Die Haustür fiel hinter mir ins Schloss, während Evelyn mir weiter ohne Punkt und Komma die Ohren zuschwallte. Ihre Stimme war allerdings längst zu einem zusammenhanglosen Summen in meinem Kopf geworden, wie das Hintergrundrauschen eines Fernsehers. Ich nahm sie einfach kaum wahr. Meine Finger krallten sich um die Träger meiner Tasche, die schwerer schien, als sie eigentlich sein dürfte. Schuld daran waren der nigelnagelneue Mutterpass, die Prospekte und diese beknackte Liste mit irgendwelchen breit lächelnden Hebammen samt Telefonnummern. All diese Sachen wogen wie Zentner, und sie zogen mich langsam nach unten.
Ehrlich gesagt fühlte ich mich wie in einem schlechten Film. Alles ging auf einmal so schnell! Gestern noch hatte ich einen Nervenzusammenbruch aus dem Bilderbuch gehabt, als es darum ging, reinen Tisch mit Nighton zu machen – und heute hatte mich meine Gynäkologin zwischengeschoben, da zufällig gerade jemand abgesagt hatte. Ich hatte diesen Termin auch dringend gebraucht, denn Nighton hatte mir erklärt, dass wir schnellstmöglich wissen mussten, wie weit ich war, damit ich den Übertragungszeitpunkt nicht verpasste. Der lag laut ihm in der dritten Woche des dritten Monats, und wie der Zufall es so wollte, befand ich mich nur zwei Tage von Beginn dieses Zeitraumes entfernt. Wie ich das fand? Keine Ahnung. Wie gesagt, gestern noch war ich bereit gewesen, alles zu beenden, dann hatte ich mich quasi über Nacht mit dem Gedanken angefreundet, dass da ein Baby-Yindarin in mir wuchs, und in wenigen Tagen schon wäre es wieder vorbei. Habe ich schon gesagt, dass mir das alles zu schnell ging?
»… ich verstehe nicht, warum die überhaupt noch Praxiszeiten anbieten, wenn die eh ständig überlastet sind. Aber ich schätze, das ich halt das Problem, wenn alle Leute plötzlich Babys haben wollen…« Evelyns Stimme drang zu mir durch, doch ich konnte nichts mehr erwidern. Mein Kopf war immer noch bei gestern, bei Nighton und diesem Gespräch im Bad. Bei seinen Worten, die so klar und doch schwer zu greifen waren. Wie sollte ich damit umgehen? Mit dem Kind, das ein Yindarin war? Mit allem?
Evelyn einfach im Flur stehen lassend, lief ich in die Küche, um mir einen Tee aufzusetzen. Während ich vor dem Teeregal stand und die Sorten studierte, fiel mir plötzlich ein, dass ich eine ganze Menge Alkohol in den letzten Wochen getrunken hatte. Aufstöhnend schlug ich mir eine Hand gegen die Stirn. Jap, ich wäre eine grauenvolle Mutter geworden.
»Wenn dir jetzt zwei Nasen und drei Ohren wachsen, weißt du, dass ich dran schuld bin«, murmelte ich, bevor ich darüber nachdenken konnte. Im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass ich gerade mit dem Kind gesprochen hatte – das versetzte mir den nächsten Schock.
»Mit wem redest du?«, fragte Evelyn skeptisch, die gerade hinter mir die Küche betreten hatte. Hastig log ich: »Mit mir, wieso? Führst du nie Selbstgespräche? Solltest du mal versuchen!«
Da sah ich, wie die Schiebetür des Wohnzimmers aufglitt. Das war eine willkommene Ablenkung. Nighton erschien im Türrahmen und sah mir entgegen. Ich erwiderte seinen Blick und rang mir ein Lächeln ab. Evelyn sah zwischen uns beiden hin und her, schien zu spüren, dass etwas in der Luft lag. Im nächsten Moment rollte sie mit den Augen und seufzte theatralisch. »Ich will es unbedingt nicht wissen, was bei euch jetzt schon wieder vorgefallen ist. Lasst mich da raus.«
Nighton wandte ihr seinen kühlen Blick zu. »Überhaupt kein Thema. Ich wollte dich und die anderen beiden sowieso auf Patrouille schicken.«
»Was? Aber-« Evelyns Einwand wurde mit einem Blick von Nighton abgeschmettert. Daraufhin verschränkte sie die Arme und giftete: »Natürlich. Patrouille. Weil wir ja sonst nichts Besseres zu tun haben.« Damit rauschte sie geräuschvoll nach oben in den ersten Stock, wo ich eine Zimmertür knallen hörte.
