Du bist Karja Sturmvogel.
„Nach links!“ Du zeigst auf den Tunnel, damit deine Gefährten ihn bemerken, und rennst voraus.
Nach der langen Flucht schmerzen deine Rippen. Brenna und Elred kann es nicht viel anders gehen. Trotzdem mobilisiert ihr noch einmal alle Kräfte und rennt in einer Art, die an Brutalität grenzt. Ihr verlangt euren Körpern alles ab: Noch größere Schritte, noch schnellere Sprünge. Jeder Atemzug scheint dich von innen heraus zu zerschneiden, aber ihr könnt nicht stehen bleiben.
Das Grollen des Drachens folgt euch in den Gang, der für deinen Geschmack noch viel zu geräumig ist. An seinem Ende kreuzt er in einen größeren Gang, doch euch interessieren die kleinen Öffnungen an der Seite. Elred hat dich überholt und biegt mit schlitternden Schritten in einen davon ab. Der Boden ist glatt, sodass ihr fast stürzt, als zuerst Brenna und dann du ihm folgen.
Der Seitengang stellt sich als Sackgasse heraus. Nachdem ihr ein paar Schritte in die Deckung gemacht hat, fällt das flackernde Fackellicht auf eine Schachtklappe, aus der heiße Luft heraufdringt. Dort muss es zu einem Teil der Schmelze gehen – und das ist kein Weg, den ihr überleben könnt.
Außer Atem drückt ihr euch an die Tunnelwand. Gegenüber gibt es einen ähnlichen Eingang, Elred hatte einfach das nächstbeste gewählt, doch du vermutest, dass sie alle ähnlich enden.
Nun bleibt euch nur, zu hoffen, dass der Drache nicht in den mittleren Tunnel gelangt. Sonst seid ihr auf dem Präsentierteller. Er braucht nicht man in den Seitengang zu kriechen, er kann euch einfach verbrennen.
Es ist still. Nur eure gehetzten Atemzüge sind zu hören. Kein Grollen mehr, keine schweren Schritte, kein Kratzen der Krallen auf Stein.
Nach einer Weile tauscht ihr fragende Blicke und wagt euch dann vor, zum Tunnelausgang. Vorsichtig späht ihr um die Ecke, bereit, jederzeit zurückzuspringen.
Der Drache bemerkt euch jedoch nicht. Er sitzt am Rand des Abgrunds, den ihr auf der Brücke hättet überqueren können, und blickt in die Tiefe. Oder guckt er dort überhaupt hin? Irgendwie scheint er zu schlafen oder in einem ähnlichen Zustand zu sein. Die großen Augen blinzeln nicht, die Schwingen regen sich nicht. Eigentlich müsstet ihr das große Tier wenigstens atmen sehen! Doch der Drache ist erstarrt, wie eine goldene Statue.
Dann … verschwindet er. Von einem Moment auf den anderen ist der Drache fort. Die Höhle wirkt größer, leerer und dunkler.
„B-bin ich verrückt, oder ist er …?“
„Ich habe es auch gesehen“, antwortest du Brenna. Deine Hände am Stein zittern. „Wo ist er hin?“
„Er kann nicht gegangen sein. Das hätten wir gehört. Er hat sich einfach aufgelöst!“ Brennas Stimme bebt. „Oder ist er unsichtbar?“
„Dann müssten wir ihn hören“, widerspricht Elred. „Das … das kann nicht sein. Drachen können sich ja nicht teleportieren.“
Die ganze Sache ist unheimlich. Ihr wartet noch eine Weile ab, bevor ihr euch schließlich aus dem Seitentunnel wagt und dem größeren Tunnel fort von der Kluft folgt. Der Drache scheint wirklich weg zu sein, doch erklären kann sich das niemand von euch. Offenbar hat er eure Spur verloren und sich dann aufgelöst. War es überhaupt ein echter Drache?
Langsam hast du Zweifel an deiner Wahrnehmung. Ihr beschließt, nicht mehr über die Kreatur zu reden.
Stattdessen wandert ihr durch die Hallen. Ihr seid offenbar in einem stillgelegten Teil der Mine angekommen. Vielleicht wurden alle nahen Erze erschöpft, sodass die Schmieden und Schmelzen, durch die ihr nun wandert, verlassen wurden. Ihr passiert riesige Becken, in denen teilweise noch immer Lava fließt, Kohlebottiche und alte Gussformen. Ihr sprecht kein Wort, sodass nur eure müden Schritte von den Wänden widerhallen.
Ihr braucht Zeit, um den gescheiterten Diebstahl und die Flucht zu verarbeiten.
