Nur zögerlich schlüpfte ich aus meiner Jacke und krempelte die Ärmel meines Sweatshirts nach oben, bis sie meine Ellbogen umschlangen. Dann tat ich, was die Stimmen gesagt hatten, und legte mich rücklings ins weiche Moos, hoch an das schwarze Himmelszelt starrend. Ich wusste nicht, was nun kommen würde, und war inzwischen so nervös, dass ich nur noch sehr flach atmete.
Ein Netz aus Wurzeln kroch über den Boden auf mich zu. Kurz verspürte ich den Drang, aufzuspringen und wegzurennen, doch ich unterdrückte ihn. Ein merkwürdiges Kribbeln erfasste meine Haut, als die ersten Wurzeln mich erreichten und an mir hochkletterten. Dann, wie aus dem Nichts, bohrte sich eine von ihnen tief in meinen Unterarm, sich stetig weiter vorschiebend, als wollte sie das Innenleben meines Fleisches kennenlernen. Ein scharfer Schmerz explodierte in mir, wie Feuer, das meine Arme hinaufzischte. Ich schrie auf.
Kaum eine Sekunde später geschah dasselbe an meinen Fußgelenken und an meiner anderen Hand. Es war wie ein heißes, stechendes Gefühl, das sich schnell über meinen Körper ergoss. Es packte meine Kehle, als wollte es mir die Luft rauben, und mein Schrei erstickte im Keim, wurde lautlos, wurde unhörbar.
Die Wurzeln rissen mich vom Boden und hoben mich hoch in die Luft. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Im nächsten Moment ging es rasant abwärts und ich wurde unter Wasser getaucht. Nicht mal die Gelegenheit zum Luftholen hatte ich.
Unter Wasser öffnete ich die Augen, sah mein Haar um mich herum wirbeln, fühlte das Gewicht der nassen Kleidung, das mich nach unten zog. Der Schmerz war allgegenwärtig, doch ich biss die Zähne zusammen und begann zu zählen. Jede Sekunde ein endloser Moment in der gräulichen Dunkelheit.
Ich versuchte, mich zu bewegen, doch meine Glieder waren steif, gefangen in dem unnachgiebigen Griff des Wurzelwerks. Panik stieg in mir auf, als ich den Mund öffnete, um zu schreien, aber nur Luftblasen stiegen auf. Die letzten Atemzüge verließen meine Lungen, und ein erdrückender Druck legte sich auf meine Brust. Vor meinen Augen begannen Lichter zu tanzen, mein Kopf dröhnte, und das Rauschen in meinen Ohren schwoll an und ab. Der Druck auf meinem Brustkorb wurde immer unerträglicher. Es fühlte sich an, als würde mich etwas von innen heraus zerdrücken. Ich wollte schreien, wollte entkommen, wollte sterben – aber nichts davon war möglich.
Und dann, wie aus dem Nichts, verblasste der Schmerz. Das Wasser verschwand, und vor meinen Augen formte sich eine neue Szene. Ich hörte das dumpfe Hupen von Autos, vermischt mit leiser Musik. Der Vollmond hing hoch am Himmel und beleuchtete eine Straße, gesäumt von hohen Gebäuden. Etwas an der Szene kam mir bekannt vor, doch ich konnte es nicht genau festmachen.
Eine Gestalt, gehüllt in Weiß, huschte über die Dächer wie ein Schatten. Sie wich dem Licht aus und bewegte sich mit einer grazilen Leichtigkeit, die fast übermenschlich war. Mein Blick folgte ihr, während sie in Richtung des Hyde Parks sprang. Plötzlich stand ich selbst auf einem der Dächer und spürte die Kälte der Dachschindeln unter meinen Füßen. Mein Blick richtete sich auf die Gestalt, die sich durch die Nacht bewegte, und ich wusste: Sie durfte mich nicht sehen.
Mit einem gewaltigen Satz setzte ich ihr nach und landete auf einem Dach auf der anderen Straßenseite. Sie bewegte sich schnell, und ich musste mich beeilen, um ihr zu folgen. Als sie in den Park rannte und auf den Wellington Arch zuhielt, blieb ich stehen und beobachtete. Sie legte eine Hand an den Stein und blickte nach oben, als ob sie etwas suchte. Kaum ein Blinzeln später schoss sie erneut los, auf ein mir unbekanntes Ziel zuhaltend.
Ich fühlte, wie eine fremde Kraft mich weiterzog. Mein Körper schien zu schweben, während ich durch die Dunkelheit rannte, immer den weißen Schemen im Blick. Er wusste, wohin er wollte, das war klar.
