Zurück in der alten Kirche in London, versuchte ich, die Aufregung des Nachmittags hinter mir zu lassen. So richtig verstanden hatte ich die ganze Bedeutung des Rituals noch nicht, aber ich fühlte mich viel zu erschlagen von meinen drängenden Problemen, um mich über den Ausgang freuen zu können.
Alle waren da, als wir ankamen, und im Gegensatz zu mir hatte sonst keiner meinen Geburtstag vergessen. Penny hatte es irgendwie geschafft, in der winzigen Küche des Querschiffs einen Kuchen zu backen. Er war ein bisschen schief und die Glasur war fleckig, aber es war der Gedanke, der zählte. Sie hatte zusammen mit Sam und Evelyn sogar ein paar Geschenke für mich besorgt – eine Kette, ein Buch, das schon länger auf meiner Wunschliste stand, und ein bunter Schal, der so gar nicht zu meiner Stimmung passte. Die Farbe der Wolle war grell und fröhlich, ganz im Gegensatz zu dem dunklen Schatten, der sich in mir festgesetzt hatte.
Anna überreichte mir stolz ein selbstgemaltes Bild. Es zeigte uns beide, Hand in Hand, vor einem riesigen Regenbogen. Ich zwang mich zu einem Lächeln, auch wenn mir das Herz schwer wurde. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, jede Linie und jede Farbe sorgfältig auf das Papier gebracht, aber ich konnte den Kloß in meinem Hals nicht ignorieren. Auch Thomas hatte es sich nicht nehmen lassen, mir ein paar neue Pins für meine Tasche zu schenken, und als Dad anrief, der immer noch in Edinburgh festsaß, und mir eröffnete, dass er mir eine Reise in die Staaten zu meiner ehemaligen Gastfamilie in Alabama spendieren wollte, mit der ich ab und zu noch in Kontakt stand, musste ich fast auflegen. Ich fühlte mich so erdrückt von Freitag, dass mir die Luft zum Atmen wegblieb.
Der Abend verstrich langsam. Sam und Thomas besorgten Pizza, und die anderen versuchten, die Stimmung mit ihren üblichen Witzen und Albernheiten aufzuhellen. Mein Kopf jedoch war unablässig voller Gedanken.
Ich konnte ein Yindarin werden, wenn ich Freitag überstand.
Ich wäre heute fast gestorben.
Ich hatte nun göttliches, urzeitliches Blut.
Und Freitag könnte mein Leben enden.
Auch Nighton war ungewöhnlich in sich gekehrt. Etwas nagte an ihm, doch ich hatte keine Kraft, ihn danach zu fragen. Er grübelte, genauso wie ich. Ich versuchte zwar, mich auf die Feier zu konzentrieren, auf die Geschenke, auf diejenigen um mich herum, die mir am wichtigsten waren. Aber der Freitag schwebte wie ein drohendes Gewitter am Horizont und ließ mich keinen Moment vergessen, was auf dem Spiel stand.
Tja. Es wurde Donnerstag. Und es wurde Freitag.
Ich schlief erst gegen sechs Uhr morgens ein, da meine Gedanken die ganze Nacht über gekreist hatten. Nighton weckte mich um kurz nach halb acht, und ich fühlte mich wie ein Zombie.
Jeder Atemzug war ein Kampf, und mein Herz hämmerte schon beim Zähneputzen so laut, dass es mir den Rhythmus meines eigenen Lebens vorzugeben schien. Die Angst vor heute Abend schnürte mir die Kehle zu. Es war eine unbeschreibliche, rohe Furcht, durch die ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Natürlich fiel das Nighton auf, aber er schien es auf die Dorzar-Sache zu schieben und fragte nicht weiter nach.
In der Schule war ich ein Wrack. Jeder Satz, den ich las, jedes Wort, das ich hörte, schien nur durch einen dichten Nebel der Verzweiflung zu mir durchzudringen. Meine Hände bebten ständig beim Schreiben, und meine Gedanken drifteten andauernd zu dem, was mich erwartete. Die Vorstellung, dem übergriffigen Dorzar wieder gegenüberzutreten, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Wie würde es sein? Wie würde das Ritual ablaufen? Würde es wehtun? Ich konnte dieses ständige Gedankenkreisen kaum noch ertragen. Es war, als ob ich in einem endlosen, dunklen Tunnel gefangen wäre, aus dem es kein Entkommen gab.
