»Jen! Aufwachen!«
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, blinzelte und schaute umher. Nighton stand über mir, sich mit den Knöcheln auf der Couch abstützend, schon vollständig angezogen und bereit für was auch immer.
»Müssen wir los?«, fragte ich verschlafen und streckte mich.
Sein Gesicht war angespannt und sein Blick wanderte immer wieder nervös zur Seite, als würde er lauschen oder auf ein Geräusch warten.
»Ja. Wir kriegen Besuch. Zieh das an«, forderte er mich auf und wies auf den grauen Zweiteiler, der neben mir auf dem Ledersofa lag. Dann ging er zu einem der Fenster, wo er die Gardine ein Stück lupfte und nach draußen spähte. Ich quälte mich von der Couch und versuchte hastig, die feuchte Laborkleidung anzuziehen. Besuch? Das klang gar nicht gut! Währenddessen beobachtete Nighton mich mit einem Blick, der irgendwo zwischen Besorgnis und Bewunderung schwankte. Es war etwas seltsam und ungewohnt, dass er mich so ansah, aber es machte mich auch ein bisschen stolz.
Als ich fertig war, winkte er mich zu sich und begann, leise zu sprechen. Dabei ließ er die Umgebung außerhalb des Hauses nicht aus den Augen. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind streifte nach wie vor wie ein hungriges Raubtier um das verlassene Bauernhaus.
Leise eröffnete Nighton mir: »Die Menschen haben uns aufgespürt. Da draußen sind etwa zwanzig von denen, gut bewaffnet, wenn ich das richtig höre. Entweder ich gehe auf direkten Konfrontationskurs oder wir schleichen uns raus und umgehen sie. Was denkst du?«
Ich blinzelte verwirrt.
»Fragst du mich gerade echt, was wir tun sollen?«, fragte ich, nicht ganz sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
Nightons Mundwinkel zuckten leicht und er nickte einmal. »Ich übe taktisches Vorgehen lieber mit dir an Menschen als an Dämonen. Also, was sagst du? Der Trupp kommt näher. Beeil dich, du hast nicht mehr viel Zeit.«
Ich war überfordert. Flucht oder Kampf?
»Direkt draufhauen?«, stotterte ich, unsicher, ob das wirklich die beste Idee war. Nighton dachte kurz nach, bevor er zustimmte. »Gut. Dann machen wir es so.«
»Oder? Ich weiß nicht!« Meine Unsicherheit explodierte, während ich die Hände hob, aber in diesem Moment knarzte die Veranda schon bedrohlich. Die Haustür flog auf, krachte gegen die Wand, und ein Loch splitterte in das Holz.
Bevor ich irgendetwas tun konnte, stürmten mehrere schwarz gekleidete Soldaten in den Raum. Ich hörte das Klicken der entsicherten Waffen, doch Nighton reagierte schneller, als ich es je könnte. Seine Hand packte meinen Arm, und ich spürte, wie er mich mit sich riss, in Richtung des Arbeitszimmers. Meine Füße rutschten auf dem Teppich, und ich hätte mich fast langgelegt, als er mich hinter sich herzog.
Das Brüllen der Soldaten hallte hinter uns her. Sie waren uns dicht auf den Fersen. Aber dann – und ich schwöre, ich konnte nicht mal blinzeln – stand Nighton plötzlich am Kühlschrank. Mit Leichtigkeit hob er das schwere Küchengerät aus seiner Einbuchtung, als wäre es ein Pappkarton. Dann schleuderte er ihn mit brutaler Wucht direkt auf die Soldaten. Der Kühlschrank schoss förmlich an mir vorbei, so dicht, dass ich den Luftzug spürte, und krachte in die Soldaten, die in einem chaotischen Durcheinander zu Boden gingen. Knochen brachen, der Lärm und die Schreie war grauenhaft, doch ich konnte nicht mal richtig darüber nachdenken. Alles ging so schnell.
Nighton war sofort wieder bei mir, trat einem der Soldaten das Gewehr aus der Hand, schnappte sich die Waffe und zog mich mit sich in Richtung Haustür.
Draußen auf der Veranda blendete uns grelles Licht. Mehrere Jeeps standen im Halbkreis um das Haus, alle mit Scheinwerfern bestückt, die auf uns gerichtet waren. Nighton knurrte gereizt und hob die Hand, um sich vor dem Licht zu schützen.
