Am Abend hält das schlechte Wetter jedoch immer noch an. Ich verabschiede mich von der Wikiothek und wünsche ihr viel Glück, dass der Regen bald aufhört. Dann trete ich nach draußen.
In meinem Leben habe ich nun wirklich viele Wetterlagen mitbekommen, von der klirrenden Kälte auf Bergipfeln zu den Stürmen an der Meeresküste, von der niederdrückenden Hitze auf den schwarzen Straßen der Menschen bis zu den peitschenden Schneestürmen der Taiga und Tundra.
Aber so was … nein, das habe ich noch nie erlebt! Der Regen fällt in so dichten Schnüren, dass ich kaum eine Wolfslänge weit sehen kann, und das Wasser, das rasch über die gewundenen Kopfsteinpflasterstraßen schießt, reicht mir bis zum Bauch. Sogar auf den steilen Straßen, die ich nun bergauf einschlage, um zum verabredeten Treffpunkt zu gelangen. Der Regen fällt so schnell nach, dass das Wasser überhaupt nicht abfließen kann und ich mich fühle, als würde ich einen Wasserfall hinauf laufen.
Da das Wasser auch alle Gerüche überdeckt, muss ich mich auf mein Gedächtnis verlassen und taste mich dicht an den Hauswänden entlang durch den undurchdringlichen Regen. Mein Weg führt mich auch durch die Fluchgasse, doch von dem halb verhungerten Kätzchen ist hier nichts mehr zu sehen. Dafür stolpere ich über einen großen Krater im Straßenbild.
Irgendwas hat hier das Erdreich aufgerissen und die Kopfsteine überall verteilt. Ein ganz schwacher Brandgeruch ist trotz des Regens zu riechen.
Ich eile weiter.
Doch immer noch komme ich nicht weiter, denn unvermittelt höre ich ein wütendes Schnauben und erstarre im strömenden Regel: Die Nymphe!
„Vermaledeiter Wolf!“, höre ich sie knurren. „Das einzig Gute, was er getan hat, war, mich vor diesem Ziegenkopf zu retten! Ah, verdammt!“
Ein dunklerer Schatten erscheint zwischen den grauen Regenwurstschnüren, die hier überall vom Himmel fallen. Ich ducke mich und mache ein paar Schritte rückwärts, während die Nymphe sich nach ihrem Schuh bückt, der offenbar auf dem Kopfsteinpflaster kaputt gegangen ist. Fluchend zieht sie beide Schuhe aus und stapft weiter. „Jetzt sitze ich in Griechenland fest, und es ist auch noch solches Mistwetter!“
Ihre Schimpftirade verklingt im lauten Rauschen von Regen und Wasserbächen. Geduckt flitze ich über die Straße und tauche erneut in das Gewirr kleiner Gassen ein. Einmal wäre ich fast gegen eine Wand gerannt, die sich unvermittelt aus dem dichten Regen vor mir schält. Doch dann habe ich es endlich unbeschadet bis zu der Tür geschafft, hinter der Igor auf mich wartet. Ich kratze am Holz, bis geöffnet wird, sodass ich in den trockenen Innenraum huschen kann.
Ich schüttele mich und höre ein entsetztet: „Iiiiiiihh, naaaass!“
„Tschuldigung“, murmele ich und sehe betreten auf die Pfütze um meine Pfoten. Der schöne Teppich!
Igor schaut an seiner durchnässten Kleidung herunter und seufzt. „Du bist spääät. Nuuun guut. Wir müssen eeeh wieder in den Reeegen raus. Koooomm, die Kutsche ist bereit.“
„Ich musste den Weg erst einmal finden“, entschuldige ich mich.
Igor schnaubt und öffnet die Tür wieder. Mit einem leisen, traurigen Seufzen folge ich ihm wieder in den Regen hinaus.
Für einen Buckligen ist Igor erstaunlich schnell, und so habe ich Mühe, ihn im dichten Regen nicht zu verlieren. Zielstrebig und wortlos führt der Schwarzgekleidete mich zu einem Gebäude etwas außerhalb der Stadt, in dem es nach Pferd und Stroh riecht und wo durch große Lücken im Holzverschlag kalte Luft zischt.
Hier steht bereits eine Kutsche, zwei große Friesen – diese schwarzen Pferde, die immer aussehen, als würden demnächst neun gesichtslose Dementoren-Reiter aufsitzen und einem Schmuckstück und dessen Träger hinterherhetzen – sind vor einen irgendwie zu billig aussehenden Karren gespannt, auf dessen Ladefläche eine große, längliche Kiste steht.
Igor klopft auf den Deckel besagter Kiste. „Aaaaufpassen!“
„Natürlich doch!“, sage ich und schnuppere. Da ist doch noch jemand … Ich zucke zusammen, dass meine Krallen auf dem Pflaster kratzen, als ein komplett schwarz angezogener Mann aus dem Schatten tritt. Schwarzer Mantel, schwarzer Hut, ein schwarzes Tuch vor dem Teil des Gesichts, den man zwischen Hutkrempe und Mantelkragen hätte sehen können, schwarze Stiefel, schwarze Handschuhe …
„Der Kuuutscher“, stellt Igor vor.