Nighton sah wieder zu mir. Er lächelte ebenso zaghaft zurück. »Komm her, wir haben Besuch.«
Überrascht hob ich die Augenbrauen an und stellte die Teedose ab. Besuch? Warum hatte Evelyn nichts gesagt? Sie hatte das doch bestimmt bemerkt, als wir auf dem Weg nach Harenstone gewesen waren. Mit einem tiefen Atemzug trat ich ins Wohnzimmer – und blieb wie angewurzelt stehen.
Da saßen zwei Frauen auf einem der Sofas. Es waren Mrs. Washington und Mrs. Moore – die beiden Gestaltwandlerinnen. Pearl hatte ich zuletzt gesehen, als Sam und ich bei ihr gewesen waren, doch Mrs. Moore … sie war noch während meiner Zeit in Dun’Creld zurück nach Oberstadt gegangen. Nun aber saß sie hier so, wie ich sie in Erinnerung behalten hatte. Klein, das graue Haar zu einer praktischen Frisur gebunden. Ihre blassen Augen wirkten freundlich, aber aufmerksam, und ihr Gesicht – wie oft hatte ich es als Kind gesehen? Wie oft hatte sie für mich Kekse gebacken, wenn ich meine Hausaufgaben bei ihr gemacht hatte?
Sie sah auf, als ich eintrat, wie Pearl, die mir breit entgegenlächelte, so wie ich es von ihr kannte. Sie trug wie immer einen kunstvollen Afro und irgendwelche traditionell angehauchten Gewänder aus Afrika. Auch so, wie ich es von ihr kannte.
Nighton setzte sich auf das Sofa gegenüber und stützte sich mit den Unterarmen locker auf seinen Oberschenkeln ab. Er wandte mir ebenfalls seinen Blick zu, und als ich ihn ansah, konnte ich förmlich spüren, wie er innerlich kämpfte, nicht sofort nach dem Arztbesuch zu fragen. Seine Augen verrieten alles, auch wenn seine Haltung das Gegenteil behauptete. Eine stumme Frage schien zwischen uns zu schweben, die er sich jedoch verkneifen musste, weil wir nicht allein waren.
Das alles schoss mir durch den Kopf, während ich wie erstarrt dastand. Ich verstand gar nichts. Was taten die beiden hier? Mein Blick huschte zurück zu den Gestaltwandlerinnen, die sich kein bisschen fehl am Platz fühlten. Im Gegenteil. Pearls Lächeln wurde nur noch breiter, während Mrs. Moore ein Blatt in der Hand drehte, als würde sie darauf warten, mir etwas vorzulegen.
»Jen.« Nightons Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie war ruhig, aber fest – eine Anweisung, kein Vorschlag. »Jetzt komm schon rein und setz dich.« Er klopfte neben sich auf das Sofa. Dafür, dass er so ruhig klang, verriet mir sein Gesichtsausdruck, dass er ebenso angespannt war wie ich. Was zur Hölle war hier los? Hatte ich etwas verpasst?
»Hallo Pearl. Mrs. Moore«, murmelte ich und ließ mich langsam neben Nighton auf das Sofa sinken, ohne Pearl oder Mrs. Moore aus den Augen zu lassen.
»Hallo Liebes«, begrüßte Pearl mich warmherzig, und auch Mrs. Moore schickte mir ein breites Lächeln, erwiderte aber: »Nana, über diese Anrede sind wir doch hinaus. Du weißt sicher, dass ich nicht wirklich verheiratet war. Nenn mich einfach Amanda. Das genügt.« Ich nickte verhalten, und mein Herz schlug etwas schneller, als es sollte. Aus dem Augenwinkel spürte ich Nightons Blick auf mir lasten. Und als hätte er meine Unruhe gespürt, hob er die Hand, seine flache Handfläche mir entgegengestreckt. Einen Moment zögerte ich, dann griff ich danach und verschränkte meine Finger mit seinen. Er ließ unsere Hände sinken, bis sie auf dem Sofa zwischen uns ruhten, und übte dabei einen sanften Druck aus – eine Art stumme Versicherung, dass er für mich da war. Das war der erste Körperkontakt, den er seit gestern suchte. Ich versuchte, auf sein Signal zu vertrauen, und zwang mich zu einem nervösen Lächeln.
