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Amelie machte nach der Arbeit im Büro noch gerne einen Spaziergang durch den Park um sich die Beine zu vertreten und einen freien Kopf zu bekommen. Seit dem Tod ihres Bruders ging sie mehrmals die Woche dorthin, der Ort beruhigte sie und sobald sie das Tor und die große Kastanie dahinter erblickte, fühlte sie, wie sie begann sich zu entspannen. Sie hasste die Schule, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder besuchte, ihren Schulweg, den sie so oft gemeinsam nebeneinander liefen, mal lachend, mal streitend, mal schweigend. Alles in ihrem Alltag brachten in sekündlichen Abständen schmerzhafte Erinnerungen an ihren kleinen Bruder hervor. Damals, nach dem Unglück, fand sie hier im Park Ruhe vor ihren sich permanent streitenden Eltern, sie trauerte unter den Bäumen um ihren Bruder und sie fand hier Monate später ihre Kraft und ihren Lebenswillen wieder. Heute, als erwachsene Frau, nutzte sie die Natur um abzuschalten oder aber auch um neue Inspirationen für ihre Artikel zu finden.
Nur wenige Menschen benutzten diesen Eingang zum Park und Amelie achtete seit jeher immer sorgsam darauf, dass sie das Tor stets hinter sich schloss, so als würde sie ihre Wohnungstür hinter sich schließen, damit kein unerwünschter Gast hineinkam. Die Wespe alias Nathan verfolgte sie auf ihrem Weg vom Café bis zum Parkeingang äußerst penetrant. Immer wieder blitzte das Gesicht des Mannes vor ihrem inneren Auge auf, das sie in der U-Bahn sah. Das dem jungen Austauschschüler Nathan so verblüffend ähnlich sah, zwar älter, erwachsener, mit dunklen Bartstoppeln, auch die Haare etwas dunkler und wenige Zentimeter länger, aber dennoch – Amelie kam nicht von dem Gedanken weg, entgegen aller Unwahrscheinlichkeit, dass sie Nathan begegnet war. Endlich öffnete sie das Tor mit ihrer freien Hand. Den Kaffeebecher hielt sie noch immer in der linken Hand, ihre Tasche hielt sie mit ihrem gebeugten Arm. Das Tor war schwer und quietschte jedes Mal, wenn es bewegt wurde. Beim Betreten des Schotterweges schloss sie abermals ihre Augen, der Schwindel kam nicht wieder. Doch das Gefühl, was sie hatte, konnte sie nicht zuordnen. Leichte Übelkeit und ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie Nathan das erste Mal hierherbrachte. Es war Herbst, so wie jetzt, doch es war deutlich kühler an jenem Tag. Beide trugen einen Schal, sie einen dicken senfgelben Wollschal und einen grauen Mantel. Er hatte sich ein paar Tage zuvor einen Schal gekauft, mit ihr zusammen. Sie beobachtete ihn in der Schule auf dem Schulhof, wie er in seinem für die Temperaturen viel zu dünnen Pullover fror. Zu dem Zeitpunkt waren sie bereits seit einigen Wochen Sitznachbarn in der Schule, allerdings sehr schweigsame. Sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt und wenn, dann hatte Nathan irgendeine Frage zum Unterricht, weil er noch nicht alles verstand. Aber er lernte schnell und begann sogar bald, Amelie in Mathe auf Fehler aufmerksam zu machen und erklärte ihr, wie sie an die richtige Lösung kam. Sie ließ es zu, aber beließ es bei dem einseitigen Kontakt. Nathan fand schnell Anschluss bei den Jungs aus ihrer Klasse und war recht beliebt. Klar, er war ein Exot, der Austauschschüler aus Miami, jeder in der Schule wusste, wer er war. Nathan unterhielt sich gerade mit Nabil und hielt seine Arme fest um seinen eigenen Körper geschlungen und stapfte von einem Fuß auf den anderen. Nabil schien es nicht zu bemerken und redete ohne Punkt und Komma, Nathan lachte von Zeit zu Zeit. Amelie mochte Nabil eigentlich, er hatte eine angenehme Art. Wenn sie und Nabils Blicke sich mal zufällig trafen, lächelte er sie leicht an, nicht anzüglich oder dergleichen, mehr auf eine verständnisvolle Art und Weise, als würde er ihr sagen wollen: „Ich verstehe dich. Ich verurteile dich nicht.