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Dieser Tag im Herbst, an dem Amelie mit Nathan einkaufen ging und mit ihm anschließend hier im Park saß, kam ihr vor, als wäre er gestern gewesen. Tatsächlich lag er nun schon mehr als zwölf Jahre zurück. Doch sie konnte sich an so vieles noch so genau erinnern, dass sie kaum zu glauben vermag, wie viel Zeit nun schon vergangen ist. Nathan hatte sie über die Jahre hinweg in die hintersten Ecken ihres Gedächtnisses abgelegt. Selbst bei ihren Spaziergängen durch den Park hat sie die letzten Jahre nicht mehr an ihn gedacht.
Sie hatte sich an den Stamm der Kastanie angelehnt, die Beine angewinkelt und ihre Arme vor ihrer Brust verschränkt, während sie besagten Tag Revue passieren ließ. Sie lauschte dem stärker werdenden Wind und blickte gen Himmel, der sich bereits bedrohlich stark verdunkelte und ein Unwetter ankündigte. Der Regen war immer noch schwach, doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis es kräftig anfangen würde zu schütten. Amelie blickte hinaus in den Park und konnte in der Ferne noch einen Spaziergänger mit seinem Hund erblicken, der zügigen Schrittes zwischen den Bäumen verschwand, um noch vor dem Wolkenbruch zurück ins Trockene zu kommen. Trotz des anstehenden Unwetters hatte Amelie nicht das Bedürfnis nach Hause zu gehen. Immer wieder rief sie sich das Gesicht des Mannes aus der U-Bahn ins Gedächtnis zurück. Doch je öfter sie es tat, desto weniger konnte sie sich an die Details des Gesichts erinnern. Sie merkte, wie es in ihrer Erinnerung verblasste und so sehr sie sich auch bemühte, es ließ sich nicht mehr zurückholen. Stattdessen hatte sie urplötzlich ein anderes Bild vor Augen. Nathan, wie er neben ihr auf der Parkbank saß, die nur wenige hundert Meter von ihr entfernt am Wegrand stand. Beide schlürften an ihrem heißen Kakao, den sie sich unten an der U-Bahn-Station gekauft hatten. Amelie musste lächeln. Nathan hatte sich bereits beim ersten Schluck aus dem Becher die Zunge verbrannt und sie hatte sich den halben Kakao über ihre Jacke gegossen, weil der Deckel nicht richtig verschlossen war. Sie blickte auf den leeren Kaffeebecher in der Hand. Seit diesem Malheur kontrollierte sie vor jedem ersten Schluck und versicherte sich, ob der Deckel richtig verschlossen war. Verrückt, dachte sie, aus Fehlern lernt man in der Tat. Nathan kramte in seiner Tasche und wollte Amelie mit Taschentüchern aushelfen, um den Kakao von ihrem Shirt zu wischen, was selbstverständlich weiß war. Er fand keine, sie zuckte mit den Schulten, nahm seine Hand und ging mit ihm die Straße hinunter, die zum Park führte. Amelie wusste nicht, wann sie das letzte Mal jemandes Hand hielt. Aber sie befand es als ein schönes Gefühl und da Nathan scheinbar nichts dagegen hatte, beließ sie es dabei.