Dabei entging mir nicht, wie Pearl und Mrs. Moore – Amanda – einen Blick wechselten. Pearls Mundwinkel zuckten belustigt, während Amanda mit einem kaum verhohlenen Schnauben den Kopf schüttelte.
»Du hast mir zwar erzählt, wie die Dinge jetzt liegen, liebe Pearl, aber das selbst zu sehen…« Sie seufzte theatralisch und schüttelte den Kopf, sich in die Kissen zurücklehnend. »Es ist ja noch besser, als ich es mir vorgestellt habe.«
Nighton spannte sich an, seine Hand umschloss meine fester, und ich hielt die Luft an. Was… was meinte sie damit? Hatte er etwa erzählt-?
»Was meinen Sie – du?« Zu meinem Ärger klang meine Stimme höher, als beabsichtigt. »Was hat Nighton-« Ich brach ab, schaute zu ihm. Er runzelte die Stirn, und ich sah die Verständnislosigkeit in seinen Augen.
Amanda hob die Hand. Ihr Lächeln wurde entschuldigend. »Nein, Jennifer, beruhige dich. Es ist nur… kaum zu glauben, was ich alles verpasst habe. Ich kenne dich seit Kindesbeinen an, und jetzt bist du so anders als noch vor einem Jahr. Richtig erwachsen.«
Ich starrte sie an, völlig verwirrt, während sie Nighton mit scharfem Blick musterte. »Auch dich erkenne ich gar nicht wieder. Was waren noch deine letzten Worte an mich, bevor du sie nach Dun’Creld geschafft hast?«
Nighton knurrte leise. »Ich erinnere mich nicht«, entgegnete er brummig. Amanda hob eine Augenbraue. »Macht nichts, ich dagegen umso besser. Es war immerhin ein unerfreulicher Abschied, als du mich damals – und ich zitiere – nutzlose, verkalkte Flügelschlepperin, genannt hast. Erinnerst du dich jetzt?«
Für einen Augenblick vergaß ich mein Unwohlsein und sah mit offenem Mund zu Nighton. Auch Pearl, die bis dahin nur still zugehört hatte, prustete los. »Bei Aona, das wusste ich ja gar nicht. Du hast sie einen Flügelschlepper genannt?«
»Es war eine… angespannte Situation«, knurrte Nighton und wich jedem Blick aus.
»Angespannt?«, wiederholte Amanda. Ihre Augenbrauen wanderten hoch, und ihre Stimme triefte vor gespieltem Unglauben. »Ich war wie so oft damit beschäftigt, hinter dir herzuräumen. Und was machst du? Tauchst auf wie ein Sturm und schleuderst mir zusammen mit meiner neusten Aufgabe, dieses Mädchen eine Zeit lang zu mimen, diese Beleidigung ins Gesicht, bevor du mit deinem dämonischen Abgang alles dramatischer machst, als es hätte sein müssen.«
»Verkalkte Flügelschlepperin«, kicherte Pearl. »Das ist genial. Ich meine, so abfällig und gleichzeitig so… bildlich.«
Wieder sah ich zu Nighton. Sein Gesicht war inzwischen wie aus Stein gemeißelt, doch ich kannte ihn gut genug, um die winzigen Zeichen seines Unbehagens zu erkennen – das kaum sichtbare Zucken seines Kiefers, die Art, wie seine Finger kurz angespannt und dann wieder locker wurden.
»Ich war damals… direkt«, gab er schließlich mit eisiger Stimme zu. »Ich sehe keinen Grund, das zu bestreiten.«
»Direkt?« Amanda lachte hell auf. »Du warst eine wandelnde Katastrophe, Nighton. Aber jetzt…« Sie deutete kopfschüttelnd auf unsere immer noch verschränkten Hände. »Jetzt hältst du mit ihr Händchen. Wer hätte das gedacht?«
Pearl nickte zustimmend. »Ich konnte es auch nicht glauben. Nach all der Zeit, dem Terror!«
Nighton holte tief Luft. »Wenn ihr mit eurem Spaziergang durch die Vergangenheit fertig seid«, begann er mit einer Stimme, die so bemüht ruhig klang, dass ich wusste, sie war alles andere als das, »könnten wir vielleicht endlich über den Grund eures Besuchs sprechen? Oder habt ihr den vergessen?«
Amanda schüttelte langsam den Kopf, ihr Grinsen stand ihr dabei unverändert ins Gesicht geschrieben. »Nein, haben wir nicht, wo denkst du denn hin? Aber ich finde, nach all dem Terror, den du uns aufgebürdet hast, haben wir alle ein bisschen Unterhaltung verdient, bevor wir zum ersten Teil übergehen, findest du nicht?«
Aufstöhnend griff sich Nighton mit seiner freien Hand an die Nasenwurzel. Scheinbar war er nicht der Meinung der beiden Frauen, die sich sichtbar amüsierten. Und ich? Ich hatte keine Ahnung, was ich tun oder sagen sollte. Die ganze Situation war so seltsam, dass mein Gehirn versuchte, die Logik darin zu finden – und kläglich scheiterte. Was machten diese beiden Gestaltwandlerinnen hier, wenn nicht Nighton maximal zu blamieren? Und warum hatte ich das Gefühl, dass sie bisher noch nicht ihr volles Potenzial ausgeschöpft hatten?