»Letzte Chance, sich zu ergeben!« Eine Stimme schnitt durch das Chaos. Sie zitterte, und ich kannte sie nicht. Aber sie gehörte weder Kellahan noch diesem Ajax, was ich für ein gutes Zeichen hielt. Da streckte Nighton mir auf einmal das Gewehr entgegen. Was? Ich starrte ihn ungläubig an. Was zum Teufel sollte ich mit dem Ding anfangen?
Er ignorierte meine Verwirrung. »Wollte ich selbst gerade sagen!«, rief er dem Sprecher entgegen, während er das Gewehr noch einmal nachdrücklicher in meine Richtung schob. Zögerlich nahm ich es, völlig überfordert. Dann wies er auf die Tür.
Plötzlich krachte eine Kugel in das Holz neben mir, und ich schrie auf, als Splitter mir die Haut ritzten. Mein Herz raste. Hatten die gerade wirklich auf mich geschossen?! Ohne nachzudenken, flüchtete ich zurück ins Haus, das Gewehr in der Hand wie ein Fremdkörper.
»Scheinwerfer!«, war das letzte, was Nighton mir zurief, bevor er in die Dunkelheit verschwand. Sekunden später ertönte Geschrei, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Einer der Jeeps flog durch die Luft und krachte auf den nächsten. Metall verbog sich, Reifen explodierten – das war Wahnsinn.
Ich stand in der Dunkelheit des Hauses, direkt neben der Tür an die Wand gepresst, völlig benommen von dem, was gerade passierte. Nighton – wollte er wirklich, dass ich die Waffe benutzte? Dass ich mitkämpfte? Das war doch nicht der Nighton, den ich kannte.
Ich hob das schwere Gewehr an – oder versuchte es zumindest. Doch es rutschte mir sofort aus den Händen. In der Sekunde schlug ein Kugelhagel durch die offene Tür, und ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, mich zur Seite zu werfen. Ich landete hart auf dem Boden und versuchte, mich ganz klein zu machen. Panik überrollte mich, während alles in meiner Nähe regelrecht zerfetzt wurde. Wie durch ein Wunder verfehlten mich alle Geschosse.
Draußen herrschte pures Chaos. Scheinwerfer gingen flackernd aus, als Nighton zwischen den Fahrzeugen wütete. Metallteile flogen, Menschen schrien, und alles, was nicht festgenagelt war, wurde durch die Luft gewirbelt. Es war fast surreal. Nighton brauchte mich gar nicht, um dort draußen aufzuräumen. Die Situation kam mir wie ein schlechter Film vor. Ich hatte ja nicht mal einen Schimmer, wie man überhaupt ein Gewehr benutzt! Wahrscheinlich hätte ich mir selbst in den Fuß geschossen.
Plötzlich wurde es still. Diese Art von Stille, die dich fast noch nervöser macht als der Lärm vorher. Doch da tauchte Nighton unvermittelt neben mir auf. Ich erschrak, verspürte aber direkt daraufhin Erleichterung, als ich erkannte, dass er unverletzt war. Grasbüschel und Motoröl klebten an ihm, was ihn etwas wild wirken ließ. Er hielt mir eine Hand hin und half mir vom Boden auf. »Bist du okay?«
»Abgesehen davon, dass ich fast in Stücke geschossen wurde? Klar!« Ich versuchte, meinen zitternden Atem zu beruhigen. »Wie kommst du auf die Idee, dass-«
Doch bevor ich weitersprechen konnte, drehte Nighton den Kopf. Seine Augen scannten das Gelände außerhalb des Hauses, und ich spürte die Anspannung in ihm wachsen. Was jetzt? Das Knurren des Donners in der Ferne verriet mir, dass nicht nur ein Gewitter im Anmarsch war.
»Wie viele kommen da noch?«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir, während er ein paar Erdklumpen von seinem Arm schüttelte. Ohne Vorwarnung packte er mich und schob mich nach vorne. »Wir müssen hier weg.« Seine Stimme klang entschlossen, und ich hatte keine Wahl, als ihm zu folgen.