Vor einem großen, weißen Haus hielt ich an und beobachtete, wie die Gestalt an der Seite des Hauses emporkletterte und hoch oben durch ein Fenster spähte. Ich wusste, dass ich hier wohnte, tief in mir fühlte ich es. Doch die Neugier trieb mich weiter. Ich sprang hoch, packte die Mauer und rannte die Fassade hinauf, bis ich das Fenster erreichte. Vorsichtig spähte ich hinein.
Da war sie – die Frau in Weiß. Ihre Präsenz erfüllte mich mit einem Gefühl des Ekels, und ein unbändiger Hass stieg in mir auf. Wer war sie, und warum hasste ich sie so sehr? Sie kniete über einer brünetten Frau, die neben einem Mann im Bett lag. Die Frau murmelte etwas, krümmte sich, und dann hörte ich ihre Worte, leise, doch deutlich: »Möge dir ein glücklicher Lebensanfang bei deinen menschlichen Eltern beschieden sein, mein Kind. Du bist mein Vermächtnis an unser Volk, unsere letzte Hoffnung gegen die dunkle Seite und ebenso auch meine geliebte Tochter, und das wirst du immer bleiben, Jennifer Megan Ascot.«
Mein Atem stockte. Meine Gedanken rasten. Das war Siwe, meine Mutter. Sie hatte mich fortgegeben, um mich zu schützen. Doch jetzt war ich hier, und alles fühlte sich anders an. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Ungeduldig wartete ich, bis Siwe verschwand. Dann glitt ich ins Zimmer und stellte mich neben das Bett. Ich wollte schreien, wollte verstehen, aber meine Stimme war verschwunden.
»Du wirst mir gehören, Yindarin«, flüsterte ich mit einer Stimme, so kalt wie Eis und betrachtete die schlummernden Menschen, die noch gar nicht wussten, was ihnen blühte. Bald schon würde ihre heile Welt zerbrechen, und zurückbleiben würde nur der Menschenmann. Nein. Nicht der Menschenmann. Mein Dad. Oder nicht?
Meine Haare, blond und lang, fielen in mein Gesicht, und in diesem Moment erkannte ich es: Ich war Selene. Und ich hielt das Schicksal des zukünftigen Yindarin in meinen Händen.
Was, wenn er sich mir nicht anschließen würde?
Was, wenn dieser hier das schaffen könnte, woran seine Vorgänger gescheitert waren?
Was, wenn mein Plan, meinen Schergen zu benutzen, fehlschlug? Nein. ER würde mich nicht enttäuschen.
Aber ich könnte das alles auch einfach beenden, das Risiko nicht eingehen, weiterhin die Größte sein und Angst und Schrecken verbreiten, unaufhaltsam, unaufhörlich. Ja, warum eigentlich nicht? Wieso sollte ich erst achtzehn Jahre darauf warten, dass der Yindarin sich letzten Endes doch noch für die Engel entschied?
Meine Hände tasteten nach unten, zogen aus dem Nichts einen Dolch hervor – scharf, tödlich. Meine Hände hoben ihn, bereit zuzuschlagen, bereit, die Frau zu töten, meine Mutter zu töten. Doch etwas in mir zitterte, wehrte sich.
»Nein!«, schrie ich innerlich. »Ich darf sie nicht töten!«
Ein wütendes Knurren entkam mir. Meine Finger umklammerten den Dolch fester. Doch, ich musste es tun. Ich musste. Aber mein Geist kämpfte weiter. Ein innerer Kampf entbrannte, wild und unkontrolliert. Meine Hände bewegten sich wie von selbst, der Dolch senkte sich, näherte sich der Brust der Frau. Doch in letzter Sekunde schob ich meine andere Hand dazwischen, hielt die Spitze zurück.
»Sie wird leben! Lass den Dolch fallen!«
Nein, die Frau musste sterben, hier und jetzt.
Nein! Mit aller Macht warf ich mich gegen den fremden Willen an und versuchte, den Dolch loszulassen. Ein wilder innerer Kampf entbrannte. Unkontrolliert griff ich mir ins Gesicht und meine Hände berührten unbekannte glatte Haut und fremde Konturen. Ein letzter Schrei, ein letzter Widerstand – und dann zersprang die Szene in tausend Wassertropfen. Ich wurde zurückgeschleudert, landete unsanft im Moos. Der Schmerz durchfuhr mich, als sich die Wurzeln mit brutaler Kraft aus meinen Gliedern zogen.
Das Wispern begann erneut, und als ich die Augen öffnete, sah ich Wassertropfen auf mich zurollen, die meine Wunden heilten.