Im Park kramte Nathan in seiner Einkaufstüte und zog den grauen Kapuzenpullover mit der weißen Aufschrift heraus. „Hier, zieh an.“ „Nein, ist schon okay. Ich muss sowieso gleich heim“, erwiderte sie. Doch während sie es noch aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht nach Hause wollte. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, die ihr ihre Mutter vor Kurzem geschenkt hatte. Braunes Leder, ein beiges Ziffernblatt und goldene Zeiger. Sie fand sie schön. Als ihre Mutter bemerkte, dass sie die Uhr trug, konnte Amelie ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht huschen sehen. Es war schon spät, ihre Mutter würde gleich nach Hause kommen und Amelie müsste eigentlich schon längst das Abendessen vorbereiten. „Ich bringe dich nach Hause“, sagte Nathan. In dem Moment begann es wie aus Eimern zu schütten und sie rannten hinüber zu der Kastanie, um dort Schutz zu suchen. Sie standen eng nebeneinander, ihre Arme berührten sich, während sie beide hinaus in den Park sahen und schweigend den Regen beobachteten. Amelie fiel auf, dass sie den ganzen Nachmittag nicht viel miteinander gesprochen hatten. Bevor Max starb, hat sie viel geredet. Den ganzen Tag. Sie ist nie ein schüchternes, introvertiertes Mädchen gewesen, dem man die Wörter aus der Nase ziehen musste. Oft lag sie mit Max abends lange auf der Couch und sie erzählten sich von ihrem Tag, unterhielten sich über ihre Freunde und über Gott und die Welt, während ihr Vater nebenan in seinem Büro saß und arbeitete und ihre Mutter telefonierte oder die Küche aufräumte oder las. Ihr Leben war perfekt. Ihre Familie war perfekt. Sie waren glücklich. Sie hatten alles, was sie brauchten, ihnen ging es sehr gut. Amelie liebte ihren Bruder, sie konnte nie verstehen, wie sich ihre Freundinnen ständig über ihre kleinen Brüder aufregten und sich wünschten, sie wären nie geboren worden. Nicht ein einziges Mal hatte Amelie einen derartigen Gedanken gehabt. Warum wurde gerade ihr ihr Bruder genommen? Warum Max? Diese Frage stellte sie sich jeden Tag. Warum Max? Sie hasste Fragen, auf die sie keine Antwort bekam. Und sie hasste Fragen, auf die sie nicht antworten wollte. Sie hatte das Gefühl, dass Nathan genau dies zu wissen schien. Er stellte ihr keine einzige Frage, zumindest keine, die Amelie und ihr Leben betraf. Im Kaufhaus fragte er sie ständig, ob sie die Farbe mag, ob sie die Jacke schön findet, ob dies zu groß oder jenes zu klein war. Sie fand es amüsant, wie unsicher Nathan in Bezug auf Kleidung und Mode war. Viel mehr sprachen sie nicht. Und dennoch fühlte Amelie sich wohl in seiner Gesellschaft. Oder vielleicht gerade deswegen.
Langsam ließ der Regen nach. Es roch nach Herbst und nassem Laub, feuchter Erde. Der Boden war matschig geworden und Nathan und Amelie wichen den überall auf dem Schotterweg entstandenen Pfützen aus, während sie zügig auf das eiserne Tor zuliefen. „Du musst zur U-Bahn in die Richtung. Ich muss in die andere Richtung. Es ist nicht weit, das schaffe ich auch alleine“, sagte sie auf dem Bürgersteig zu Nathan. „Wir sehen uns morgen in der Schule.“ Während sie dies sagte, machte sie bereits zwei Schritte rückwärts, dann drehte sie sich um und ging, ohne, dass Nathan die Gelegenheit hatte, noch etwas zu sagen.
Amelie spürte, wie der Regen durch die Baumkrone hindurch auf sie hinuntertropfte, während sie an diese seltsame Szene nachdachte. Über ihr seltsames, abweisendes Verhalten den Menschen gegenüber seit Max' Tod. Obwohl sie sich in Nathans Gegenwart so wohl gefühlt hatte, brachte sie keinen vernünftigen Abschied zustande. Ihr wurde kalt. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und schaute auf die Uhr auf dem Display. Halb sieben. Eine neue Nachricht wurde angezeigt, es war ihre Arbeitskollegin Lena. „Keine Lust zu kochen. Lass uns beim Italiener was essen gehen. In einer halben Stunde?“ Lena und Amelie verstanden sich von Anfang an sehr gut, vor zwei Jahren lernten sie sich in der Redaktion kennen und wurden gute Freundinnen. Sie waren sich sehr ähnlich, charakterlich, Lena war knapp ein Jahr älter als Amelie. Äußerlich waren sie absolut unterschiedlich. Lena sah frech aus mit ihrer dunklen Kurzhaarfrisur. Und sie war frech. Aber Amelie mochte ihre vorlaute, leicht forsche Art, bei der sie beileibe nicht bei allen Leuten gut ankam. Amelie mochte jedoch ihre direkte Art und war ebenfalls der Typ Mensch, der gerne sagt, was sie denkt. Amelie überlegte nicht lange und antwortete mit einem Daumen-Hoch-Emoji. Sie war in der Tat sehr froh, dass sie nun nicht nach Hause gehen musste, sondern ein wenig Ablenkung bekam. So schön die Erinnerungen an Nathan waren, sie wollte einfach nicht mehr über das Gesicht aus der U-Bahn nachdenken und mittlerweile war sie überzeugt, dass ihr ihre Erinnerung nichts mehr als einen Streich gespielt hat. Sie lief durch den Regen zurück zur U-Bahn-Station und erwischte noch gerade die am Gleis stehende Bahn in die Stadt.