Pearl lehnte sich entspannt zurück und blickte Amanda an. »Weißt du noch, wie oft James Ascot die kleine Jennifer bei mir abgab, und wie dieser durchtriebene Dämonen-Mistkerl aufgetaucht ist, um ihr zum Spaß Angst einzujagen?«
»Wie könnte ich das vergessen?« Amanda schnaubte. »Der arme kleine Schatz, völlig verängstigt, jedes Mal, wenn er diese… wie nennt man das noch mal?« Sie machte eine vage Geste mit den Händen. »Diese Schattennummer?«
»Ah, die schaurigen Dämonenaugen mit dem Dunkelheitsflackern drumherum«, warf Pearl ein, die wild nickte. »Oh ja, Jennifer war jedes Mal völlig am Ende. Ich erinnere mich noch, wie sie einmal direkt in meinen Mantel im Flur geflüchtet ist und einfach nicht mehr rauskommen wollte. Sogar Winston hat sich gefürchtet.«
Ich fühlte, wie mein Gesicht heiß wurde. Moment, was? Das war doch… okay, das war vielleicht vor ein paar Jahren gewesen, aber trotzdem! Musste das jetzt sein?
»Das war nicht…«, begann Nighton, aber Amanda schnitt ihm das Wort ab.
»Natürlich war es das. Oder willst du behaupten, dass es nicht Absicht war?« Sie funkelte ihn an, und Pearl fiel ihr sofort ins Wort.
»Und dann das Mal, als ich wegmusste und du auf sie aufpassen solltest - was wirklich kein Akt war, so klein war sie ja nicht mehr – weil du ihren Anblick nicht ertragen hast?« Sie hob eine Augenbraue. »Du hast die Kleine einfach vor die Tür gestellt – in diesem Unwetter, wohlgemerkt – mit den Worten ‚Sie soll lernen, mit solchen Kleinigkeiten umzugehen‘. Die Ärmste war patschnass, als ich sie reingelassen habe.«
»Das war Teil ihrer Abhärtung«, murmelte Nighton und sank etwas tiefer in das Sofa.
»Abhärtung?«, wiederholte Pearl höhnisch. »Wirklich? Sie war ein kleines Kind, Nighton. Und du ein frustrierter, von Selbstmitleid zerfressener Dämon, der uns allen das Leben zur Hölle gemacht hat.«
»Und weißt du noch«, setzte Amanda an, ihre Stimme klang jetzt richtig spitzbübisch, »wie er sie immer absichtlich mit diesem absurden Gehabe in den Wahnsinn getrieben hat? Oh, der Klassiker: Durch dämonische Geistschwingungen das Licht ausmachen und verschwinden, als ob es ihn nie gegeben hätte. Oder die Male, in denen er ihre Lieblingssachen absichtlich versteckt oder weggeworfen hat, damit sie ‚lernt, sich nicht an Materielles zu binden‘?«
Nighton schwieg, doch ich spürte, wie er verkrampfte. »Das war Erziehung«, presste er schließlich hervor. Amanda schüttelte wild den Kopf und korrigierte: »Nein, das nennt man Schikane, Nighton. Oder wie würdest du das nennen, Pearl, als sie ihn als Siebenjährige um eine Gutenachtgeschichte anflehte, und er ihr, anstatt abzulehnen, was deutlich netter gewesen wäre, diese Geschichte von dem Engel erzählt hat, der von Dämonenwölfen zerrissen wurde, nur weil er sich zu weit aus dem Himmel gewagt hat?«
»Jaja, das arme Kind war den ganzen Abend so verstört!« Pearl schüttelte den Kopf. »Und du, Nighton, warst dann völlig genervt, weil sie sich geweigert hat, allein zu schlafen. Das nenne ich mal ein Eigentor.«
Ich saß einfach nur da, unfähig, dazwischen zu grätschen. Wieso sprachen sie über solche Dinge, als wäre das ein Kaffeeklatsch? Wie absurd war das bitte, dass die zwei Gestaltwandlerinnen das alles hier wie eine Art Comedy-Programm ausschlachteten? Nighton tat mir leid. Aber nur ein bisschen.