Schließlich seht ihr natürliches Licht. Durch einen natürlichen Riss im Stein könnt ihr in ein hohes, steiles Tal treten. Der Wind pfeift über schroffe Bergspitzen. Die Wände sind so steil, dass ihr nicht aus dem Tal klettern könnt, doch die frische Luft tut euch nach der unterirdischen Flucht gut. Nachdem du ein Becken mit Kohle entzündet hat, löschst du eure Fackel. So spart ihr das transportable Licht.
„Jetzt stecken wir echt in der Patsche, was?“, fragt Brenna, während ihr im kalten Wind steht und den blassgrauen Sonnenschein genießt.
„Sie wissen, dass wir hier sind. Sie suchen nach uns.“ Du seufzt. „Ich will ehrlich sein, ich weiß nicht, ob wir das noch irgendwie drehen können.“
Du atmest tief durch. Du bist Piratin! Diese Welt unter der Erde ist dir fremd. Du kennst dich in den langen Tunneln nicht aus, all dein Wissen über die Völker der Welt hilft dir hier auch nicht mehr weiter. So bist du deinen Freunden keine Hilfe. Da könntet ihr eher den Stein der Unsichtbarkeit gebrauchen oder Ajis Ametrin, mit dem er Tote erwecken kann. Stattdessen habt ihr das Tigerauge, das zwar die Zeit, aber auch euch verlangsamt, und nun den Imperial. Nicht gerade die berauschende, unüberwindliche Macht der Schöpfersteine, von der man euch erzählt hat!
Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, sich aufzuteilen. Den Vorteil der Heimlichkeit habt ihr nun verspielt.
Wie sollt ihr euch gegen einen ganzen Berg voller Zwerge durchsetzen? Das ist eine unmögliche Aufgabe. Du atmest tief durch und wendest das Gesicht dem eisigen Wind zu. Brenna und Elred liegen sich in den Armen und klammern sich aneinander.
Während ihr grübelt, hörst du mit einem Mal einen Vogel zwitschern. Das Geräusch ist vertraut. Als du aufblickst, kommt eine Amsel aus dem Himmel herunter. Elreds Amsel. Der Botenvogel hat eine Nachricht eurer Freunde am Fuß und landet auf der Schulter des Elfens, als wäre es kein kleines Wunder, dass er euch in diesem Tal gefunden hat.
„Hallo, meine Kleine.“ Elred krault den Vogel und zieht dann die Nachricht hervor.
„Geht es ihnen gut?“, fragt Brenna.
„Ja … Sie schreiben, dass sie den Selenit haben.“ Der Elf überfliegt die Zeilen und runzelt die Stirn. „Der … der Stein gibt ihnen Zukunftsvisionen. Hier steht, dass sie Brennas Tod gesehen haben!“
Du glaubst, dass dein Herz einen Schlag aussetzt. Brenna wird bleich. „W-was?“
Elred konzentriert sich nochmal auf die Nachricht, wie um selbst zu verstehen, was das heißt. Gemeinsam mit Brenna wartest du in angespanntem Schweigen. Der Brief in der Hand des Elfen zittert, seine sonst so unerschütterliche Fassade bröckelt.
„Also“, fasst er schließlich zusammen, „der Selenit hat Visionen als Kraft. Er zeigt die Zukunft, allerdings nur in Ausschnitten. Allyster hat es noch nicht völlig gemeistert. Sie haben den Stein gestohlen und deswegen wächst das Risiko, dass Brenna hier stirbt. Allerdings können wir das verhindern, wenn wir vorsichtig sind. Das Problem ist, sie wissen nicht, woran genau sie sterben wird. Es heißt hier, sie fällt in eine Schlucht oder so, und Feuer hat auch etwas damit zu tun.“
„Der Drache?“, fragt Brenna mit zittriger Stimme.
„Vielleicht. Wir sollen uns erst sicher fühlen, wenn wir aus Barkan’dor heraus sind. Also, das ist unsere Mission. Wir passen auf Brenna auf und lassen sie nicht in die Nähe von irgendwelchen feurigen Abgründen.“ Elred lächelt, wie um euch Mut zuzusprechen. Doch du kannst sehen, dass er Angst hat. Angst um Brenna, die er schließlich offensichtlich liebt. Für einen Langlebigen muss es schwierig sein, mit dem vorzeitigen Tod konfrontiert zu werden.
Doch du musst stark bleiben. Für Brenna und für Elred, der von der Offenbarung so getroffen ist, als wäre sein eigenes Leben in Gefahr. Doch du hast vom Selenit gehört, der alle Versionen der Zukunft zeigt. In wie vielen davon Brenna wohl stirbt?
Wie sollst du tausend Zukünfte verhindern? Doch du wirst es einfach versuchen müssen. Sowie, den Stein zu finden und aus Barkan’dor zu fliehen.
Hoffentlich gibt es noch eine Zukunft, in der euch das gelingt!
Herzlichen Glückwunsch!
Dies ist das Canon-Ende von Karjas Part.
Lies weiter bei Kapitel 19.