“ Seltsamerweise empfand Amelie dabei etwas. Freude. Und Sympathie. Nachdem Amelie das Gespräch der Beiden noch eine Weile beobachtet hatte, stieß sie sich von der Mauer ab, an der sie mit verschränkten Armen gelehnt hatte und ging hinüber ihnen. Sie stand schon fast neben ihnen, als sie sie bemerkten. Amelie konnte für einen klitzekleinen Moment die Verwunderung in ihren Augen sehen und musste innerlich schmunzeln. Dann sagte Nabil: „Amelie.“, und lächelte. Offener als sonst, wenn er sie anlächelte. „Ich habe mich schon gefragt, wann dir das alles zu langweilig wird.“ Aber anstatt darauf zu antworten, wandte sich Amelie Nathan zu. „Es wird hier definitiv noch kälter. Du solltest dir dickere Klamotten zulegen. Oder rechtzeitig nach Miami zurückkehren.“ Amelie wusste bis heute nicht, wieso sie sich überhaupt darum scherte, ob Nathan fror oder nicht. Weshalb sie ihn ansprach, war ihr ein noch größeres Rätsel. Es tat irgendwie gut, so etwas völlig Normales zu sagen. Etwas Nettes. Und sie merkte mit Erstaunen, dass sie dabei lächelte. Nathan verstand allem Anschein nach jedes Wort, obwohl Amelie sich keine Mühe gegeben hatte, sonderlich langsam und deutlich zu sprechen, so wie es alle Anderen taten, wenn sie mit Nathan sprachen. Nathan sprach fehlerlos Deutsch, mit einem leichten Akzent. Es scheint nur keiner zu wissen. „Dann solltest du mir dabei helfen, du wirst wissen, was ich brauche. Heute nach der Schule?“ Seine Antwort überraschte sie. Eine Verabredung? Hat er sie gerade gefragt, mit ihm shoppen zu gehen? Amelie wollte das ganz und gar nicht mit ihrem Kommentar bezwecken. Eigentlich wollte sie nur nett sein. Ihm einen guten Rat geben, schließlich hat Nathan ihr bisher schon mehr als einmal in Mathe geholfen. Sie merkte ihre Verunsicherung und ohne es zu wollen, wanderte ihr Blick zu Nabil, der sie anlächelte. Diesmal war es jedoch kein Lächeln geprägt von Verständnis, sondern ein ermutigendes Lächeln und sie meinte ein leichtes Nicken zu erkennen. „Äh.. also…“, stammelte sie. Sag nein! Sag doch einfach nein! Der Gedanke, möglicherweise über sich und ihr Leben sprechen zu müssen, drehte ihr den Magen um. „Nabil wird dich sicher begleiten. Auch wenn er kein Deutscher ist, weiß er, was man hier im Winter tragen muss, um nicht zu erfrieren.“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nabil eine Grimasse zog. Amelie drehte sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren und steuerte den Schulkiosk an. In Gedanken klatschte sie sich mit der flachen Hand gegen ihre Stirn. Was ein dummer Spruch. Und was ein dämlich-bescheuerter Auftritt. Trotzdem beschlich sie ein eigenartiges Gefühl. Es war das erste Mal seit dem Tod ihres Bruders, dass sie sich für einen winzigen Augenblick wie eine ganz normale Schülerin an einem ganz normalen Tag fühlte. Im Klassenraum ignorierte sie sowohl Nabil als und Nathan, wich ihren Blicken aus und konzentrierte sich auf den Unterricht.
Sobald das Klingeln das Ende der Stunde verkündete, stand sie auf, nahm ihren Rucksack und verließ den Raum. Sie ging noch einmal zum Kiosk, um sich eine Flasche Wasser und einen Schokoriegel zu holen und überquerte anschließend den Schulhof zum Schultor. Sie bog rechts ab, für gewöhnlich ging sie den Schulweg immer zu Fuß, nur selten nahm sie das Fahrrad. Mit dem Bus ist sie noch nie gefahren, seit sie diese Schule besuchte. Plötzlich stand Nathan vor ihr. Schon wieder freundlich lächelnd. „Nabil hatte keine Zeit“, sagte er. „Wo müssen wir hin?“ Amelie überlegte kurz, ihn einfach zu ignorieren, aber dann sagte sie einfach nur: „Komm mit.“