Das Haus am Goldsteintalbach (Reinheit)
Sebastian, Tea und ich hatten uns in kurzen Worten darauf geeinigt, dass er den ersten Stock und wir das Erdgeschoss herzurichten hätten. Wir fegten und wischten die einzelnen Räume, was die letzten Mieter wohl vergessen hatten. Immer wieder schaute Tea zu den Fenstern. Draußen wehte der Wind und chaotisch tanzten die Schneeflocken umher. Ihre Sorge um Stephen war auf Kilometerentfernung wahrzunehmen. Um sie abzulenken, versuchte ich sie in ein Gespräch zu verwickeln. Allerdings hörte sie mich erst nach mehrmaligem Ruf ihres Namens.
"Was? Entschuldige, ich war gerade etwas abwesend." Schüttelte sie ihre Gedanken ab.
"Man merkt, du machst dir Sorgen um deinen Freund. Er hat großes Glück mit dir. Wie lange seid ihr eigentlich schon zusammen?"
"Wie? Nein, wir sind kein Paar." Erwiderte sie verlegen und etwas perplex. "Aber ich kann nicht leugnen, dass ich es gerne so hätte." Als sie merkte, dass sie sich verplappert hatte, flammte ihr Kopf förmlich vor Röte auf. "Sag ihm das bloß nicht!" stammelte sie flehend.
"Ihr scheint doch gut zueinander zu passen. Warum sagst du es ihm nicht einfach?"
"Findest du?" Fragte sie mit vager Freude. "Du weißt, wie er ist. Ihm ist seine kalte Logik fast schon heilig. Die Wärme einer Liebe könnte er vielleicht als bedrohlich empfinden. Oder ich könnte ihn mit meinen Gefühlen ablenken, nicht auszudenken was passieren könnte." Niemand weiß, welche Horrorszenarien sich in dem Kopf dieser Frau abspielten. Die meisten von Ihnen waren sicher übertrieben und der Rest reine Fiktion. Doch ihre Geistesabwesenheit war so real, wie beängstigend.
"Du steigerst dich nur in etwas rein." Beschwichtigte ich sie. "Ich denke, wenn eine Liebesbeziehung für ihn wohltuend ist, dann zu dir."
"Danke. Aber lass uns jetzt bitte das Thema wechseln. Das ist mir viel zu peinlich."
Während wir weiter unserer Arbeit nachgingen, versuchte ich ein wenig mehr über meine Gefährtin zu erfahren.
"Das habe ich dich ja noch gar nicht gefragt: Was studierst du eigentlich?"
"Ich? Tiermedizin in Gießen. Das wird ab dem Ende der Semesterferien wieder eine Pendelei." -stöhnte sie- "Aber ich will hier nicht weg." und ergänzte "Wenn ich in Gießen bin, kann ich bei meiner Großtante übernachten."
"Das ist wirklich von Vorteil. Studiert Stephen Kriminalwissenschaften oder sowas? Würde zu ihm passen."
"Nein Khaki-Studien in Frankfurt." Zuerst glaubte ich, Tea wollte sich einen Spaß mit mir erlauben. Denn wer hatte je von Khaki-Studien gehört? Sie merkte meine Ungläubigkeit und führte dazu aus, dass Stephen Biowissenschaften seit jeher als solche Studien bezeichnete. Für sie war der Begriff schon so normal wie Jura oder Tiermedizin. Stephen "Steve" Robert Irwin, vielen als Crocodile Hunter bekannt, war Stephens großes Idol. Tea versicherte mir, dass Stephen von Tieren ebenso eingenommen werde, wie von einem Fall. Allerdings auf eine verträumte und ausgelassene Art, die im Gegensatz zu seiner kühlen und förmlichen Art des Detektivs stand. Stephen liebte Tiere, auch die, welche sonst eher unbeliebt waren, sogenannte Menschenfresser oder die, die als Monster in Hollywood verklärt wurden. Eine Einstellung, die er mit Irwin und sicher vielen anderen Naturfreunden teilte. Er schätzte seinen australischen Namensvetter sehr und bezeichnete ihn als eine seiner drei großen Naturen (Idole). Das der detektivischen Natur Holmes nur das größte Vorbild sein konnte, war zu erwarten gewesen.
"Du sprachst von drei Naturen. Steve Irwin, Sherlock Holmes und?"
"Und seinen Bruder, dem Größten der drei." Ich weiß nicht was mich mehr verblüffte in diesem Moment. Dass Stephen einen Bruder und damit Familie hatte. Oder, dass er die Leistungen der beiden anderen noch überragen sollte. Ich bat Tea mir näheres zu erzählen, zu diesem besonderen Menschen. Der vermutlich als großer Bruder eine besonders prägende Vorbildfunktion eingenommen hatte.
"Nein, es ist sein jüngerer und einziger Bruder. Seit Geburt an schwer geistig behindert. Wenn man jemanden sucht, der Menschlichkeit, Nächstenliebe und Lebensfreude verkörpert, sollte man sich an seinen Bruder halten. Das hat er oft genug betont. Fängt Stephen ein Mal über ihn, dass Wunder, wie er ihn liebevoll nennt, zu sprechen an, ist er nicht mehr zu bremsen. Allerdings kannst du dir sicher auch denken, dass die Gesellschaft nicht so tolerant reagiert. Wenn man das überhaupt so nett formulieren darf." seufzte Tea mit Kummer in der Stimme. "Aber Stephen hat immer zu seinem Bruder gehalten. Es ist herzerwärmend, wie er immer hinter ihm steht. Glaub mir. Sie sind das beste Gespann der Welt."
Unsere Unterredung und auch unser Reinigungsauftrag endeten mit diesen Worten. Ich hatte in dieser kurzen Zeit mit Tea einen wirklich überraschend und interessanten Einblick in das Seelenleben meines Freundes erhalten, den ich nie für möglich gehalten hätte...
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Der Schweigsame war erneut durch seinen Wald gegangen...
Er hatte etwas gesucht, ob er es gefunden hatte?
Der Schweigsame war erneut durch seinen Wald gegangen...
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Stephen kehrte von seiner winterlichen Erkundung zurück. Seine Kleidung musste er erst vor der Haustür von ihrer Schneeflockenummantelung befreien. Der fast schon zu Eis erstarrte Pullover und seine Hose wechselte er mit frischer und warmer Kleidung aus seinem Reisegepäck. Er selbst schien noch so frisch und gewärmt, wie er uns verlassen hatte.
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Um 18:30 Uhr wurde das Abendessen aufgetischt. Ben hatte hinter seiner verschlossenen Zimmertür herausgerufen, dass er keinen Appetit habe. Ihm sei nicht wohl, er wünschte sich deshalb Ruhe. Scheinbar schien ihn die Geschichte um den Roten Pferdeschwanz in besonderem Maße zu belasten. Nach dem Abendessen zogen sich Tobias und Sebastian ebenfalls zurück. Tina unterhielt uns noch ein wenig, auch wenn Stephen völlig geistesabwesend die Fotos studierte. Sie zeigten die Laternen, Steine und das Graffiti. Ab und an starrte er in das Dunkel, welches die Fenster zeigten...
In der festen Annahme, dass der morgige Tag besser werden würde, verabschiedeten wir uns voneinander...