Mit einem Knirschen, das uns allen durch Mark und Bein geht, öffnet sich die Kirchentür, als Mortimer sich dagegen lehnt.
Sonnenlicht fällt herein und lässt den Staub leuchten, der aufwallt.
„Wir haben die Nacht überlebt“, stellt Hildtraut fest. Sie klingt überrascht.
„Die Pferde hoffentlich auch“, meint Mortimer und stapft los, um nach unseren Friesen und dem Karren zu sehen. Wir folgen ihm wie Gespenster, die sich zum allerersten Mal seit Jahren ins Licht wagen. Das Dorf steht noch. Als wir auf den Marktplatz treten, kommen außerdem die Bewohner aus ihren Hütten. Sie sprechen nervös durcheinander, ein paar werfen uns misstrauische Blicke zu.
Mortimer kommt mit den Friesen und dem Karren an. Zu sechs hieven meine Begleiter die Kiste wieder auf den Karren.
„Ich verhungere!“, stöhnt Angela dann. „Können wir hier was essen, bevor wir weiterfahren? Ich bin das ewige Trockenfleisch sooo leid!“
Mortimer sieht zu mir und erwartet offenbar irgendeine Form von Anweisung. Er hat immer noch nicht verstanden, dass ich absolut kein Anführer bin. Ich nicke trotzdem und Mortimer bejaht Angelas Frage.
Der Kutscher bindet die Pferde an einen Pfosten, der vor einer der Hütten steht und extra zum Anbinden von Pferden gedacht ist. Die Hütte ist die, in der der Vater mit seinen drei Söhnen wohnt, die uns gestern geholfen haben. Als wir klopfen, stellen wir fest, dass das Haus kein normales Wohnhaus ist. Im Untergeschoss befindet sich ein Wirtshaus. Der Mann ist tatsächlich ein Wirt. Obwohl er uns etwas misstrauisch beäugt, nimmt er die Bestellungen meiner Begleiter auf.
Wenig später sitzen wir in dem muffigen, dunklen und engen Gastraum. Es kommt nur wenig Licht durch die schmutzigen Fenster, aber künstliche Lichtquellen gibt es auch nicht. Mortimer und seine ‚Jungs‘ scheinen sich sehr wohl zu fühlen, denn sie scherzen laut und unbesorgt, bis schließlich das Essen aufgetragen wird.
Ich war zuerst etwas beleidigt, als mir der Wirt einen Knochen hingelegt hat – ich bin ja kein Hund! – aber als ich die Mischung scharfer und exotischer Gewürze rieche, die das Essen dominieren, bin ich mit meinem Knochen dann doch ganz zufrieden und kaue mit mehr Genuss.
„Lasst uns abzischen“, verlangt Mortimer, nachdem alle fertig sind. Ich kann ihn gut verstehen. Noch immer gucken die Dorfbewohner uns böse an. Man könnte meinen, dass wir an den unheimlichen Wesen schuld wären, die uns verfolgt haben!
Wir schwingen uns also wieder auf den Karren und Mortimer lenkt die Friesen aus der Stadt.
„Wenigstens konnte der Wirt uns die richtige Richtung nach Rumänien nennen“, sagt der Kutscher optimistisch. „Obwohl er ganz seltsam geguckt hat, als ich ihn fragte. So, als würde er an meinem Verstand zweifeln.“
„Wir sind ja auch ein Stückchen vom Weg ab“, brummt Pumpkin und wirft mir einen strengen Blick zu. Als ob ich daran schuld wäre, wenn wir uns verirren! Ich bin ein Wolf, ich kann keine Landkarten lesen!
Das übernimmt jetzt Mortimer mit sehr viel mehr Kompetenz. Die Reise geht schnell vorwärts und bald haben wir das Dorf und vor allem den Friedhof hinter uns gelassen und fahren wieder durch eine eintönige Landschaft. Immer wieder kommen wir allerdings an Kirchen oder Kapellen vorbei, die einfach so in der Wildnis stehen. Die Dinger sind wie Pilze, ehrlich! Wer benutzt die denn, die Steppenläufer? Mäuse? Ich glaube jedenfalls nicht, dass hier besonders viele Menschen vorbeikommen.
„Ah, da vorne.“ Mortimer reißt mich aus meinen Gedanken. Er lenkt die Pferde etwas nach links und zwingt sie dann zum Trab.
„Was is’n das?“, fragt Bohnenstange, der bis eben vor sich hin geschlafen hat.
„Da sind wir falsch abgebogen“, erklärt Mortimer.
Vor uns erhebt sich ein leuchtender Kreis. Ein Portal. Ach ja, ganz vergessen, zu erwähnen: Um unsere Reise zu beschleunigen, haben wir von Griechenland aus ein Portal genommen. Eine Reihe von Portalen, um genau zu sein. Das sollte uns eigentlich ein ganzes Stück weiter nach vorne bringen und nicht nach Mexiko. Tja, mit Portalen muss man eben vorsichtig sein.
„Und du glaubst, diesmal geht das gut?“, fragt Bohnenstange.
„Viel verirrter als jetzt können wir gar nicht sein. Jede Veränderung ist also positiv“, entscheidet Mortimer und treibt die Pferde dann direkt durch das Portal, ehe noch jemand von uns was sagen kann. Danach müssen wir einfach nur ein wenig weiter, um das richtige Portal nach Rumänien zu finden. Hach, wir Dummerchen!
Auf der anderen Seite ist es kalt. Na ja, kälter als die Wüste in Mexiko. Mortimer bremst die Pferde hastig aus, denn wir befinden uns auf einem schmalen Weg inmitten irgendwelcher Berge. Auf der einen Seite geht es steil runter und auf der anderen steil hoch.
In langsamerem Tempo führt Mortimer die Pferde bis hinunter auf eine grüne, aber recht karge Wiese.
„Seht ihr? Wir sind jedenfalls in der richtigen Witterungslage!“, verkündet der Kutscher stolz. „Und hier wird es genauso früh dunkel wie in Rumänien. Morgen suchen wir ein Dorf und fragen jemanden, wo genau wir sind.“
Mortimer dreht sich zu uns um, doch niemand sitzt mehr auf dem Karren. Sein ‚Morgen suchen wir …‘ war für uns das Signal, dass wir für heute anhalten werden. Als sich Mortimer also umdreht, zupfen Bohnenstange und Hildtraut gerade das Zelt zurecht, und Siebenschläfer macht bereits ein Feuer.
Mortimer seufzt leise und schüttelt den Kopf über uns. Er führt die Pferde etwas zur Seite, wo er sie von dem Karren ausspannt und grasen lässt. Dann stapft der ewig verhüllte Kutscher zu uns zurück und setzt sich an das Feuer, über dem Pumpkin gerade einen Tee kocht.
Später wälze ich mich schlaflos hin und her. Schließlich muss ich aufspringen und meine Begleiter in dem Zelt zurücklassen, aber meine feine Wolfsnase hält das einfach nicht mehr aus – sechs Menschen, die zum Mittagessen reichlich Knoblauch gegessen haben, also wirklich, igitt!