Wir rannten über den matschigen Boden, und die Trümmer der zerstörten Geländewagen tauchten vor uns auf. Unter den zerbeulten Wracks hörte ich das Stöhnen von Verletzten. Nighton schenkte ihnen keine Beachtung, und ich auch nicht. Auf dem nassen Grasboden waren tiefe Furchen zu sehen, die die Geländewagen beim Heranfahren verursacht hatten. Schlammiges Wasser stand in ihnen, das mir beim Darüberlaufen die Beine hochspritzte. Es war eisig, und ich spürte, wie mir die Kälte in die Knochen kroch. Doch noch war der Moment zum Durchatmen nicht gekommen. Hinter uns hörte ich das bedrohliche Dröhnen von Motoren – neue Geländewagen, die uns im Dunkel verfolgten.
»Nighton, da sind noch mehr!«, keuchte ich hektisch und versuchte, mit Nighton Schritt zu halten, was wirklich schwer war. Er hatte sich mir zwar angepasst, war aber trotzdem schneller. Deutlich schneller. Das schien auch Nighton als Problem zu erkennen. Bevor ich realisieren konnte, was passierte, packte er mich und hievte mich auf seinen Rücken. Ein überraschter Laut entfuhr mir, aber er setzte sofort zum Sprint an. Der Boden raste unter uns hinweg, und der Wind peitschte mir ins Gesicht. Alles verschwamm zu einem einzigen, schnellen Strudel aus Schatten, kaltem Wind und nassem Gras.
Ich klammerte mich verzweifelt an Nightons Schultern fest, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Die Geschwindigkeit war verrückt, und mein Kopf drehte sich. Doch bevor ich mich an das atemberaubende Tempo gewöhnen konnte, hielt er abrupt an.
»Warte-« Ich taumelte, als er mich absetzte, versuchte mich zu fangen, doch der Boden unter mir fühlte sich plötzlich so weit weg an. Als ich wieder festen Stand fand, hob ich den Kopf und sah, warum Nighton so abrupt gestoppt hatte.
Vor uns lag das Helikopterfeld, eingerahmt von unauffälligen kleinen Steinen. Doch statt eines freien Zugangs zu der Teleportplatte, erwartete uns eine Front bewaffneter Männer. Etwa dreißig Soldaten standen dort, schwarz gekleidet und hinter Blockaden verborgen, die Waffen auf uns gerichtet. Das Lythr – unsere einzige Fluchtmöglichkeit – befand sich direkt hinter ihnen. Der Wind wurde stärker, pfiff über die kahle Ebene und trug eine unheilvolle Kälte mit sich. Niemand rührte sich. Die Soldaten standen wie Statuen, und Nighton verharrte angespannt neben mir, die Fäuste geballt. Er wirkte ruhig, viel zu ruhig, während ich besorgt an seinem Ärmel zupfte. Was zum Teufel ging hier vor?
Plötzlich brach die Stille. Die Soldaten teilten sich, und ein Mann trat vor. Im fahlen Mondlicht erkannte ich ihn sofort. Ajax. Er hatte die Überflutung überlebt, wie es aussah. Seine Haltung war selbstbewusst, richtig überheblich, und die anderen Soldaten brachten ihm beinahe angsterfüllte Erfurcht entgegen. Wer war er? Er war doch nur ein Mensch, oder? Warum hatten alle so Angst vor ihm? Weil er der Sohn von diesem ominösen Turano war? Oder steckte doch mehr dahinter?
Da öffnete Ajax den Mund. Keine Megafon, kein Geplänkel. Er sprach einfach direkt.
»Hybrid.« Seine Stimme war ruhig, kalt und präzise. »Schluss mit dem Aufstand. Ergib dich. Du weißt, dass du keine Wahl hast.«
Nighton drehte sich leicht, während sein Blick Ajax fixierte. Ich konnte die Spannung in der Luft förmlich spüren, als hätte jemand eine unsichtbare Saite zum Zerreißen gespannt.
»Keine Wahl?« Nightons Stimme war ein tiefes Grollen. »Für wen hältst du dich eigentlich, Mensch?«
Ajax verzog keine Miene. »Ich bin kein Mensch. Aber genug der Spielchen. Entweder du kommst freiwillig mit oder...«
Nighton ließ ihn nicht ausreden. Plötzlich schoss er nach vorne, so schnell, dass ich kaum folgen konnte. Er war ein Schatten, eine Welle aus roher Energie, die direkt auf Ajax zuprallte. Doch bevor er ihn erreichen konnte, krachte eine Säule aus gleißender Helligkeit vom Himmel herab und traf den Erdboden mit solcher Wucht, dass es mich und alle anderen fast umwarf. Erde und Gras wurden in alle Richtungen geschleudert, und ein donnerndes Grollen ließ den Boden erbeben.