Sogar meine Lehrer bemerkten meine Nervosität. Mrs. Miller, die Kunstlehrerin, schickte mich kurzerhand zum Vertrauenslehrer, Mr. Walker. Dieses Gespräch schwänzte ich allerdings – und damit auch den Rest des Schultages. Es war ohnehin egal geworden.
Vor den Schultoren überlegte ich, ob es klug war, allein durch die Gegend zu laufen. Vor den Zwillingen wähnte ich mich sicher - aber die würde ich ja heute Abend treffen. Allerdings könnten mir jederzeit unbeseelte Dämonen oder eine Horde Menschen, die uns nachspionierte, auflauern. Wenn Letztere mich erwischten, hätten sie nicht nur wertvolle Informationen, sondern auch ein Druckmittel gegen Nighton. Das durfte nicht passieren.
Trotz alledem entschied ich mich, zu King’s Cross zu fahren und mir einen riesigen Big Mac zu gönnen. Dafür rief ich Sam an, damit er sich nicht wunderte, immerhin passte er heute auf mich auf. Er fand meine Idee, zu schwänzen, super und bot an, mir Gesellschaft zu leisten, doch ich lehnte ab. Ich brauchte meine Ruhe. So blieb er einfach im Hintergrund.
Der fettige Burger entpuppte sich als eine willkommene Ablenkung. Als ich damit im Schneidersitz auf einer Parkbank saß, war das einzige Licht, das mich aufhellte, die Kombination aus warmem Fleisch und zerlaufendem Käse. Fast ein bisschen Glück. Doch als die Stunden verstrichen und der Nachmittag heranbrach, wurde ich erneut von der drückenden Angst erfasst.
Da Nighton mich heute mit dem Auto einsammeln wollte, fuhr ich vor Ende der letzten Stunde mit dem Bus zurück zur Schule, wo ich mich etwas abseits des Geländes auf eine Mauer unter einem Baum setzte.
Es dauerte auch gar nicht lang, bis ich den weißen Mercedes erspähte, mit dem Nighton mich auch heute Morgen gebracht hatte. Es war übrigens gar nicht sein Auto, er hatte es vor ein paar Tagen vor unserer Flucht vor den Menschen einfach kurzgeschlossen und mitgenommen. Dass er sich traute, damit durch die Gegend zu fahren, wunderte mich schon ein wenig, aber ich hatte zurzeit andere Probleme. Ich sprang von der Mauer und lief auf den Wagen zu, in den ich einstieg. Sobald ich neben Nighton saß, schnüffelte der in der Luft herum.
»Rieche ich da Burger?« fragte er neugierig, als wir losfuhren. Ich schnupperte unauffällig an meinen Haaren, roch aber nichts.
»Ganz vielleicht war ich bei McDonald's«, antwortete ich flach und spürte Nighton lächeln. Er fuhr an.
»Hast du das nicht mal vor zwei Jahren oder so 'ranzige Fettfinger-Absteige' genannt?«
Ich war überrascht, dass er sich daran erinnerte. Das hatte ich zu Nel gesagt, als wir mal einen Mädelsabend gemacht hatten.
»Das weißt du noch?« entgegnete ich leise und musste schlucken.
Nighton grinste breiter. »Klar«, lachte er. »Mein Gedächtnis ist hervorragend.«
Meine Gedanken waren bei dem bevorstehenden Abend, und ich konnte mich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Den Rest der Fahrt verbrachten wir größtenteils schweigend. Die Zeit des späten Nachmittags verging wie im Fluge, und als der Abend nahte, wurde meine Nervosität unerträglich. Beim Abendessen, das Jason gekocht hatte, lag mir die Ratatouille, so gut sie auch war, wie Blei im Mund. Ich konnte keinen Bissen herunterbekommen. Beinahe wäre ich sogar rausgerannt, um alles zu erbrechen. Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, Herr über meinen Körper zu bleiben.
