Ich hörte auf zu kauen. Generell hörte in diesem Moment die ein oder andere meiner Körperfunktionen mit dem Weitermachen auf, sodass mir die Milch in den Rachen lief. Das hatte zur Folge, dass ich mich verschluckte und das Müsli in einer Wahnsinns-Fontäne quer über den Frühstückstisch spie. Dabei erwischte ich meinen Vater frontal, der aufsprang und entsetzt meinen Namen ausrief.
Zur Salzsäule erstarrt glotzte ich denjenigen an, der da neben Thomas in der Küchentür stand und mit so einer Begrüßung offensichtlich nicht gerechnet hatte.
Nighton.
Eine Vielzahl an Gefühlen stieg in mir auf, die von unbändiger Wut über Hass bis hin zu heller Freude reichte. Mein Herz begann bei seinem Anblick schneller zu schlagen, denn ich hatte es irgendwie geschafft, zu verdrängen, wie verboten gut er aussah. Nighton hatte sich nicht einen Deut verändert, jedenfalls kam mir das in diesem Augenblick so vor. Dasselbe gerade Gesicht, dieselbe gerade Nase, dieselben definierten Muskeln, die sich hier und da unter seinem grauen Shirt abzeichneten, derselbe dunkelblonde Haarschnitt, dieselbe hünenhafte Statur und die auf mich früher so magisch anziehend wirkenden, eindrücklichen, grünen Augen, die in diesem Moment auf mich gerichtet waren.
Fast wäre ich verklärt lächelnd in mir zusammengesunken, doch in der nächsten Sekunde fiel mir ein, was er mir angetan hatte.
In dem Sinne - nope.
Doppelt nope.
Das war zu viel für mich.
Ich erwachte aus meiner Starre. Ganz langsam wandte ich den Blick ab, legte den Löffel hin, erhob mich und lief schneller werdend und mein Gesicht vor ihm abschirmend an Nighton und Thomas vorbei in mein Zimmer. Dort schmetterte ich die Tür hinter mir zu und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Ich hörte meinen Vater aufgebracht nach mir rufen, doch ich reagierte nicht darauf, sondern lehnte mich gegen die Tür und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Warum war er auf einmal hier? Wegen mir? Wegen der Ghule gestern? Oder wegen dem, was ich zu Sam gesagt hatte? Nach sechs Wochen ohne Lebenszeichen? Ich wollte ihn nicht sehen, nicht mit ihm sprechen, nichts davon! Die ganze Zeit hatte ich ihm die schlimmsten Dinge gewünscht, aber jetzt, wo er da war, war auf einmal alles ganz anders – es war eben doch leichter, jemanden, den man mochte, zu verwünschen, wenn derjenige nicht anwesend war.
Was, wenn er in Selenes Namen hier war? Daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht! Am Ende würde er mich zu ihr bringen, damit sie kurzen Prozess mit mir machen konnte! Andererseits - wenn er das wirklich vorhaben sollte, dann könnte er doch weitaus weniger subtil vorgehen und einfach die Tür eintreten, mich schnappen und von hier verschwinden. Da er das noch nicht getan hatte, bestand vielleicht die Chance, dass er nichts Derartiges plante. Nur was, wenn doch?
Zu meinem übrigen Gefühlchaos gesellte sich nun auch noch Panik. Ich griff mir an den Kopf, das energische Klopfen hinter mir ignorierend und überlegte fieberhaft, was ich nun tun sollte. Unter das Bett kriechen? Blöde Idee! Mich Nighton stellen? Und dann? Vielleicht sollte ich aus dem Fenster türmen! Kurzerhand stieß ich mich von der Tür ab, sprang auf das Fenster neben meinem Schreibtisch zu und riss es auf. Im Flur konnte ich meinen Vater schreien hören.
Mit pochendem Herzen hielt ich mich am Rahmen fest und beugte mich nach vorne. Ich könnte versuchen, über die Regenrinne nach unten zu gelangen. Dass das eine selbstmörderische Idee war, daran mochte ich gar nicht denken. Doch ich musste weg von Nighton, da ich nicht einschätzen konnte, ob er mich zu Selene bringen wollte und weil ich nicht bereit war, zuzulassen, dass meine Wut auf ihn einfach so verdampfte. Nein, die musste ich mir bewahren, solange ich konnte.