Ich keuchte überrascht auf, und Nighton, der von seinem geplanten Angriff abgelassen hatte, zog mich instinktiv hinter sich, seinen Arm schützend vor mir ausbreitend. Als der Lichtstrahl allmählich verblasste, wurde die Silhouette eines Mannes sichtbar. Ich erkannte ihn sofort und sog erleichtert und erstaunt zugleich die Luft ein. Es war Michael. Er stand da, riesengroß, eingehüllt in seine glänzende Rüstung, sein Schwert locker über die Schulter gelegt. Seine Flügel – mächtig und goldschimmernd – ragten weit aus seinem Rücken heraus und umgaben ihn wie ein strahlendes Schutzschild. Er sandte einen finsteren Blick umher.
Für einen Moment herrschte totale Stille. Dann befahl Ajax mit fester Stimme: »Zugriff!«
Das Klicken der Gewehre hallte über das Feld, und ein Kugelhagel prasselte auf Michael nieder. Aber der Erzengel bewegte sich keinen Millimeter. Die Kugeln prallten von ihm ab wie Wassertropfen von einem Felsen, Funken sprühten durch die Luft, und es sah aus, als hätte ihn der Angriff nicht einmal gekratzt.
Fünfzehn Sekunden lang ließ er das Feuer über sich ergehen, dann hob er langsam den Kopf. Ohne ein Wort sprach er Bände.
Ajax hob die Hand. »STOPP!« Das Feuer erstarb, und die Soldaten blickten verwirrt und unsicher auf den Erzengel. Nighton und ich tauschten einen kurzen, besorgten Blick. Was würde jetzt passieren?
Michael kniff die Augen zusammen und schob das Visier seines Helmes herunter, bevor er leicht in die Knie ging und die Flügel enger an seinen Körper zog. Dann, mit einer kraftvollen Bewegung, stieß er sich vom Boden ab und schoss in die Luft. Er drehte sich in einer schraubenförmigen Bewegung, bevor er hoch über die Soldaten hinwegflog. Panik brach aus. Soldaten warfen sich zu Boden, Ajax bellte Befehle, doch niemand konnte das Chaos noch bändigen.
Bevor ich realisierte, was geschah, war Michael direkt über uns. In einem blitzschnellen Manöver landete er vor mir und Nighton, packte uns beide an den Schultern und riss uns mit sich in den Himmel.
Ein schriller Schrei entkam mir, als ich den Boden unter den Füßen verlor. Die Welt um mich herum verschwamm in einem Strudel aus Licht, Wind und Höhe. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, während ich verzweifelt versuchte, mich zu orientieren.
Dann wurde alles hell, sodass ich nichts mehr sehen konnte. Es fühlte sich an, als würde ich mit rasender Geschwindigkeit durch den Himmel gezogen werden, ohne oben oder unten zu spüren. Wie ein Strudel aus Licht, der mich verschluckte. Im nächsten Moment war da harter Boden unter meinen Füßen - das kam so abrupt, dass meine Knie einknickten. Ich stolperte, versuchte mich zu fangen, während Nighton neben mir selbst ins Straucheln geraten war. Er drehte sich weg und stützte sich an der kalten, steinernen Mauer des Himmelsturms ab, in den uns Michael gerade gebracht hatte. Tatsächlich sah er aus, als wäre ihm schlecht.
Michael landete elegant in der Mitte des Turms. Das Licht, das ihn umspielte, wirkte fast lebendig, wie tanzende Funken. Mit einer gereizt wirkenden Bewegung nahm er den Helm von seinem Kopf und schulterte erneut sein Schwert. Als sein Gesicht zum Vorschein kam, traf uns sein überraschend zorniger Blick.
»Was bei allen Walküren sollte das, Yindarin?!« Seine harsche Stimme durchschnitt die Luft. Kurz glitt sein Blick zu mir, und ich meinte, Erleichterung darin zu erkennen, auch wenn seine Worte scharf blieben.
»Nichts für ungut, Jennifer Ascot, ich bin froh, dich wohlbehalten wiederzusehen, aber das war so nicht geplant!« Er wies mit dem Finger anklagend auf Nighton. Der setzte in dieser Sekunde einen vernichtenden Ausdruck auf.