Bis halb zehn tat ich so, als würde ich Hausaufgaben machen, doch dann war es Zeit. Der Moment war gekommen.
Ich überlegte, ob ich mich unauffällig verabschieden sollte, aber das hätte dazu geführt, dass ich geheult und mich verraten hätte. Und das ging nicht. Ein unauffälliger Rückzug musste her.
Ich zog leise eine Jeans und einen Pullover an und überlegte mir, ob ich Nightons Lederjacke nehmen sollte. Sie hatte mir stets gute Dienste geleistet, also warum nicht? Wenn ich schon unterging, dann wenigstens mit Stil. Ich band meine Haare zusammen und schlich aus dem Zimmer. Penny und Evelyn waren mit Anna beschäftigt, und Thomas entspannte mit Jason und Sam auf dem Sofa, während Nighton, wie so oft in den letzten Tagen, am telefonieren war und hinter dem Altar stand, ganz in sein Gespräch versunken.
Ich huschte die Treppe hinauf, so leise wie möglich. Sam, der am Bildschirm klebte, räusperte sich und schaute mich an. »Du gehst weg?«
Adrenalin schoss in meinen Körper. Ich hielt an und wandte mich ihm zu, während Nighton weiterhin mit dem Rücken zu mir stand. Hoffentlich warnte Sekeera ihn nicht.
»Nein, ich suche nur mein Handy. Ich habe es im Auto liegenlassen, glaube ich«, schwindelte ich.
»Der Schlüssel für das Portal liegt vorne bei den Flyern«, meinte Jason, ohne Verdacht zu schöpfen, und lächelte mich an.
»Danke. Bin gleich wieder da«, versicherte ich mit belegter Stimme und warf Nighton einen letzten Blick zu, bevor ich die Beine in die Hand nahm. Auf dem Weg zum Ausgangsportal nahm ich nicht nur den Portalschlüssel, sondern auch den Autoschlüssel von Jasons SUV an mich. Sein Auto war mein Ticket zum Haus. Hoffentlich war der Tank voll genug, damit ich damit bis Harenstone kam.
Ich versuchte, das Portal möglichst leise zu öffnen, was mir gelang. Niemand folgte mir. Mein Herz legte einen wilden Galopp hin. Alles in mir schrie danach, umzukehren und mich Nighton anzuvertrauen. Doch das ging nicht. Es gab kein Zurück mehr.
Mit wenigen Schritten und ohne einen Blick nach hinten zu riskieren, ließ ich die Kirche und den Friedhof hinter mir und rannte nahezu die Straßen entlang. Jason hatte heute etwas weiter weg geparkt. Ich hatte sein Auto im Vorbeifahren in einer Seitenstraße parken gesehen. Ich sah das Auto schon in seiner Parklücke, da fing mein Handy an zu summen. Es war Nighton.
Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Meine Finger zitterten, als ich zögerte, dann nahm ich ab.
»Ja?« Ich bemühte mich, nicht außer Atem zu klingen.
»Jennifer?« Seine Stimme klang ruhig, doch unter der Oberfläche brodelte ein drohender Unterton, der mich zusammenzucken ließ.
»Was gibt’s?«, versuchte ich, so gelassen wie möglich zu sagen, doch meine Stimme wackelte verräterisch.
»So, dann hast du dein Handy ja gefunden. Mysteriös, dass es den ganzen Abend in der Küche lag und du vorhin noch damit Musik gehört hast. Lass mich raten, du bist schon so gut wie da von deinem kleinen Solo-Trip?« Es war, als ob seine freundliche Fassade mit jedem Wort gefährlicher bröckelte, bis er richtig wütend klang.
»Ja. Bin quasi vor der Kirche«, stammelte ich. »Ich beeile mich.«
Ein gefährliches Schweigen legte sich über die Leitung, wie das tiefe Einatmen vor einem Donnerhall. Dann, mit einem eisigen Zorn, der durch das Handy schnitt wie ein Messer: »Lüg mich nicht an, du bist nicht mal in der Nähe der Kirche.«
Panik schoss durch meinen Körper, lähmte meine Gedanken. Meine Augen füllten sich mit Tränen und die Worte blieben mir im Hals stecken. »Ich... ich...«
Sein Atem kam jetzt härter, schneller, und ich konnte mir vorstellen, wie verzerrt sein Gesicht vor Wut war. Im Hintergrund hörte ich eine schwere Tür zuschlagen. Das Portal. Er folgte mir.