An der Tür hämmerte es fordernd. Mein Dad rief: »Ich verlange, dass du sofort rauskommst! Was ist denn in dich gefahren?!«
Kurz schaute ich zurück. Dann stieg ich entschlossen auf meinen Schreibtisch, hielt mich am Rahmen fest und setzte mich in das offene Fenster, ein Bein nach draußen baumeln lassend. Tief einatmend schaute ich nach unten in die enge Gasse. Der Abgrund schien näher zu kommen. Für eine Sekunde zweifelte ich. Sollte ich das wirklich tun? War das nicht absolut dumm und leichtsinnig? Konnte ich es schaffen? Überschätzte ich hier nicht gerade meine Fähigkeiten?
Da knackte es laut im Schloss. Die Tür schwang auf und knallte in der nächsten Sekunde zu.
Ich erstarrte und kniff die Augen zu, mich mit durchgestreckten Armen am Fensterrahmen abstützend. Mir war klar, wer da gerade mein Zimmer betreten hatte. Mein Vater war es nicht. Den hörte ich überdies auch nicht mehr schimpfen. Hatte er aufgegeben?
»Du willst doch nicht wirklich aus dem Fenster klettern, oder?«
Diese dunkle, vertraute Stimme zu hören, traf mich wie ein Peitschenknall. Der Knall brachte in einer gebündelten Welle erneut alles an Gefühlen in mir hoch. Für eine irrwitzige Sekunde keimte in meinem Kopf der Gedanke, mich einfach nach rechts fallen zu lassen, doch statt dem Drang nachzugeben, krallte ich mich noch fester in das Plastik des Rahmens.
Es tat weh, ihn reden zu hören. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. Alles in mir wollte ihn verprügeln. Und dann umarmen. In der Reihenfolge? Oder andersherum?
»Komm rein, Jen, dann können wir-«
Sofort unterbrach ich ihn und fauchte erregt, jedoch ohne ihn anzuschauen: »Du nennst mich nicht Jen! Das ist Freunden und Leuten vorbehalten, die ich mag, und du gehörst zu keiner der beiden Sorten! Verschwinde, du wirst mich nicht an deine irre Dämonenbitch ausliefern!«
Nighton holte tief Luft, hob beide Hände an und behauptete mit beruhigendem Ton: »Das habe ich auch gar nicht vor. Jetzt komm bitte zurück ins Zimmer, Jennifer, du brichst dir noch den Hals.«
Verbissen blickte ich auf meine Hände. Konnte ich ihm das glauben? Eher nicht, oder? Immerhin hatte er Selene die letzten Jahrzehnte gedient und selbst gesagt, dass es nicht einfach wäre, sich ihr zu widersetzen.
Im Flur hörte ich es rumsen, aber ich versuchte, den Lärm nicht zu beachten.
»Und wenn schon! Was interessiert es dich, was mit mir ist? Und warum solltest du sonst hierauftauchen, wenn nicht auf den Befehl von ihr hin?!«
Nighton tat einen Schritt auf mich zu. Erst jetzt fiel mir auf, dass er die Tür bisher zugehalten hatte. Mit einem Mal schwappte eine Mischung aus Angst und Vorfreude über mich, darüber, er könnte mich anfassen. Aber gerade diese Mischung machte mir noch mehr Panik vor mir selbst und meiner Wankelmütigkeit. So griff ich in meiner Verzweiflung nach einem Collegeblock von meinem Schreibtisch und warf ihn in Nightons Richtung. Der Block klatschte einen Meter neben ihm auf dem Boden auf und schlitterte unter meinen Kleiderschrank. Dem Block folgten noch ein Bleistift und ein Tacker, doch auch mit diesen Wurfgeschossen traf ich nicht. Nighton musste nicht mal ausweichen. Er stand einfach da wie eine Parkuhr, schwer zu verfehlen und mir seelenruhig zuschauend.
Als ich keine Anstalten machte, mehr von meinem Schreibtischinventar nach ihm zu werfen, machte er einen weiteren Schritt auf mich zu und bat erneut mit ruhiger Stimme: »Steig da runter, dann erkläre ich dir alles.«
Ich wurde noch wütender. Durch seine Art fühlte ich mich provoziert, also schwang ich tatsächlich das Bein wieder zurück in mein Zimmer und rutschte vom Fensterrahmen runter. Nightons sichtlich erleichterter Ausdruck währte nur kurz, denn da krachte die nicht besonders stabile Holztür auf und donnerte gegen mein Bücherregal.
