viele kleinere Brücken, die teilweise alt und marode aussehen. Brenna, die ganz vorne läuft, wählt einen Weg aus und stürmt dahinter in einen von Holzbalken gestützten Minenschacht.
Ihr habt ein wahres Labyrinth erreicht, die Minentunnel, die kreuz und quer und auf mehreren Ebenen durch den Berg führen. Inzwischen sind nur noch Zwergen hinter euch. In den großen Höhlen waren überall Wachen, doch hier ist es leerer.
Ihr passiert Bergarbeiter und überquert die Schienen eines offenbar ausgeklügelten Lorensystems. Immer wieder biegt ihr ab und schlagt scharfe Kurven, um die kurzbeinigen Verfolger endlich abzuhängen. Ihr gelangt durch offene Höhlen, in denen die Wände mit Arbeitern besetzt sind, die schimmernde Adern abschlagen. Ihr kommt an unterirdischen Wasserfällen und künstlichen, steinernen Bachbetten für Lavaströme vorbei, überquert Brücken und kriecht durch flache Durchbrüche.
Irgendwann könnt ihr keine Feinde mehr hinter euch hören und haltet in einem dunklen Tunnel, um Atem zu schöpfen. Karja hat geistesgegenwärtig eine brennende Fackel und mehrere vorbereitete Holzscheite mitgenommen, doch mehr habt ihr nicht bei euch. Und ihr seid rettungslos verirrt. Ausgerechnet in dieser finsteren Tiefe – du hasst Höhlen!
„Gib Brenna den Stein. Wir müssen gucken, ob er auf einen von uns reagiert“, verlangt Karja. „Das ist unsere beste Hoffnung.“
„Ich habe ihn nicht mehr“, musst du gestehen. Niedergeschlagen berichtest du, wie die Menge ihn dir vom Leib gerissen hat.
„Scheiße.“ Brenna tritt gegen die Wand und verzieht das Gesicht. „Au.“
„Sie werden uns suchen“, sagt Karja. „Früher oder später finden sie uns hier. Das ist nur eine Frage der Zeit. Wir können in Bewegung bleiben, um uns etwas mehr Zeit zu verschaffen. Aber jetzt brauchen wir eine gute Idee. Oder ein Wunder.“
Eure Verkleidungen sind bei der Flucht abgefallen. Überhaupt würden sie euch jetzt nicht mehr schützen. Karja wischt sich die Reste der falschen Narbe von der schweißüberströmten Wange. Du wünschst dir die kratzige Mütze zurück.
„Also gut“, murmelt Brenna. „Wir brauchen also ein Wunder.“
„Ein richtig großes Wunder.“ Karja stockt. „Moment … hört ihr das?“
Ihr lauscht, noch immer etwas atemlos. Aus einem nahen Tunnel dringt eine Art Trommeln. Oder es sind schwere Schritt einer großen Kreatur.
Ihr haltet den Atem an. Karja senkt die Fackel langsam, worauf ihr bemerkt, dass neuer Feuerschein in euren Tunnel fällt. Er kommt aus der Richtung des Lärms.
„Das klingt nicht nach einem Wunder“, kommentierst du.
Ihr tauscht einen Blick, dann schleicht ihr vorwärts und späht um die Kurve. Karja schnappt nach Luft.
Es ist ein Drache! In einer großen Höhle, von zackigen Tropfsteinen in ein zahnbewehrtes Maul verwandelt, tritt ein großes Echsenwesen mit goldenen Schuppen voran. Mächte Schwingen erheben sich auf seinem Rücken. Die Luft vor dem Maul flirrt in Hitze, Flammen züngeln zwischen den großen Zähnen hervor.
Dann richtet der Drache seinen Blick auf euch. Die Pupillen verengen sich zu schmalsten Schlitzen. Sein Grollen lässt den Boden erzittern.
Ihr werft euch herum und rennt durch den Tunnel. Hinter euch fährt ein Feuerstrahl durch die Höhle. Ihr mobilisiert Kräfte, von denen ihr nach der langen Flucht nicht einmal geahnt hättet. Vor euch öffnet dich der Tunnel. Eine marode Holzbrücke führt über eine tiefe Schlucht, gehalten von modernden Seilen. Alte Seilzüge zeugen davon, dass dieser Seitenarm der Mine schon lange stillgelegt ist.
Ihr habt auch eine Vorstellung, wieso!
Außerdem geht es an der Seite des Abgrunds weiter, durch einen größeren Tunnel in eine Art Seitenhöhle. Du kannst nicht viel mehr als Dunkelheit erkennen. Durch den Tunnel könnte euch der Drache womöglich folgen, die Brücke sieht aber auch gefährlich aus. Dahinter gibt es jedoch einen kleinen Tunnel, wo ihr die Feuerechse auf jeden Fall abhängen könnt!
Ihr müsst euch jetzt entscheiden!
Du wählst …
- … die Brücke. Lies weiter in Kapitel 11.
[https://belletristica.com/de/chapters/340728/edit]
- … den Seitentunnel. Lies weiter in Kapitel 12.