»Was soll der Scheiß? Wieso bringst du dich unnötig in Gefahr, indem du genau das tust, was du nicht sollst? Willst du etwa geschnappt werden?! Bleib da, wo du bist, und wehe deine Signatur wandert auch nur einen Meter nach rechts! Ich komme dich jetzt holen, und ich schwöre dir, auf dich wartet-«
»Ich kann nicht«, flüsterte ich. Eine heiße Träne rollte über meine Wange, brennend heiß wie Feuer. Wieder Stille. Er stockte, bekam Panik, das spürte ich.
»Was soll das heißen, du kannst nicht? Was ist los?!« Nightons hervorgepresste Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern, aber sie bebte vor Zorn.
»Es tut mir leid«, krächzte ich erstickt. In einem letzten Akt des Widerstands, bevor seine Wut mich überwältigen konnte, legte ich auf. Meine Hand zitterte so sehr, dass ich das Handy fast fallen ließ. Für einen kurzen Moment war alles still. Dann brach der Damm, und die Tränen kamen wie eine Flutwelle, unaufhaltsam und verzweifelt. Ich schlug die Hände vors Gesicht, mein Körper bebte von stummen Schluchzern. Aber ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Nicht hier. Nicht jetzt. Ich musste weiter. Ich musste nach Harenstone.
Also riss ich mich zusammen und sprintete auf Jasons Auto zu, in dem Wissen, dass Nighton mir wahrscheinlich dicht auf den Fersen war. Mein Herz raste, meine Gedanken wirbelten, aber ich wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Ich hatte keine Wahl.
Doch es sollte ganz, ganz anders kommen.
Ein schrilles Quietschen ertönte. Ein weißer Lieferwagen mit verdunkelten Scheiben kam abrupt vor mir zum Stehen und schnitt mir den Weg zum Auto ab. Panik durchfuhr mich wie ein Blitz. Instinktiv sprang ich zur Seite, aber die Türen des Lieferwagens wurden bereits aufgestoßen. Jemand schrie laut »Zielperson gesichtet, Zugriff!«, und vier maskierte und bis an die Zähne bewaffnete Männer in schwarzen Uniformen sprangen heraus, ihre Bewegungen zielgerichtet.
Ein verzweifelter Gedanke schoss mir durch den Kopf: Lauf! Aber meine Beine waren wie festgefroren. Plötzlich packten mich lauter starke Hände. Ich versuchte, mich loszureißen, doch es war vergeblich. Einer der Männer riss meinen Kopf zurück, und ein feuchtes Tuch wurde brutal auf mein Gesicht gedrückt. Ein scharfer, chemischer Geruch brannte in meiner Nase. Ich wollte den Atem anhalten, spürte aber, wie mir schwindelig wurde. Meine Augen fingen an zu tränen, und meine Glieder fühlten sich plötzlich schwer an, als ob sie mich verrieten und lieber jeden Willen zum Widerstand aufgaben. Ein dumpfes Brummen setzte in meinem Kopf ein. Die Panik, die eben noch in mir getobt hatte, verwandelte sich in eine lähmende Taubheit.
Ich blinzelte benommen und sah ihn. Owen. Er stieg vorne aus dem Lieferwagen, eine Zigarette hing locker zwischen seinen Lippen. Unter dem tief ins Gesicht gezogenen Hut grinste er. Es war ein selbstzufriedenes, triumphales Lächeln, das mir die Kehle zuschnürte. Ich wollte schreien, wegrennen, irgendwas tun, aber mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Meine Beine gaben nach. Ich wäre zu Boden gesunken, wenn mich in diesem Moment nicht jemand hochgehoben hätte. Was auch immer ich gerade eingeatmet hatte, es warf mich gnadenlos in ein bodenloses Loch. Mein Kopf drehte sich, bis nichts mehr übrig blieb. Keine Gedanken, kein Schmerz. Keine Angst. Nur Leere.
Und dann... war alles weg.