Überrascht schaute er über die Schulter.
In der nun offenstehenden Tür stand mein Vater, außer Atem und allem Anschein nach bereit, mich bis aufs Blut zu verteidigen. Er hielt einen Schürhaken in den Händen, den er vorne vom Kamin geholt hatte. Den richtete er zitternd auf Nighton.
Hinter ihm entdeckte ich meine Geschwister. Anna hielt sich an Thomas fest, der die ganze Szenerie aus aufgerissenen Augen verfolgte und offensichtlich nicht wusste, wohin mit sich.
»Raus aus dem Zimmer meiner Tochter! Wenn ich bis drei gezählt habe, sind Sie hier weg, sonst rufe ich die Polizei!«, brüllte mein Vater und fuchtelte mit dem Schürhaken vor Nightons Nase herum, der von dem Ganzen nicht im Mindesten beeindruckt wirkte. Im Gegenteil, der Anflug eines Grinsens zeichnete sich um seine Mundwinkel herum ab.
»Tun Sie sich nicht selbst damit weh, James«, riet er mit trockenem Unterton und trat dennoch einen Schritt von meinem Dad zurück, der sich dadurch scheinbar ermutigt fühlte und tiefer in mein Zimmer reinkam, um sich zwischen Nighton und mich zu stellen.
»So wie ich das sehe, stehen Sie aber hier uneingeladen auf meinem Grund und Boden und bedrohen meine Tochter!«
Ich beschloss, mich einzuschalten. Die Arme verschränkend und ein düsteres Gesicht machend presste ich hervor: »Er bedroht mich nicht.«
Dads Blick ruckte zu mir. Schnaufend fragte er: »Kennst du den Kerl?«
Jetzt war es an mir, zu schnaufen.
»Ja. Das, Dad, ist Nighton.«
Mein Dad wusste natürlich sofort, von wem hier die Rede war. Bei meinen Erzählungen hatte ich nichts ausgelassen, nicht mal die pikanten Details über den ehemaligen Dämon, der von Siwe dazu verdonnert worden war, ein Auge auf mich zu haben.
Er riss die Augen auf und starrte Nighton nieder. Der büßte nun doch ein wenig von seiner Contenance ein, als mein Dad auf ihn zeigte und den Schürhaken fester umfasste.
»Sie! Sie sind das, der Stalker, der unter dem Fenster meiner Tochter lauerte! Ich kenne Sie! Sie waren doch schon mal hier! Raus aus meiner Wohnung, SOFORT!«
Nighton löste den Blick von meinem Vater und schaute mich über dessen Kopf hinweg an. Ich musste woanders hinsehen. Mit nach wie vor ruhiger Stimme erwiderte er: »Na gut, ich gehe, aber dann muss ich mir Ihre Tochter ganz kurz ausborgen.«
Bevor ich oder sonst wer die Chance zum Protestieren bekam, hatte Nighton meinen Vater umrundet und mich am Arm ergriffen. Im nächsten Moment drehte sich die Welt in alle Richtungen. Dann stoppte es abrupt, zumindest außerhalb meines Körpers. Mein Magen jedoch rotierte noch einige Runden weiter. Aufstöhnend beugte ich mich vornüber, die Augen wohlwissend zukneifend. Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken, stieß sie jedoch beiseite. Erst, als das Gefühl der Übelkeit gewichen war, traute ich mich, die Augen zu öffnen und meine Umgebung in Augenschein zu nehmen.
Entgegen meiner kurz gehegten Furcht, Nighton könnte mich doch nach Unterstadt verschleppt haben, waren wir in einem alten, heruntergekommenen Tunnel gelandet. Auf dem Boden waren Gleise verlegt, was nahelegte, dass es sich um einen U-Bahn-Tunnel handelte. Wandlampen voller Spinnenweben waren entlang der Wände angebracht, doch sie spendeten kein Licht. Scheinbar waren sie kaputt. Die einzige Lichtquelle stellte ein kleines Loch an der Decke dar, durch das mehrere Sonnenstrahlen Sprenkel auf den schmutzigen Boden warfen. Es roch muffig und es war kühl. Wo waren wir hier gelandet? Und war das überhaupt wichtig gerade? Eigentlich ja nicht. Mich interessierte nämlich viel mehr, was sich dieser gottverdammte Penner einbildete.
Das würde ich jetzt herausfinden, und er konnte sich warm anziehen.