»Du hast die Prüfung bestanden«,
verkündete Aona, während ein sanfter Regen aus Wassertröpfchen auf mich niederfiel.
»Richte dich auf und empfange unsere Gabe.«
Meine Beine waren schwach, mein Körper zitterte, doch ich stand auf. Die Verflechtung zwischen den Bäumen öffnete sich und ein rotglühender Faden schwebte auf mich zu, drehte sich, funkelte. Er legte sich in meine Handfläche, und ich spürte die Hitze, die von ihm ausging.
»Koste«,
hauchten Aona und Erakhlén gleichzeitig.
Ich starrte auf die dickflüssige, dunkelrote Flüssigkeit, die sich in meiner Handfläche gesammelt hatte. War das Blut? Mein Mund fühlte sich trocken an, während mein Hirn verzweifelt versuchte, einen anderen Weg zu finden. Musste ich das trinken? Der Gedanke raste durch meinen Kopf, aber bevor ich auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen konnte, es abzulehnen, streckte Aona einen ihrer Zweige aus und berührte mich sanft an der Hand, um sie nach oben zu drücken.
Ich verstand. Mit zitternden Fingern führte ich die Hand vorsichtig zum Mund. Die Flüssigkeit roch metallisch, wie Rost, der lange im Regen gelegen hatte. Ein Schauder lief mir über den Rücken, doch ich wusste, es gab keinen Weg zurück. Ich kippte die Flüssigkeit in meinen Mund, und sie brannte wie flüssiges Feuer meine Kehle hinunter. Ich wollte würgen, konnte es aber nicht. Meine Zunge kribbelte, als hätte ich auf Elektrizität gebissen, und mein ganzer Körper schien für einen Moment in Flammen zu stehen. Dann verschwand das Gefühl so schnell, wie es gekommen war. Eine trügerische Wärme breitete sich in meiner Brust aus, und ich atmete erleichtert aus, überrascht, dass ich überhaupt noch atmen konnte. War das alles?
»Nun hast du von unserem Herzblut gekostet, Jennifer Ascot«, erklärte Erakhlén, seine Stimme tief und dröhnend wie Donner, »und trägst unser gesegnetes Blut mit dir. Dies ist eine der Voraussetzungen, damit die Seelen hoch oben beim Wolkentor dein Flehen erhören und dir einen neuen Yindarin schenken.«
»Was... was habe ich gerade gesehen? War das real? Ist es so damals wirklich passiert?«, platzte es aus mir heraus, bevor ich die Frage zurückhalten konnte.
Aona und Erakhlén schwiegen für einen Moment, und ich spürte, wie die Luft um mich schwerer wurde. Schließlich sprach Aona, ihre Stimme leise und doch eindringlich.
»Die Oberste Selene, Blut von unserem Blut, wie du nun, hat deine Menschenmutter in derselben Nacht aufgesucht wie deine leibliche Mutter. Alles, was du sahst, geschah wahrheitsgetreu, bis auf den inneren Kampf, den ihr euch soeben geleistet habt. Wir sahen, was sie sah, wir sehen nun auch das, was du siehst, und zeigten dir durch ihre Augen, wie sie deiner Mutter folgte, die das nicht bemerkte.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Warum hatte ich das nicht gewusst? Warum hatte niemand davon gesprochen? Und wie hatte meine Mutter, ein so mächtiger Engel, nicht merken können, dass Selene ihr auf den Fersen gewesen war?
»Aber«, fuhr Aona fort, »den Schluss hast du selbst bestimmt. Selene hatte niemals wirklich vor, dich zu töten. Dies war deine Prüfung, sie davon abzuhalten, deine Menschenmutter und dich zu vernichten. Hättest du versagt, wärst du nicht mehr hier. Es wäre ein folgenschwerer Eingriff in die Vergangenheit und damit in die Zukunft gewesen.«
»Ich verstehe«, murmelte ich, obwohl ich es nicht wirklich tat. Auf einmal begann Erakhlén grummelnd mit seinem Geäst zu knarzen und zu knacken.
»Nun geh, Menschenmädchen. Wir sind müde. Suche in dir nach den Antworten und merke dir eins: Der Yindarin besitzt eine dunkle Vergangenheit. Achte auf dein Herz.«
Der Yindarin besitzt eine dunkle Vergangenheit. Die Worte hallten in meinem Kopf wider, während ich langsam zurücktrat. Dunkelheit in Nighton – das war nichts Neues. Aber wieso erwähnte der Baum das? Was wollte er mir wirklich sagen? Noch bevor ich die beiden fragen konnte, was das alles bedeutete, verstummten ihre Stimmen und das pulsierende Licht, das von ihren Ästen ausging, verblasste langsam. Ich blieb alleine zurück, die brennenden Fragen in meinem Inneren, die keine Antworten fanden. Mit einem Mal wurde ich müde. Sehr, sehr müde. Erschöpft sackte ich auf die Knie, da mir auch noch schwindelig wurde. Meine Lider sanken hinab, als wären Gewichte an ihnen befestigt, und bevor ich mich versah, kippte ich auf die Seite.