Nighton atmete ein, und ich konnte fast hören, wie er innerlich bis zehn zählte. »Hört mal«, begann er langsam, und seine Stimme klang, als würde er eine rohe Klinge durch einen Schleifstein ziehen. »Können wir jetzt bitte endlich das Thema wechseln? Oder habt ihr vielleicht noch ein paar weitere Anekdoten aus eurer persönlichen Best-of-Liste zum Auspacken?«
»Oh, also wenn du so anfängst«, begann Amanda, doch da hatte ich genug.
»Hört auf«, bat ich. Alle Augen richteten sich auf mich – Pearl mit erhobenen Augenbrauen, Amanda leicht überrascht, und Nighton, dessen Miene ich nicht deuten konnte. Es fiel mir nicht leicht, mich unter den gegebenen Umständen zu behaupten, immerhin hatte ich andere Sachen, die mich gerade kümmerten, aber ich zwang mich, ihnen in die Augen zu sehen, nacheinander, ohne auszuweichen.
»Ich weiß auch, dass Nighton nicht perfekt ist. Ich weiß, dass er… Dinge getan hat, die falsch waren. Und ich weiß auch, dass er manchmal alles andere als leicht zu ertragen war und ist.« Ich sah ihn an, und ich bekam mit, wie sich seine Augen leicht verengten. »Aber er hat sich geändert. Er ist nicht mehr der, der er damals war. Und für mich reicht das.«
Ich schluckte, als ich die Worte aussprach. Mein Herz pochte so laut, dass ich sicher war, die anderen könnten es hören. Warum hatte ich das Gefühl, dass ich Nighton in Schutz nehmen musste? Er war mehr als fähig, sich selbst zu verteidigen. Aber trotzdem… ich konnte nicht länger zusehen, wie sie ihn auseinandernahmen. Nicht nach allem, was wir in den letzten Tagen durchgemacht hatten.
Pearl und Amanda tauschten einen Blick aus. Scheinbar waren beide von meinem plötzlichen Einschreiten überrascht. Auch ich wunderte mich, wo ich die Kraft hernahm. Ich atmete tief durch, umfasste Nightons Hand fester, und fuhr ruhiger fort. »Ich will nicht noch mehr Storys aus der Vergangenheit hören. Das bringt nichts. Also bitte – sagt einfach, warum ihr hier seid.«
Für einen Moment herrschte Stille. Amanda lehnte sich schließlich zurück und ließ ein kurzes Schnauben hören. »Weißt du«, begann sie mit einem Seufzen, »ich mag deinen Standpunkt. Und du hast natürlich recht. Er hat sich geändert, das ist mehr als offensichtlich. Und wir freuen uns darüber.« Sie warf Nighton einen Blick zu, der nur brummte und nicht darauf reagierte. »Aber du musst verstehen, dass wir ihm achtzehn Jahre Horror nicht einfach so durchgehen lassen. Rache ist süß, und wir hatten bisher kaum Gelegenheit dazu.«
Pearl grinste und spielte mit ihren goldenen Kreolen, bevor sie Nighton mit einem amüsierten Funkeln in den Augen ansah. »Das war nichts Persönliches, du knurriger alter Hund. Na ja, vielleicht ein klein wenig.«
Nighton brummte erneut, tiefer diesmal, und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Amanda schmunzelte, bevor sie sich zu mir wandte und nickte. »In Ordnung. Dann lasst uns darüber reden, weshalb wir hier sind.«
»Und keine Sorge, Nighton, wir fangen nicht mit weiteren Best-of-Momenten an, sonst sitzen wir morgen noch hier«, legte Pearl etwas trocken nach, womit sie Nighton ein Augenrollen und zugleich ein schwaches Grinsen entlockte.
Erleichtert lehnte ich mich zurück. Doch ich konnte nicht anders, als zu Nighton zu schielen – und ein kleines Zucken erkennen, das sich in seinem mir zugewandten Mundwinkel eingenistet hatte. In seinen Augen glomm zudem ein kaum sichtbares Zeichen von Überraschung. Mit meiner Unterstützung hatte er bei diesem Thema offensichtlich nicht gerechnet.