„Meine Jungs kommen gleich nach“, sagt der Kutscher und steigt auf. Von oben mustert er mich. „Das ist der Wachhund?“
„Wachwolf.“
„Ganz wie du willst.“
Ich spitze die Ohren. Der Typ hat mich verstanden? Endlich mal ein Mensch, der mir zuhört! Ich beschließe, dass ich ihn mag.
Igor zählt mir noch einmal auf, worauf ich während unserer Reise zu achten habe. Dazu winkt der Bucklige mich in eine Nebenkammer, während der Kutscher eine grobe Plane über den länglichen Kasten zieht und die Pferde das Gefährt dann nach draußen ziehen lässt.
„Keiiiine Duuuurchqueruuung von Flüssen, keine Dämpfe wie von Knoooblauch, niiicht mit minderweeertigem Silber vermischen, niiicht öffneeen. Uuuund in Kiiirchen düürft ihr auch niiicht, die klauen aaaalle Wertgegenstääände.“
„Ich hab’s verstanden“, sage ich mit einem ganz leisen Knurren in der Stimme. So langsam geht mir Igor auf die Nerven. Immerhin geht es hier nur um ein bisschen Schmuck. Menschen sind echt seltsam, was ihr Verhältnis zu diesen Dingen angeht! Er führt sich auf wie eine alte Glucke!
„Guuut. Viel Gluuuck“, sagt Igor zum Abschied, dem meine Ungeduld wohl aufgefallen ist. Ob er weiß, wie nah er damit meinen Gedanken kam?
Ich trete nach draußen, wo eine Gruppe Männer, offenbar die ‚Jungs‘ des Kutschers, angetreten sind. Das sind: Ein großer, dicker Kahlkopf, ein drahtiger Kleiner mit viel Bart, eine alte Frau, auch mit Bart, wenn auch ein sehr dünner, ein hagerer, dürrer, hochgewachsener Typ, ohne Bart, und ein junges, blondes Mädchen mit großen, unschuldigen Augen.
Neugierig mustere ich die bunte und pitschnasse Truppe.
„Kann’s losgehen?“, brummt der schwarzverhüllte Kutscher gedehnt.
„Jaaa“, sagt Igor. „Und hooort auf den Woooolf.“
An der kreisenden Kopfbewegung des Kutschers kann ich sehr gut ablesen, dass er mit den nicht sichtbaren Augen rollt. Dann sieht er mich an. „Kann’s losgehen, Chef?“
Verschreckt starre ich ihn an. Er will doch nicht sagen, dass ich die alleinige Verantwortung für die Gruppe habe, oder? Ich dachte, ich komme einfach nur als Wache und … sozusagen … Berater mit.
Doch jetzt warten alle auf mein Okay. Ich nicke und versuche, meine Kehle anzufeuchten. „Kann los gehen.“
Na ja, das mit dem Anfeuchten hat nicht so funktioniert, und so klinge ich eher wie ein Rabe denn wie ein Grauwolf. Na toll!
Der Kutscher schnalzt und die beiden Friesen setzen sich in Bewegung. Die fünf komischen Käuze folgen zu Fuß und ich trotte hinterher.
„Paaaass auf die Kiiiiste auf, Wooolf!“, ruft Igor mir nach. Spinne ich, oder klingt er wie eine Mutter, die ihr Kind zum ersten Mal auf Klassenfahrt schickt?
Ich bleibe stehen. „Moment mal, wissen die sechs eigentlich, was von den ganzen Sachen, die du mir gesagt hast?!“
Igor schüttelt den Kopf. „Natuuurlich nicht! Iiist Geheimnis, was in Kiiiste ist.“
„Oh.“ Na toll, denke ich erneut. Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich bin kein Schmuggler, ich bin ein Grauwolf!
Ich beeile mich, zu dem Karren aufzuschließen, der im Regen bereits nicht mehr zu sehen ist – zum Glück kann ich das Quietschen der Räder noch orten.
Jetzt führe ich also eine komische Truppe zwielichtiger Gestalten nach Transsilvanien, die, ohne es zu wissen, eine Kiste mit höchst wertvollem Menschentand transportiert. Ich gehe im Kopf noch einmal panisch Igors Liste der „not-do-tos“ durch. Nicht durch Wasser, nicht öffnen, nachts alleine lassen … oh Mist, was war der Rest noch mal? Und wann ist mein Leben eigentlich so komisch geworden? Ich war doch mal ein ganz normaler Rudelwolf, der nichts mit Menschen zu tun hatte!
Der Regen prasselt unvermindert auf uns herab.
Immerhin, bemühe ich meinen Optimismus, habe ich sehr interessante Reisebegleiter. Ich beschleunige meine Schritte und trabe neben ihnen her.
„Und? Wie heißt ihr so?“
„Mortimer“, knurrt der Kutscher. „Und das sind Pumpkin“ – er deutet auf den dicken, schwabbeligen Kahlkopf, der wie ein Mönch gekleidet ist: In orangen Gewändern – „Siebenschläfer“ – der drahtige Kerl, dessen Gesicht zwischen Haarmähne und Bart überhaupt nicht zu erkennen ist – „Hildtraut“ – die alte Frau mit Monobraue und Oberlippenflaum – „Bohnenstange“ – der hagere Typ, der nur ein paar kurze, struppige Haare auf dem Kopf hat – „und Angela.“ Letztere ist natürlich das engelsgleiche Mädchen.
„Freut mich sehr! Ich bin Marvin.“