Alles wurde schwarz.
Etwas Kaltes kitzelte meine Wange. Feuchtes Gras. Und da war noch etwas – ein Gefühl von Druck und Wärme um meinen Oberkörper, das mir angenehm bekannt vorkam. Ich blinzelte und öffnete die Augen. Über mir sah ich den Himmel, dunkel und unendlich, durchbrochen von den blinkenden Augen der Sterne. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte mich jemand mit einem Hammer getroffen, und für einen Moment wusste ich nicht, wo ich war. Die Erinnerung an die Bäume und das brennende Blut schien nur ein entfernter Traum zu sein.
Eine tiefe Stimme drang durch den Nebel in meinem Kopf. Sie klang besorgt. Dazu gesellte sich eine Hand, die über meine Wange strich.
»Jennifer? Hey, komm schon, wach auf!«
Ich blinzelte erneut und erkannte die Silhouette von Nighton, der sich über mich beugte. Seine Mimik war angespannt vor Sorge. Er saß mit mir in den Armen auf dem Boden, und die feuchte Kälte des Grases unter mir und die drückende Hitze seines Körpers neben mir bildeten einen seltsamen Kontrast.
»Nighton?«, murmelte ich, noch immer benommen, und versuchte, mich aufzusetzen.
Erleichtert atmete Nighton aus und stieß hervor, mir dabei helfend: »Ich dachte schon!«
Ich suchte nach Gleichgewicht. Sobald ich aus eigener Kraft heraus saß, sah ich mich um und bemerkte Tharostyn, der ganz in der Nähe auf seinem kleinen Hocker thronte, völlig entspannt, als hätte er sich nie einen einzigen Gedanken um mich gemacht. Hinter ihm ragte der Umriss des Löwenkopfs auf, der von den brennenden Fackeln ringsum immer noch stellenweise erhellt wurde.
Mein Kopf dröhnte noch immer, und ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Was war passiert? Die Erinnerung kam zurück, langsam, wie ein Schleier, der sich lüftet. Die Bäume, Aona und Erakhlén, ihr Herzblut, die Hitze, die meine Kehle hinunterbrannte... Aber wie war ich hergekommen?
»Was ist passiert? Eben war ich noch ... da unten!«, fragte ich matt. Neben mir hörte ich es knurren, und als ich den Kopf wandte, sah ich, dass Nighton ziemlich wütend dreinsah.
Er presste hervor: »Was 'da unten' passiert ist, wüsste ich selbst gerne, aber hier oben gab es einen Knall in drei Metern Höhe, und ehe ich mich versehe, fällst du aus einer Luftspalte! Wenn ich nicht hier gewartet und da gestanden hätte...«
Ich öffnete schon den Mund, aber Nighton war noch nicht fertig. Erregt rief er: »Jennifer, was zum Teufel ist passiert? Was ist unter den Felsen? Warum wart ihr da unten? Tharostyn hat sich geweigert, auch nur ein Wort zu sagen!«
Knapp und etwas stockend berichtete ich davon, was geschehen war. Nighton und der alte Engel lauschten mir, der eine schockiert, der andere fasziniert. Am Ende meiner Erzählung blinzelte ich und murmelte: »Ich habe von ihrem Blut getrunken. Von dem Primalblut.«
Für einen Moment herrschte Stille. Tharostyn klatschte aufgeregt in die Hände, aber Nightons Mimik veränderte sich schlagartig.
»Was?!«, rief er. Seine Stimme überschlug sich fast. »Primalblut? Tharostyn?!«
Ich nickte, auch wenn meine Sicht noch immer verschwommen war. »Es ist nötig... für das Auferstehungsritual. Um einen neuen Yindarin zu bekommen. Das war es, weswegen ich nach Oberstadt kommen sollte.«
Tharostyn verzog keine Miene, doch ich konnte ein leichtes Funkeln der Freude in seinen Augen sehen, als er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte. »Alles verläuft nach Plan«, behauptete er gelassen an Nighton gewandt. »Miss Ascot hat bestanden, wie ich es erwartet habe. Sie ist stark genug.«
Nighton sprang auf und brüllte außer sich: »Stark genug? Sie hätte sterben können! Ihr wisst doch, wie oft die Versuche der Engel schiefgegangen sind, auf diesem Wege zu Primals aufzusteigen, und Ihr setzt sie einfach diesem Risiko aus?! Und redet davon, dass alles nach Plan läuft?!«
Der alte Engel zuckte unbeeindruckt mit den Schultern.