»Was willst du mir vorwerfen?«, knurrte er. Es sah so aus, als würde er langsam wieder die Kontrolle über seinen Magen gewinnen.
Michael schnaubte und rief: »Dass du alles in den Wind geschlagen und allein ins Feindesland aufgebrochen bist! Du kannst von Glück reden, dass Azrael entschied, uns zu informieren, weil er sich Sorgen um euch gemacht hat! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie riskant dieser Alleingang war?«
»Riskant?«, fauchte Nighton. Seine Augen blitzten vor Wut, aber auch Schmerz lag darin, ein tiefer, quälender Schmerz, der mich beinahe ansprang. »Ihr habt ewig beraten, Pläne geschmiedet, während Jennifer gefangen war! Sie wurde gefoltert, Michael! Glaubst du wirklich, ich hätte noch eine Minute länger gewartet?«
»Nighton«, begann Michael seufzend, aber etwas sanfter, »du hast dich kopflos in ungewisse Gefahr begeben, und das, ohne uns einzuweihen. Das sind keine gewöhnlichen Menschen, gegen die es zu bestehen gilt. Es hätte dich das Leben kosten können, und Jennifer auch. Du bist nun der Yindarin, es ist deine Aufgabe, zu überleben! Das war unverantwortlich.«
»Was hätte ich tun sollen?« Nightons Stimme zitterte jetzt. »Zusehen, wie ihr tagelang darüber redet, wie ihr sie retten wollt, während sie leidet? Während jede Stunde zählt? Michael, ich… sie ist alles für mich.« Seine Stimme brach, und in mir stieg ein warmes Gefühl auf, das mich völlig überwältigte. Gleichzeitig schnürte mir das Gesagte die Kehle zu. Die Hingabe, die in seiner Stimme mitschwang, erinnerte mich an Signe, die Frau, die er auf so grausame Art und Weise verloren hatte. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich musste mich zusammenreißen, nicht loszuheulen. Dafür war jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt.
Michael schien die Intensität hinter Nightons Worten ebenfalls zu spüren. Seine strenge Haltung löste sich, und er schaute ihn an, als würde er etwas erkennen, das er bisher übersehen hatte. Er seufzte erneut leise, dann senkte er den Blick.
»Ich verstehe«, murmelte Michael. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber ich hörte den Wandel darin. Er sah Nighton an, wirklich an, als hätte er gerade erst verstanden, wie wichtig ich ihm war. »Aber du hättest uns informieren müssen. Wir hätten dir geholfen. Du bist nicht allein, Yindarin. Du bist nun einer von uns, wann wirst du das endlich akzeptieren?«
Nighton schwieg, und für einen Moment lag da etwas wie Erleichterung auf seinem Gesicht, auch wenn die Anspannung noch nicht völlig verschwunden war.
Michael beendete die rührselige Atmosphäre, indem er sich räusperte und auf sein Schwert stützte. Mir einen raschen Blick zuwerfend, verkündete er: »Nun, da wir das geklärt haben - Yindarin, Meister Tharostyn verlangt nach dir, und auch die Oberste möchte dich sehen.«
Nighton zog eine Grimasse. »Ich werde erst-«
»Jetzt, Yindarin. Ich würde keinen von beiden warten lassen.«
Nighton stöhnte auf und sah dann zu mir herüber. Ich fing seinen Blick auf und versuchte, ein aufmunterndes Lächeln aufzusetzen, obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn er bleiben würde. »Ist doch okay, geh lieber mit. Wir sehen uns später«, sagte ich.
Michael nickte und fügte hinzu: »Ich werde Jennifer Ascot zurück nach London in das Domizil meines Bruders geleiten. Ich habe ohnehin noch einiges mit Azrael zu bereden, schließlich hat er uns lang gemieden. Und keine Angst, Nighton, bei mir ist sie sicher.«
Nighton, sichtlich widerwillig, gab sich geschlagen und brummte: »Na gut.« Er trat näher an mich heran, und obwohl alles in mir kribbelte, als er mir einen sanften Kuss auf die Stirn drückte, hielt ich mich tapfer. Ich lächelte, wollte ihm zeigen, dass es wirklich in Ordnung war.
»Bis später«, murmelte er schief lächelnd, berührte mich am Kinn und verließ den Turm, während Michael und ich zurückblieben.