»Das Risiko war kalkuliert. Und sie hat überlebt. Nur darum geht es. Und mehr noch. Sie besitzt jetzt urzeitliches Blut, Primalblut, Götterblut! Nun kann sie wieder ein Yindarin werden.«
Nighton warf die Hände in die Luft. »Und was ist mit Uriel? Dem fünften Erzengel? Wir brauchen ihn für das Ritual, und er ist unauffindbar! Habt Ihr daran gedacht? Was, wenn wir ihn nicht finden? Was dann? Ihr könnt ihr doch nicht solche Hoffnungen machen!«
Tharostyn versuchte sich zu verteidigen, doch was er sagte, hörte ich nicht. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um das, was Nighton ihm gerade vorgeworfen hatte.
Sie hätte sterben können!
Es hallte in meinem Kopf wider, wurde lauter und lauter, bis es alles andere übertönte. Ich hätte sterben können? Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in die Magengrube, nahm mir für einen Moment den Atem. Tharostyn hatte mich dieser Gefahr ausgesetzt, und er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, mir zu sagen, dass es eine echte Chance gab, dass ich es nicht überleben würde?
»Sterben?«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zu den anderen. Tharostyn und Nighton hielten in ihrem Streit inne und schauten mich an. Ich hob den Blick und sah dem alten Engel direkt ins Gesicht.
»Ihr habt mich das machen lassen, ohne mir zu sagen, dass ich hätte sterben können?«
Tharostyn schien überrascht über meine Reaktion, blieb aber ruhig. »Hätte es denn etwas an Ihrer Entscheidung geändert?«
»Verdammt, ja, es ging um mein Leben, das hätte alles geändert!«, schrie ich, und meine Stimme brach. Was, wenn ich draufgegangen und freitags nicht in Harenstone erschienen wäre?! Meine Familie wäre mir doch direkt in den Tod gefolgt! Warum hatte Tharostyn nichts gesagt? Warum hatte er es nicht für nötig gehalten, mich zu warnen? Wenn ich die Risiken gekannt hätte, hätte ich dann dasselbe getan? Hätte ich mich der Prüfung unterzogen, ohne auch nur einen Moment zu zögern? Ich wollte glauben, dass ich mutig genug gewesen wäre, dass ich die Wahl getroffen hätte, weil ich wusste, dass ich es tun musste, um die Chance auf einen neuen Anfang zu haben. Aber jetzt war ich mir nicht mehr sicher.
Der Zorn in mir wuchs. So schrie ich weiter, ohne drüber nachzudenken: »Ich kann es mir nicht leisten zu sterben, nicht jetzt!«
Nighton zog die Stirn kraus und hob eine Hand an, als bräuchte er eine Sekunde, um zu verstehen, was ich gerade gesagt hatte. Ich erschrak zugleich. Hatte ich mich gerade verraten?
»Was soll das denn jetzt heißen?«, bohrte er entsetzt nach.
Scheiße. Ich brauchte eine Notlüge. Sofort!
»Weil ich verdammt nochmal zu jung zum sterben bin, das meinte ich.« Ich zwang mich, meine Stimme entschlossen klingen zu lassen, obwohl sie wackelte. »Da gibt es noch so viel, was ich erleben will. Ich will doch auch nur...«
Meine Stimme brach erneut, aber ich versuchte weiterzureden.
»Das Leben sollte doch gerade erst anfangen! Ich bin heute neunzehn geworden.«
Ich sah, wie Nighton die Schultern senkte, und ein Hauch von Bedauern über sein Gesicht huschte. Es war ein kleines Zeichen, aber vielleicht hatte ich ihn zumindest ein wenig beruhigt.
Tharostyn räusperte sich und brummte, das Thema wechselnd: »Die Suche wird noch heute Abend anlaufen. Wir werden noch intensiver nach Uriel suchen als zuvor. Miss Ascot, entschuldigen Sie mein Versäumnis. Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen eine Falle zu stellen. Sie zwei sollten das Übrige in der Menschenwelt klären. Sobald wir Neuigkeiten zu Uriel haben, werde ich Sie in Kenntnis setzen.«
Nighton schickte Tharostyn einen gereizten Blick. Dann kam er zu mir und hielt mir seine Hand hin, die ich ergriff.
»Ja, lass uns hier verschwinden. Genug intrigante Engel für einen Tag!«, grollte er und zog mich mit sich.